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Behinderung

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Teil I: Hinführung und theoretische Grundlagen

1 Begriffliche Annäherungen

1.2 Behinderung

Ebenso wie der Begriff Geflüchtete*r sind definitorische Annäherungen an den Behinderungsbegriff vielfältig und werden in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich diskutiert, haben daher auch unterschiedliche theoretische Grundlagen und Verwendungsfunktionen (Dederich 2009: 15).

Traditionelle Erklärungen und Definitionen beschreiben Behinderung medizinisch, als individuelle Einschränkung (Goodley 2014: 3–6). Diese Erklärung fand sich auch in einer Definition der WHO wieder, die Behinderung vor allem als individuelle Einschränkung und als Abweichung von der „Normalität“ verstand. Die Folge dieser individuellen Zuschreibung von Schädigungen sind klassische Vorstellungen von Fürsorge und Barmherzigkeit im Umgang mit Menschen mit Behinderungen

(Straimer 2010: 3). In den 1980er Jahren gab es erste Ansätze, dieses medizinische Modell von Behinderung zu hinterfragen. Die Kritik an der These, dass Behinderung eine individuelle Einschränkung ist, führte zur Entstehung des "Social Model of Disability". Laut dieser Denkrichtung stellt Behinderung nicht nur eine individuelle Einschränkung dar, sondern entsteht erst durch gesellschaftliche Barrieren und Einstellungen. Im Social Model of Disability wird klar zwischen einer Einschränkung (Impairment) und einer Behinderung (Disability) unterschieden (Shakespeare 2013:

215–216). Während die Einschränkung eine individuelle, persönliche Komponente darstellt, bezeichnet die Behinderung eine strukturelle Dimension, die mit Unterdrückung und Exklusion der Betroffenen einhergeht: "The point remains that people with impairments will often experience disablism" (Thomas 2007 zitiert in Goodley 2014: 7).5 Offensichtlich ist, dass mit diesem Behinderungsmodell nicht nur eine theoretische Auseinandersetzung einhergehen kann, sondern sich auch ganz praktische Veränderungen ergeben müssen. Traditionelle Vorstellungen von Fürsorge werden ersetzt durch Teilhabe, Selbstbestimmung tritt an die Stelle von Rehabilitationsmaßnahmen nach One-Size-Fits-All Modellen und der Abbau gesellschaftlicher Barrieren tritt an die Stelle individueller, defizitärer Zuschreibung.

Nichtsdestotrotz arbeitet Shakespeare Grenzen und Fehler des Social Models heraus.

Dazu führt er zunächst an, dass das Modell von einer Gruppe weißer, heterosexueller Akademiker mit vorwiegend physischen Einschränkungen entwickelt wurde und somit primär deren spezifische Erklärungen und Lebensrealität wiedergibt. Zudem führt die klare Abgrenzung von medizinischen Behinderungsmodellen dazu, dass den körperlichen Einschränkungen zu wenig Relevanz zugemessen wird. Mögliche negative Folgen von Einschränkungen (frühzeitiger Tod, Schmerzen, Unwohlsein) bei degenerativen Diagnosen können für die Betroffenen eine erheblich größere Rolle spielen als für Menschen mit nicht-degenerativen Einschränkungen. Nicht fortschreitende Diagnosen (bspw.

Beinamputation) lassen sich deshalb eventuell leichter als rein sozial konstruiert erklären. Damit einhergehend kritisiert der Autor auch die klare Trennung von Einschränkung und Behinderung, die das Modell vornimmt. In der Realität ist diese

5Shakespeare verdeutlicht die Akzeptanz des Social Models auch an einhergehender sprachlicher Sensibilität: Während früher der Begriff "people with disabilities" genutzt wurde, signalisiert der Begriff "disabled people" die soziale Konstruktion von Behinderung im Sinne von "an Teilhabe behindert werden" (Shakespeare 2013: 217). Inwieweit sich dies in den deutschsprachigen Kontext übersetzten und übertragen lässt, bleibt fraglich. Meiner Wahrnehmung nach ist hier die

Bezeichnung "Mensch mit Behinderung" geläufiger. Daher wird in dieser Arbeit weiterhin diese Bezeichnung genutzt. Eine kritische Auseinandersetzung mit (der eigenen) Sprache und dem eigenen Wording soll hier aber auch weiter angeregt werden.

klare Trennung verschwommen - Behinderung entsteht aus einer komplexen Interaktion von Körper und Umwelt, in der unter anderem der Abbau von Barrieren zentral sein muss. Eine vollständig barrierefreie Welt bezeichnet Shakespeare allerdings als Utopie, bedingt durch eingeschränkte Ressourcen und widersprüchliche Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen (Shakespeare 2013: 217–219). An verschiedenen Stellen führen Autor*innen daher einen Human Rights Based Approach ein. Zentral ist hier die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als Träger*innen von Rechten, die beispielsweise individuelle Bedürfnisse nach Assistenz als unteilbares Menschenrecht anerkennt (Quinn/Degener/Bruce 2002: 1; Straimer 2011: 539). Maßgeblich ist hier auch die Anerkennung der Diversität von Menschen mit Behinderungen, die häufig nur als homogene Gruppe unter dem Label „behindert“ subsumiert werden. (Linton 1998 zitiert in Dederich 2010: 174–175)

Den verschiedenen Modellen versucht die, von der WHO entwickelte Definition von Behinderung, die International Classification of Functioning, Disaibility and Health (ICF) gerecht zu werden. Die ICF vereint Ansätze von Behinderung als gesundheitliche Einschränkung und soziale Konstruktion in einem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung (WHO 2001: 19–20) und bringt verschiedene Ebenen miteinander in Verbindung, die in einem komplexen Zusammenspiel Behinderungen konstituieren können:

• Körperstrukturen und Funktionen

• Aktivitäten

• Partizipation und Teilhabe

• Umweltfaktoren (bspw. Barrierefreiheit)

• Personale Faktoren (bspw. Geschlecht, Alter)

Die Zuschreibung von Behinderung kann dadurch auch als dynamisch verstanden werden, denn die fehlende Teilhabe entsteht erst durch die Wechselwirkungen aus diesen verschiedenen Dimensionen. Somit lässt sich gleichzeitig ein Verständnis für die diversen Erscheinungsformen von Behinderung ableiten (Windisch 2014: 131–

133). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Behinderung kein rein biologisches Merkmal, sondern aus einer komplexen Wechselwirkung verschiedenster Faktoren entstehen kann. Dieser Diversität und Komplexität von Behinderungen tragen auch die Disability Studies Rechnung, die sich als Wissenschaftsdisziplin entsprechend interdisziplinär aufstellen (Degener 2004: 24) und von Köbsell (2012) als „wissenschaftlicher Arm der politischen Behindertenbewegung“ bezeichnet werden (43). In dieser Arbeit wird vor allem

versucht die Versorgungslage in Deutschland zu analysieren, Barrieren zu benennen und darzulegen, wo und wie Teilhabe verhindert wird. Somit wird hier auch ein soziales Modell von Behinderung zu Grunde gelegt, womit gleichzeitig versucht wird eine Brücke zu den Disability Studies zu schlagen. Dass Menschen mit Behinderung trotzdem nicht in die Forschung eingebunden wurden, kann auch an dieser Arbeit kritisiert werden (Degener 2004: 25). Die Gründe, warum dies nicht realisierbar war, werden im Forschungsdesign näher dargestellt.

2 Intersektionen von Flucht und Behinderung

Auch eine Flucht und die Ankunft in einem anderen nationalstaatlichen Kontext tangieren die in der ICF dargestellten Dimensionen. So kann eine fluchtbedingte Veränderung der Umweltfaktoren und der persönlichen Faktoren auch eine Veränderung von Aktivität, Partizipation und Teilhabe bedeuten. Das nächste Kapitel legt daher den Fokus auf die theoretischen, rechtlichen und statistischen Dimensionen der Verquickung von Behinderung und Flucht

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