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Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Bereich Pflegeelternschaft/Pflegekinderwesen

Teil 2: Der Schutz der Pflegefamilien nach Grundgesetz (GG) und Europäischer Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)

B. Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Bereich Pflegeelternschaft/Pflegekinderwesen

Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950, ratifiziert durch Gesetz vom 07.08.1952,276 in Kraft getreten am 03.09.1953,277 hat den Rang eines einfachen Bundesgesetzes,278 das die deutschen Gerichte unmittelbar bindet. Das BVerfG zieht die Konvention nicht als Maßstab heran und hat mehrfach betont, daß eine Verfassungsbeschwerde nicht auf die Behauptung einer Verletzung der EMRK gestützt werden kann.279 Wohl aber sind völkerrechtliche Verträge mit Gesetzesrang in die Interpretation einzubeziehen, so daß sie deshalb für den Schutzbereich eines Grundrechts des GG Bedeutung erlangen. Aus diesem Grund zitiert das BVerfG bisweilen die EMRK-Artikel neben den deutschen Grundrechten.280

Auf dem Gebiet des Zivilrechts garantiert die EMRK kein Recht auf ein Rechtsmittel bzw.

einen Instanzenzug.281 Art. 13 EMRK, der - wie die Konvention insgesamt - nur Mindest-anforderungen aufstellt, räumt lediglich ein Beschwerderecht bei einer nationalen Instanz ein.

Von den in der Konvention aufgeführten Menschenrechten und Freiheiten besitzt Art. 8 die größte Bedeutung für das deutsche Familienrecht. Er lautet:

"I. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ...

II. Eine Behörde darf in Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist ..., zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."

Auch die Pflegefamilie genießt den Schutz des Art. 8 EMRK; dies gilt unabhängig davon, ob man die Beziehungen zwischen Pflegekind und Pflegeeltern als von dem Begriff des

"Familienlebens" erfaßt ansieht. Denn in jedem Fall fällt die Pflegefamilie bei längerer Betreuung des Kindes durch die Pflegeeltern unter den Begriff "Privatleben".282

Art. 8 EMRK begründet Abwehrrechte des einzelnen gegen willkürliche Eingriffe

276BGBl. 1952, II, S. 685, ber. S. 953 277BGBl. 1954, II, S. 14

278Maunz-Dürig-Dürig, Art. 1 Abs. II, Rn 59 m.w.N.

279BVerfGE 10, 271, 274; 64, 135, 157 280BVerfGE 74, 358, 370;

281Fahrenhorst, FamRZ 1996, 463

282Fahrenhorst, FamRZ 1996, 460, Fn 93 m. Verweisung auf EMRK, E 8257/78, 10.07.1978; X. gegen Schweiz, DR 13, 248, 250

staatlicher Behörden in sein Familienleben wie umgekehrt positive Verpflichtungen des Staates zum Schutz der Familie.283 Sowohl mit der Verhängung einer Verbleibens-anordnung als auch mit ihrer Aufrechterhaltung wird in das Familienleben der leiblichen Eltern eingegriffen. Falls ein solcher Eingriff nicht "in Übereinstimmung mit dem Gesetz"

erfolgt und "notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" ist, um eines der in Art. 8 II EMRK aufgezählten Ziele zu verfolgen, verletzt dieser Eingriff Art. 8 EMRK.284 Eingriffe sind legitim, wenn sie zum Zweck des Kindeswohls erfolgen285 und Umgangsrechte als Korrelat zur Verbleibensanordnung einräumen.

Aus der Formulierung "notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" leitete die EKMR im Umkehrschluß eine Verletzung des Art. 8 EMRK bei Unverhältnismäßigkeit ab.286 Wenn Verbleibensanordnungen über Jahre hinweg bestehen ohne nennenswerten Umgang von Eltern und Kind, haben die biologischen Eltern einen Anspruch gegenüber den nationalen Stellen, Anstrengungen mit dem Ziel einer Rückkehr des Kindes zu unterneh-men, der mit einer entsprechenden Verpflichtung dieser Organe korrespondiert.287 Die Interessen der Gemeinschaft als Ganzes müssen in angemessener Art und Weise gegeneinander abgewogen werden, wobei der Konventionsstaat einen gewissen Ermes-sensspielraum besitzt.288

Die Unterbringung der Kinder bei mehrere hundert Kilometer von den Eltern entfernt wohnenden Pflegeeltern verletzt jedenfalls dann die EMRK, wenn eine Adoption nicht beabsichtigt ist.289

Art. 8 EMRK hat auch Einfluß auf das Verfahrensrecht. Die effektive Achtung des Familienlebens und die Irreversibilität einer mit einer Untersagung des Umgangs verbun-denen Sorgerechtsentzugs verlangen auch nach der Straßburger Rechtssprechung, daß die Behörden und Gerichte zügig entscheiden und das Verfahren beschleunigen. Die EMRK verbietet, die Entscheidung über den endgültigen Verbleib des Kindes jahrelang in der Schwebe zu halten. Der bloße Zeitablauf soll kein entscheidender Faktor sein; alle Beteiligten müssen darauf hinwirken, daß ein Kind so schnell wie möglich zu seinen Eltern zurückkehrt.290

283Palandt-Diederichsen, Einl. vor § 1297, 7

284Fahrenhorst, FamRZ 1996, 461, Fn 113; Fall Olsson gegen Schweden Nr. 2, EGMR-Urteil v.

27.11.1992, Serie A, Bd 250, § 77 285Palandt-Diederichsen, vor § 1297, 7

286Fahrenhorst, FamRZ 1996, 457, Fn 37, und 454, Fn 6; dazu aus dem Bericht der EKMR im Fall Adele Johansen gegen Norwegen v. 17.01.1995, Beschw. Nr. 17383/90, angenommen am 13.10.1993 287Fahrenhorst, FamRZ 1996, 461, Fn 119, 120; EGMR (Fall Olsson)

288Fahrenhorst, FamRZ 1996, 461, Fn 123, 124; EGMR (Fall Olsson) 289Fahrenhorst, FamRZ 1996, 459, Fn 69; EGMR (Fall Olsson)

290Beschleunigungsgebot; Fahrenhorst, FamRZ 1996, 457, Fn 32, 36 und 461, Fn 167, Fall Hokkanen

Wird Gewalt (§ 33 II 1 und 2 FGG), insbesondere gegen über zehn Jahre alten Kinder, abgelehnt, so liegt eine Verletzung der EMRK nicht vor,291 wenn die staatlichen Stellen ansonsten die in Anbetracht der Fallumstände möglichen Anstrengungen unternommen haben, um Eltern und Kind zusammenzuführen.

Weil das fehlende Recht der Großeltern und anderer nahestehender Personen zum persönlichen Umgang konventionswidrig war,292 hat der deutsche Gesetzgeber § 1685 BGB n.F. geschaffen. Wie noch darzulegen sein wird, besitzt § 1685 BGB n.F. eine nennenswerte Bedeutung auch im Bereich des Pflegekinderwesens.

Bei einem Vergleich der Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschen-rechte und des Europäischen Gerichtshofs für MenschenMenschen-rechte mit der Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich vorwiegend unterschiedliche Schwerpunkte und weniger inhaltliche Unterschiede feststellen. Auch die sog. "Straßburger Organe"293 betonen die herausragende Bedeutung des Kindeswohls bei der Abwägung der widerstrei-tenden Interessen, die gewöhnlich zwischen natürlichen Eltern und Pflegeeltern bestehen, sowie die eingeschränkte Zulässigkeit von Gewaltanwendung gegen das Kind bei der zwangsweisen Durchsetzung von Sorgerechtsentscheidungen.

Meines Erachtens fällt lediglich ein nennenswerter Unterschied ins Gewicht: Die Dauer-pflegefamilie genießt erst nach einer längeren, bereits zurückgelegten Dauer des Pflege-verhältnisses den Schutz des Art. 8 EMRK. Im Rahmen des Art. 6 I GG genügt es hingegen, daß das Kind ausschließlich bei den Pflegeeltern lebt und die natürlichen Eltern dauerhaft an der Sorge für das Kind entweder verhindert oder uninteressiert sind.294 Die unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkte beruhen m.E. auf der Andersartigkeit der den

"Straßburger Organen" zur Entscheidung vorgelegten Sachverhalte.

gegen Finnland, EGMR-Urteil v. 23.09.1994, Serie A, Bd 299 - A 291Fahrenhorst, FamRZ 1996, 465, Fn 203 u. 454 Fn 2; Fall Hokkanen 292Palandt-Diederichsen, vor § 1297, 7

293Staudinger-Salgo, § 1632, 53 294Schmid, S. 235