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C. EU-Regionalpolitik und Politikverflechtungsfalle

1. Begriffsbestimmung und Literaturüberblick

Die Strukturen der Europäischen Union unterscheiden sich von allen bisher bekannten Formen des Staates oder von internationalen Regimen bzw. internationalen Organisationen. Aus diesem Grund hat die Politikwissenschaft Schwierigkeiten damit, das politische System der EU und die Funktionsweise der politischen Prozesse angemessen zu begreifen293. Konsens besteht nur darin, daß die Strukturen der EU nicht mit gängigen Kategorien der Staatsorganisationen beschrieben werden können. So steht einmal die Staatlichkeit der Union in Frage294. Aber auch die Konzepte aus der internationalen Politik wie der etatistischen Föderalismustheorie passen nicht zu den Strukturen der Europäischen Union angesichts des zunehmenden Gewichts der Regionen als einer «dritten Ebene»295. So haben sich neuerdings Bezeichnungen wie

«Europäische Politikverflechtung» (Grande (1994)), «Mehrebenensystem»

(Jachtenfuchs/Kohler-Koch (1994)) oder «multi-level governance» (Rhodes (1997): 157 – 159) eingebürgert.

Bei der Analyse der europäischen Integration erlaubt der Begriff Mehrebenensystem296 eine flexible Handhabung. Unter diesem Begriff kann man supranationale oder intergouvernementale Handlungsbereiche der EU subsumieren, ohne durch Einengung

293 Vgl. Benz (1998b), S. 558.

294 Vgl. Bogdandy (1993).

295 Vgl. Bullmann (1994).

296 Ein Mehrebenensystem stellt ein politisches System dar, in dem Akteure und Institutionen von unterschiedlichen territorialen und funktionalen Einheiten, deren Kompetenzbereiche sich nicht nur auf eine Ebene beziehen, allgemein verbindliche Entscheidungen zur gemeinsamen Problemlösung herbeiführen, deren Folgen mehr als einen souveränen Staat berühren. Das Mehrebenensystem umfaßt eine vertikale und horizontale Politikverflechtung zwischen verschiedenen staatlichen Einheiten und

von neo-funktionalen Prämissen oder Überbewertungen der mitgliedstaatlichen Ebene die Bedeutung von territorialen und funktionalen Einheiten auszublenden297.

Bislang ist der Begriff des Mehrebenensystems jedoch wenig präzise und weist bestenfalls eine Richtung für die Analyse auf. Klare Aussagen über die Funktionsweise und Eigendynamik dieser nicht-hierarchischen Strukturen sind kaum auszumachen.

In der Literatur finden sich viele Beiträge zum europäischen Mehrebenensystem. Sie erwecken den Eindruck, das politisch-administrative System der Union sei durch eine immer weiter um sich greifende Verflechtung zwischen Institutionen und Ebenen gekennzeichnet – gleich ob sie sich auf die funktionalistische Fusionstheorie oder die Theorie des Intergouvernementalismus stützen298. Von einer «doppelten Politikverflechtung»299, von der Dominanz von Verhandlungssystemen300, Politiknetzwerken und Fachbruderschaften301 und von einer Fusionierung von Verwaltungen302 wird gesprochen.

Scharpf (1985) zieht anhand der Politikverflechtungsfalle des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland Rückschlüsse auf die EU-Politik, die wie das nationale System von den institutionellen Gegebenheiten mitgeprägt wird. Er stellt die Hypothese auf, daß die institutionellen Strukturen der EU suboptimale Politikergebnisse begünstigen. In den Politikgestaltungsprozessen des europäischen Systems finden sich wesentliche Merkmale der deutschen Politikverflechtung wieder. So erfolgt die Aufgabenverteilung zwischen den beteiligten Einheiten in der EU nicht getrennt nach Sachgebieten (Politikfeldern), sondern nach Kompetenzarten (Legislative, Exekutive und Judikative). Die europäischen Organe sind im Rahmen der vergemeinschafteten Politikbereiche für die Rechtsetzung zuständig. Weil keine untergeordneten,

Ebenen sowie eine sektorale Vermittlung sozialer und ökonomischer Interessen über Organisationen, Verbände und andere gesellschaftliche Gruppierungen.

297 Vgl. Staeck, Nicola, Europäische Union, 1997, S. 38.

298 Bullman (1994) stützt sich dabei auf das zunehmende Gewicht der Regionen als «dritte Ebene» in der EU. Grande (1994) beschreibt diesen Tatbestand mit dem Begriff «Europäische Politikverflechtung», Hrbek (1986) mit «doppelte Politikverflechtung». Scharpf (1985) und Lequesne (1996) verweisen auf die Dominanz von Verhandlungssystemen. Jachtenfuchs/Kohler-Koch (1996)298 und Rhodes (1997)298 arbeiten die Politiknetzwerke und Fachbruderschaften heraus. Wessels (1986) vermutet eine Fusionierung von Verwaltungen.

299 Vgl. Hrbek (1986).

300 Vgl. Lequesne (1996), Scharpf (1985).

301 Vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch (1996), vgl. Rhodes (1997), S. 138 – 142.

europäischen Verwaltungsbehörden existieren, führen die Mitgliedstaaten die Rechtsetzungsakte aus. Somit erfolgt die Erfüllung von politischen Aufgaben im Verbund. Wie in der Bundesrepublik Deutschland ist auch in der EU die höhere Ebene von den unteren Ebenen des politischen Systems bei der Entscheidungsfindung abhängig303.

Streeck (1995) spricht von einem Three-Level-Game: Die Institutionen werden in dem quasi-staatlichen System304 mit neuen Ressourcen ausgestattet. Hierüber gewinnen die Akteure der komplexen institutionellen Struktur Handlungsspielräume in einem für internationale Organisationen bisher unbekannten Umfang.

Die wechselnden und nicht abgegrenzten Kompetenzsphären der Akteure sind auf verschiedene territoriale Ebenen verteilt. So bildet sich eine hochkomplexe und mehrdimensionale Interessen- und Konfliktstruktur305. Die politischen Entscheider müssen durch die Verflechtung nationaler und europäischer Politikprozesse in einem sogenannten two-level-game sowohl die nationalen Interessen, vertreten durch die Wähler und Interessengruppen, als auch die europäischen Interessen, die durch die anderen Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen eingebracht werden, berücksichtigen. Von Robert D. Putnam ist die Logik des two-level-game anhand von internationalen Verhandlungen entwickelt worden306. Das politische System der EU weist intergouvernementale und auch supranationale Interaktionen auf307. Durch die Einbeziehung von drei verschiedenen territorialen Ebenen und von verschiedenen funktionalen Akteuren (wie politischen, administrativen und gesellschaftlichen Gruppen) wandelt sich dieses two-level-game zu einem three-level-game mit einer komplexen horizontalen Differenzierung308.

Die Mitgliedschaft der föderalen Bundesrepublik im internationalen Integrationssystem der EU wird von Staeck (1997) auch als doppelte Politikverflechtung309 bezeichnet. Sie

303 Vgl. Scharpf (1985), S. 334.

304 Vgl. Streeck (1995), S. 123.

305 Vgl. Grande (1995), S. 462.

306 Vgl. Putnam (1988).

307 Supranationale Verhandlungen sind die vergemeinschafteten Rechtsbereiche. Intergouvernementale Beziehungen umfassen dagegen die Bereiche zwischenstaatlicher Zusammenarbeit.

308 Vgl. Staeck (1997), S. 40.

309 Vgl. Hrbek (1986), S. 17.

unterscheidet zwischen der innerstaatlichen Politikverflechtung310, gekennzeichnet durch die institutionellen Strukturen des bundesdeutschen Föderalismus, und dem Bezug zur europäischen Ebene. Der Außenvertretungsanspruch der Bundesregierung und der Kompetenzverlust der Länder an die Europäische Union stellen die Eckpunkte dieser Problematik dar. Obwohl die beiden genannten Ebenen in der Realität nicht zu trennen sind, muß diese Unterscheidung hier zur Verdeutlichung der Problematik vorgenommen werden311.

Auch Grande (1995) zeichnet im europäischen Integrationssystem die Ausbildung einer Politikverflechtungsfalle nach. Die europäische Politikgestaltung hat Lösungen begünstigt312, die bezogen auf gemeinschaftliche Zielvorgaben problem-unangemessene Entscheidungen hervorbrachten313. Die EU bewegt sich zwischen der Souveränität der Mitgliedstaaten und der Integration der Gemeinschaft, was daraus ersichtlich ist, daß trotz der Übertragung von Kompetenzen auf die EU gleichzeitig ein intensiver nationaler Einfluß auf die europäischen Entscheidungsprozesse ausgeübt wird. Somit führt das ausgeprägte nationale Eigeninteresse dazu, daß keine institutionellen Reformen innerhalb der europäischen Entscheidungsstrukturen beschlossen werden können, um eine mögliche Selbstblockierung zu überwinden.

Auch Scharpf vermutet, daß die Europäische Union noch stärker als der deutsche Bundesstaat durch Politikverflechtung geprägt ist und deshalb zwangsläufig in die Verflechtungsfalle geraten müsse314. Er folgert, daß die Europäische Union nur defizitäre Problemlösungen erzeugt und gleichzeitig die dafür ursächlichen institutionellen Bedingungen nicht ändern kann.

310 Vgl. Scharpf et al. (1976).

311 Vgl. Staeck (1997), S. 82.

312 Das haben Verhandlungsentscheidungen in der europäischen Forschungs- und Technologiepolitik gezeigt, vgl. Grande (1994).

313 Vgl. Grande (1995). So ist beispielsweise anhand der europäischen Forschungs- und Technologiepolitik nachgewiesen worden, daß das Ziel einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit der EU nicht erreicht worden ist, da zum einen die nationalen mit den europäischen Förderprogrammen ungenügend koordiniert waren, zum anderen das Entscheidungsverfahren der Forschungsrahmenprogramme zu lang war und letztlich die Rahmenprogramme selektiver und kohärenter hätten gestaltet werden müssen.

Man kann die Erkenntnisse im Rahmen der Politikverflechtung von föderativ entstandenen Analyseansätzen auf das europäische Mehrebenensystem übertragen. Benz (1998a) weist jedoch darauf hin, daß man Theorieaussagen aus einem intergouvernementalen System nur eingeschränkt bzw. nicht für das europäische Mehrebenensystem übernehmen kann. Er verweist insbesondere darauf, daß in der Empirie eine gute Handlungsfähigkeit der Europäischen Union festgestellt werden kann.

Ast (1998c) und Frenzel (1998) stellen Tendenzen einer Regionalisierung in raumbedeutsamen Politikfeldern der EU fest, welche Verflechtungs- aber auch Entflechtungstendenzen in der europäischen Politikverflechtung auslösen.