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Bedeutung von Grenzkontrollen

Im Dokument Das Schengener Informationssystem (Seite 37-40)

A. Einbettung in den Schengen-Kontext

VI. Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990

4. Bedeutung von Grenzkontrollen

Die Politik hat den Wegfall der Binnengrenzkontrollen – gestützt auf Innen- und Sicherheitsex-perten – grundsätzlich unter die Voraussetzung gestellt hat, dass Ausgleichsmaßnahmen verein-bart werden. Als Herzstück wird immer wieder das SIS genannt91 und sein tatsächliches Funktio-nieren galt und gilt vielen als unverzichtbare Bedingung für den Wegfall der Kontrollen. Unter der Überschrift des SDÜ, das die Ausgleichsmaßnahmen festlegt, soll an dieser Stelle zur Ab-rundung der Thematik diskutiert werden, welche Wirkung Grenzkontrollen haben und ob mit ihrem Wegfall tatsächlich ein spürbarer und deshalb auszugleichender Sicherheitsverlust ver-bunden ist.

Die einen, allen voran die Polizeipraktiker, bejahen die wichtige Sicherheitsfunktion der Gren-ze.92 Sie bilde als Ende des Territoriums des einen Staates und als Anfang des Gebietes des ande-ren Staates eine natürliche strategische Linie. Wie man an den Aufgriffszahlen ablesen könne, habe die Grenze eine tatsächliche Filterfunktion und zudem für Rechtsbrecher eine subjektive

88 Vgl. hierzu Anlage 3.

89 Abgedruckt bei Taschner, Anhang IV, vgl. hierzu auch das spätere Übereinkommen vom 18. Mai 1999 zwischen dem Rat der Europäischen Union und der Republik Island sowie dem Königreich Norwegen über deren Assoziie-rung bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstandes, ABl. EG L 176, 36.

90 Die Zusammenarbeit mit den fünf nordischen Staaten wird in Bezug auf das SIS auch häufig als „SIS I plus“

bezeichnet, Mokros, in: Lisken/Denninger, HandbPolR, 3. A. 2001, Teil O, Rn. 144; Schengen-Erfahrungsbericht 2000, S. 41.

91 Hellenthal, KR 1992, 247 (250); Schreiber, Wolfgang, KR 1991, 369 (370).

92 Wehner, Europäische Zusammenarbeit, S. 203 ff.; Ingenerf, KR 1989, 341 (342 ff., 361 f.); Krüger, KR 1994, 773 (775); Hellenthal, KR 1992, 247 (248 f.); Lenhard, Schriftenreihe der PFA 3-4/1989, S. 34 (34); Rupprecht, KR 1989, 263 (263, 264); Schattenberg, Schriftenreihe der PFA 3-4/1989, S. 20 (22); Schreiber, Manfred, KR 1985, 93 (95); Schäuble, Europa-Archiv 1990, 203 (206); Schreiber, Wolfgang, KR 1991, 369 (371); Rupprecht/Hellenthal, in: Rupprecht/Hellenthal, Innere Sicherheit, S. 23 (42 ff., 89 ff., 129 ff.); Blessmann, in: Pauly, Schengen en panne, S. 55 (65 f.).

Abschreckungswirkung. Damit könne verhindert werden, dass Verbrecherbanden ihre Flucht- und Ruheräume jenseits der Grenze aufsuchten. Eine in genauen Zahlen messbare Wirkung sei nicht zu benennen, da man zum Beispiel nicht wisse, wie viele Kriminelle sich wegen des Beste-hens der Grenzkontrollen vom Überschreiten der Grenze abhielten ließen. Zwar sei „der Schlag-baum kein besonders intelligentes Fahndungsinstrument“,93 jedoch seien die genannten abstrak-ten Überlegungen letztlich ausreichend, um die wichtige Funktion der Grenze zu belegen.9495 Die andere Seite misst den Grenzkontrollen wenig Bedeutung bei96 und legt bei ihrer Argumen-tation einen Fokus auf konkrete Zahlen. So hat Kühne97 die Statistiken der Grenzschutzdirektion Koblenz aus den Jahren 1980 bis 1989 ausgewertet. Er unterscheidet zunächst zwischen allge-meiner und grenzgemachter Kriminalität.98 Letztere meint solche Delikte, die nur begangen wer-den können, weil Grenzen bestehen, z.B. Verstöße gegen das Ausländer- und Passgesetz und praktisch alle aufgegriffenen Fälle von Urkundenstrafrecht, also Passfälschungen. Geschützt würden durch diese Vorschriften nicht unmittelbar Grundrechte der einheimischen Bürger, son-dern ordnungspolitische Konzepte des Staates. Wenn der Staat sich aber für eine Erweiterung der Binnengrenzen entschieden habe, habe er damit auch das frühere Ordnungskonzept korrigiert.

Wolle er sich nicht widersprüchlich verhalten, müsse er diese Art von Kriminalität bei den Zah-len unberücksichtigt lassen, weil sie ja im neuen Binnengrenzraum keine Rolle mehr spielten.

Dagegen beeinträchtige die allgemeine Kriminalität, unterteilt in Delikte wider das Leben, wider

93 So der damalige Bundesinnenminister Schäuble am 26. Juni 1989, vgl. Schreiber, Wolfgang, KR 1991, 369 (371) sowie Rupprecht/Hellenthal, in: Rupprecht/Hellenthal, Innere Sicherheit, S. 23 (43 f. und Fn. 11.)

94 Schreiber, Manfred, KR 1985, 93 (95); Rupprecht/Hellenthal, in: Rupprecht/Hellenthal, Innere Sicherheit, S. 23 (44).

95 Immer wieder wird auch die Frage gestellt, ob der befürchtete Sicherheitsverlust nicht durch Kontrollen „im Hin-terland“ aufgefangen werden sollte. Dieser Gedanke wird allerdings sofort wieder verworfen, insbesondere mit der Begründung, dass eine solche Verlagerung mit dem Sinn des Abbaus der Grenzkontrollen unvereinbar und daher politisch nicht durchsetzbar sei, vgl. Hellenthal, KR 1992, 247 (249); Rupprecht, KR 1989, 263 (264); Schreiber, Manfred, KR 1985, 93 (95). Gleichwohl finden sich in den vom Bundesministerium des Innern herausgegebenen Schengen-Erfahrungsberichten Hinweise, dass die Binnengrenzen für Personenkontrollen durch die Polizei noch immer eine wichtige Bedeutung haben, so ist z.B. von „Straftaten entlang der Binnengrenze zu Österreich“ bzw.

„entlang der Schengen-Binnengrenzen zu Luxemburg und Belgien“ sowie von „Feststellungen, die den Binnengren-zen zuzuordnen waren“ die Rede, vgl. Schengen-Erfahrungsbericht 2003, S. 1 und Schengen-Erfahrungsbericht 2004, S. 1, 3; ebenso versichert das Bundesinnenministerium mit Blick auf den Wegfall der Grenzkontrollen zwi-schen Deutschland und Polen bzw. Tschechien am 21. Dezember 2007, dass die Bundespolizei „weiterhin mit er-heblichen Kräften im Grenzraum bis zu einer Tiefe von 30 km präsent bleiben und die grenzpolizeiliche Überwa-chung sowie die Bekämpfung der illegalen Migration und grenzüberschreitenden Kriminalität in bewährter Art und Weise fortsetzen“ wird, vgl. Bundesministerium des Innern, Mehr Freiheit – mit Sicherheit.

96 Bieber, NJW 1994, 294 (295); Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, S. 1 ff.; ders., in: Pauly, Schengen en panne, S. 89 (93) ff., ders., in: Müller-Graff, Europäische Zusammenarbeit, S. 85 (89 ff.); Busch, KJ 1990, S. 1 (1 f.); Lange, Innere Sicherheit, S. 159; Birzele, in: Theobald, „Europäische Sicher-heitsunion?“, S. 89 (94 ff.); Kattau, Strafverfolgung, S. 160 ff.; Lavranos, DuD 1996, 400 (403), der die Sicherheits-funktion der Grenzkontrollen zumindest für zweifelhaft hält.

97 Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, S. 1 ff.

98 Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, S. 43 ff.

das Eigentum und Vermögen, Waffen und Sprengstoff sowie Betäubungsmittelsachen potentiell die innere Sicherheit.

Zudem unterscheidet der Autor zwischen Fahndungs- und Initiativaufgriffen.99 Fahndungsauf-griffe sind durch Vorinformation vorbereitet. Gemeint ist damit z.B., dass ein Verdächtiger ob-serviert wird und der Grenzübertritt lediglich eine von mehreren Gelegenheiten für einen Auf-griff bietet. Der InitiativaufAuf-griff hat dagegen seine Ursache in eigenständiger, unvorbereiteter Verdachtschöpfung durch den kontrollierenden Beamten an der Grenze. So betrachtet spricht vieles dafür, lediglich Initiativaufgriffe zu den durch die Grenzkontrollen originär verursachten Aufgriffen zu zählen.100

Nachdem der Autor die Aufgriffszahlen derart interpretiert hat, erhält er auf 100.000 registrierte Grenzübertritte an den Westgrenzen im Jahr 1988 knapp 2 Aufgriffe. Insgesamt wurden an den Westgrenzen im Jahr 1988 etwa 260 Aufgriffe im Bereich Betäubungsmittel und rund 700 Auf-griffe bei der Eigentums- und Vermögenskriminalität, meist ging es um gestohlene Autos, regi-striert.101 Der Autor schlussfolgert aus diesen Zahlen, dass die Bedeutung der Grenzkontrollen als relativ gering einzustufen ist.

Zwar erscheint der abstrakte Ansatz der Befürworter der Wirkung von Grenzkontrollen plausi-bel. Andererseits spricht vieles dafür, konkrete Zahlen zu betrachten und differenziert zu inter-pretieren. Das Ergebnis liefert einen wichtigen Anhaltspunkt für eine rationale Kosten-/Nutzenabwägung, die bei aller Symbolkraft, die von einer staatlich kontrollierten Grenze aus-geht, in der Argumentation eine wichtige Rolle spielen sein sollte.

Im Ergebnis wird man sagen können, dass eine verbesserte polizeiliche und justizielle Zusam-menarbeit, insbesondere durch den Betrieb eines gemeinsamen Fahndungssystems, unabhängig vom Wegfall der Grenzkontrollen sinnvoll ist.102 Denn es ist kein Grund ersichtlich, warum sich z.B. ein mit Haftbefehl in Deutschland gesuchter Straftäter darauf verlassen können sollte, dass er nach einem trotz Binnengrenzkontrolle unerkannten Grenzübertritt bei einer Routinekontrolle in Frankreich nicht als verfolgter Straftäter erkannt wird. Dass in den Abkommen gleichwohl immer ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Aufhebung der Kontrollen und dem Funk-tionieren des Fahndungssystems hergestellt wurde, hat vermutlich einen anderen Grund.

99 Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, S. 45 ff.

100 Innerhalb der Fahndungsaufgriffe differenziert Kühne noch einmal nach denjenigen, die lediglich zufällig gerade an der Grenze erfolgen und solchen, bei denen die Abfrage in einem Fahndungssystem bei Gelegenheit der Grenz-kontrolle zum Aufgriff führt. Letztere seien zwar durch Vorinformation vorbereitet, der Aufgriff hätte ohne die Grenzkontrolle aber nicht stattgefunden. Insofern zählt er sie zu den Initiativaufgriffen hinzu, vgl. Kühne, in: Pauly, Schengen en panne, S. 89 (98).

101 Kühne, in: Müller-Graff, Europäische Zusammenarbeit, S. 85 (90 f.).

102 Epiney, in: Achermann u.a., Schengen, S. 21 (26, Fn. 21).

heitspolitisch ist eine solche Sichtweise hilfreich: Der ausgeprägte Wille, die Grenzen zu öff-nen103 und der jedenfalls zunächst plausible Zusammenhang schafft den notwendigen politischen und zeitlichen Druck, um nationale Widerstände und technische Probleme bei der Entwicklung des Fahndungssystems zu überwinden.104

Im Dokument Das Schengener Informationssystem (Seite 37-40)