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Erster Teil: Das Rechtsschutzsystem im kolumbianischen, strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

C. Grundrechtseingriffe mit nachträglicher Überprüfung

II. Überprüfung der Achtung der Grundrechte

3. Ausnahmen des Anordnungserfodernisses

Auf der einen Seite sieht Art. 229 CPP vor, dass „die Kriminalpolizei bei Ertappen auf frischer Tat die Durchsuchung der Immobilie, des Schiffs oder des Flugzeugs vornehmen darf.“ Im Fall einer Flucht in ein nicht öffentliches, fremdes Gebäude „ist zunächst die Einwilligung des Eigentümers oder Besitzers einzuholen, oder im Falle des Fehlens einer solchen Einwilligung die entsprechende Anordnung durch die FGN, es sei denn, Hilferufe lassen auf die Notwendigkeit eines sofortigen Einschreitens schließen oder der Verdächtige übt Zwang auf den Eigentümer oder Besitzer aus.“438

Die Kontrolle der Maßnahmen durch den JCG hat sich in Fällen, in denen das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls geltend gemacht wurde, als sehr problematisch erwiesen, da der JCG hier anders als bei einer staatsanwaltschaftlichen Anordnung nicht über die von der Staatsanwaltschaft eingeholten Informationen und Dokumentationen hinsichtlich der

pflichtungen des im Rahmen von Wohnungsdurchsuchungen eingeschalteten Ermittlungsrichters siehe Krehl, NStZ 2003, S. 461 ff.

437 Art. 220 CPP: „Fundamento para la orden de registro y allanamiento. Sólo podrá expedirse una orden de registro y allanamiento cuando existan motivos razonablemente fundados, de acuerdo con los medios cogno-scitivos previstos en este código, para concluir que la ocurrencia del delito investigado tiene como probable autor o partícipe al propietario, al simple tenedor del bien por registrar, al que transitoriamente se encontrare en él; o que en su interior se hallan los instrumentos con los que se ha cometido la infracción, o los objetos producto del ilícito.“ (dt. Übersetzung d. Verf.).

438 Art. 229 CPP: „Procedimiento en caso de flagrancia. En las situaciones de flagrancia, la policía judicial podrá proceder al registro y allanamiento del inmueble, nave o aeronave del indiciado. En caso de refugiarse en un bien inmueble ajeno, no abierto al público, se solicitará el consentimiento del propietario o tenedor o en su defecto se obtendrá la orden correspondiente de la Fiscalía General de la Nación, salvo que por voces de auxilio resulte necesaria la intervención inmediata o se establezca coacción del indiciado en contra del pro-pietario o tenedor.“ (dt. Übersetzung d. Verf.)

§ 5. Nachträglicher Rechtsschutz der Intimität

145 Ziele der Durchsuchung verfügt.439 Auf der anderen Seite sieht auch Art. 230 CPP drei Fälle vor, in denen es einer Anordnung der Durchsuchung durch den Staatsanwalt nicht bedarf:

a. Das Einverständnis des Rechtsinhabers des beeinträchtigten Guts oder desjenigen, der ein durch die Durchführung der Maßnahme beein-trächtigtes Interesse hat (Art. 230 Nr. 1 CPP)

Art. 230 Nr. 1 CPP sieht vor, dass es der Einholung einer schriftlichen Anordnung durch die FGN zur Durchführung einer Hausdurchsuchung nicht bedarf, wenn „ein ausdrückliches Einverständnis des Eigentümers oder Besitzers des zu durchsuchenden Objekts vorliegt oder das Einverständnis desjenigen, der durch die Durchführung der Maßnahme in seinen Interessen beeinträchtig wird. Hierbei reicht nicht aus, dass lediglich ein Widerspruch des Rechtsinhabers fehlt, es muss vielmehr eine dessen freien Willen ausdrückende Genehmigung der Durchsuchung vorliegen.“440 Dementsprechend ist es notwendig zu verifizieren, ob es sich um eine freie Willensäußerung handelt. Das verfassungsrechtliche Problem, das bei der Auslegung der Norm auftaucht, ist, dass Grundrechte aufgrund ihres subjektiven Charakters unverzichtbar sind. Die Frage ist somit, ob das Einverständnis des Betroffenen es rechtfertigt, von den gesetzlich vorgesehenen Formalien abzusehen. Entgegen der Regelung des Art. 230 Nr. 1 CPP ist die h.M. der Auffassung, dass dies nicht gerechtfertigt sei, und begründet dies damit, dass es dem Einverständnis an rechtfertigender Wirkung fehle.441 Es könne nicht gehen, von dem Betroffenen eine Erlaubnis einzufordern, um einer richterlichen Entscheidung und Anordnung auszuweichen, sondern grunsätzlich sei zunächst eine Genehmigung einzuholen, bevor ein Individuum aufgesucht und gestört würde.442

b. Die vernünftige Erwartung eines Eingriffs in die Intimitätsphäre (Art. 230 Nr. 2 CPP)

Nach Art. 230 Nr. 2 CPP bedarf es einer Anordnung der FGN auch dann nicht, wenn

„keine begründete Erwartung eines Eingriffs in die Intimsphäre besteht, die das Erfordernis

439 Dazu KVerfG, Entsch. 806 v. 2009, Abschn. „Consideraciones de la Corte“.

440 Art. 230 Nr. 1 CPP: „Medie consentimiento expreso del propietario o simple tenedor del bien objeto del registro, o de quien tenga interés por ser afectado durante el procedimiento. En esta eventualidad, no se considerará como suficiente la mera ausencia de objeciones por parte del interesado, sino que deberá acre-ditarse la libertad del afectado al manifestar la autorización para el registro.“ (dt. Übersetzung d. Verf.).

441 Guerrero Peralta, 2007, S. 347 f.; Guerrero Peralta, 2006, S. 98; Maier, 2004, S. 687.

442 Vgl. Maier, 2004, S. 686.

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einer Anordnung begründet. Hierbei existiert eine solche Erwartung dann nicht, wenn sich das Objekt im offenen Feld oder in freier Sicht befindet oder es verlassen ist.“443 Dieser Ausnahmetatbestand inkorporiert die „open-field-Doktrin“ in das kolumbianische Strafprozessrecht, mit der das U.S.-amerikanische Supreme Court den durch den vierten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung gewährten Schutzbereich beschränkt hat.444 Die Übernahme der „open-field-Doktrin“ ist auf große Kritik gestoßen, da sie nicht mit den Vorgaben der kolumbianischen Verfassung vereinbar ist, aus denen sich keine Grundlage dafür ergibt, dass der Schutz des persönlichen Bereichs, des Eigentums und der Wohnung von den vernünftigen Erwartungen anderer abhängt.445 Die kolumbianische Verfassung und auch die Rechtsprechung des KVerfG betonen vielmehr, dass es einen unantastbaren Kern der Grundrechte gebe, in den die Strafverfolgung nicht eingreifen dürfe.446

Die Spannung zwischen der vernünftigen Erwartung hinsichtlich der Intimsphäre und der Idee von einem unantastbaren Kerngehalt der Grundrechte hat wichtige Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeitskontrolle durch den JCG. Zum einen macht sie eine restriktive Auslegung der Reichweite des Art. 230 Nr. 2 CPP erforderlich, da die bloße Lage (im offenen Feld) des betroffenen Objekts und die Abwesenheit des Eigentümers oder Besitzers es nicht entbehrlich machen, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff zu erfüllen.447 Denn die Verfassung sieht ebenfalls nicht vor, dass hinsichtlich des persönlichen Bereichs, des Eigentums und der Wohnung lediglich Schutzerwartungen anstelle von verfassungsmäßig garantierten Schutzrechten bestehen.

Dies wäre so, als würde man annehmen, der Schutz der Wohnung sei einzig gegeben, wenn es sich um einen abgeschlossenen Ort handeln würde. Zum anderen muss der JCG prüfen, ob die betroffene Person selbst nicht davon ausgehen konnte, dass der Schutzbereich der Intimsphäre betroffen ist, weil sie freiwillig die Sicht von außen auf das erlaubt hat, was sich im Inneren des betroffenen Objekts befindet. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Täter eines Autodiebstahls das gestohlene Fahrzeug so in seiner geöffneten Garage abstellt,

443 Art. 230 Nr. 2 CPP: „No exista una expectativa razonable de intimidad que justifique el requisito de la orden. En esta eventualidad, se considera que no existe dicha expectativa cuando el objeto se encuentra en campo abierto, a plena vista, o cuando se encuentra abandonado.“ (dt. Übersetzung d. Verf.).

444 Vgl. Guerrero Peralta, DPC 92 (2011), S. 55 ff.; Guerrero Peralta, 2006, S. 99. Für die Rechtsprechung bzgl. der „Open field“-Doktrin in USA und die Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren Nahbereich und sonstigem Gelände s. Wittmann, 2014, 168 ff.

445 Aponte Cardona, 2006, S. 80.

446 I.d.S Guerrero Peralta, 2007, S. 349 ff.; Aponte Cardona, 2006, S. 80 m.w.N.

447 Aponte Cardona, 2006, S. 80.

§ 5. Nachträglicher Rechtsschutz der Intimität

147 dass man ohne in die Garage zu gehen das Nummernschild des Fahrzeugs erkennen kann.448

Nach Art. 231 CPP „kann nur derjenige vor dem Richter zur Kontrolle der Garantien oder vor dem Erkenntnisrichter eine Verletzung seiner Verfahrensrechte rügen, sodass während einer Hausdurchsuchung unrechtmäßig erlangte Beweismittel nicht verwertet werden dürfen, der Verdächtiger oder Beschuldigter ist oder als Eigentümer oder Besitzer eine Rechtsposition hinsichtlich des von der Maßnahme betroffenen Objekts besitzt.“ Ebenso stellt fest, dass „dieses Recht sich ausnahmsweise auch auf einen Besucher [des Objekts]

erstreckt, der in seiner Eigenschaft als Gast beweisen kann, dass er vernünftigerweise die Wahrung seiner Intimsphäre erwarten durfte in dem Moment, in dem die Maßnahme durchgeführt wurde.“449 Kann er eine solche Erwartungshaltung nicht beweisen, ist es möglich, dass eine Person, die sich mit Einverständnis des Eigentümers in dessen Wohnung aufhält, gleichwohl vom Schutz der Wohnung ausgeschlossen ist.

Allerdings argumentiert diesbezüglich ein Teil der Rechtslehre, dass nicht nur die Personen, die in ihren Rechten verletzt wurden, die Verwertbarkeit eines Beweismittels rügen dürfen, sondern auch Dritte.450 Nach dieser Ansicht gebietet die Reichweite des Grundrechts auf Schutz der Intimitätsphäre dem Richter im Falle einer Hausdurchsuchung nicht nur die materielle Rechtsposition des Eigentums oder des Besitzes zu berücksichtigen, sondern auch die Betroffenheit anderer Anwesender.451 Denn auch Grundrechte eines Dritten können durch die Maßnahme betroffenen sein: Wie verhält es sich beispielsweise, wenn die Polizei unrechtmäßig eine Hausdurchsuchung durchführt, und hierbei Besitztümer einer dritten Person an sich nimmt. Der Eigentümer des durchsuchten Objekts kann in diesem Fall die Rechtswidrigkeit der Maßnahme auch in Bezug auf den Dritten rügen mit dem Argument, dass die Maßnahme gegen diesen im Rahmen der gegen sein Eigentum gerichteten illegalen Hausdurchsuchung erfolgte.

448 Guerrero Peralta, 2006, S. 100.

449 Art. 231 CPP: „Únicamente podrá alegar la violación del debido proceso ante el juez de control de ga-rantías o ante el juez de conocimiento, según sea el caso, con el fin de la exclusión de la evidencia ilegalmen-te obilegalmen-tenida duranilegalmen-te el procedimiento de registro y allanamiento, quien haya sido considerado como indiciado o imputado o sea titular de un derecho de dominio, posesión o mera tenencia del bien objeto de la diligencia.

Por excepción, se extenderá esta legitimación cuando se trate de un visitante que en su calidad de huésped pueda acreditar, como requisito de umbral, que tenía una expectativa razonable de intimidad al momento de la realización del registro.“ (dt. Übersetzung d. Verf.).

450 Vgl. Guerrero Peralta, 2006, S. 101.

451 Vgl. Guerrero Peralta, 2006, S. 101.

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Insofern muss es aber auch für den Dritten möglich sein, die Verwertbarkeit der Maßnahme zu rügen, da er bei seiner Anwesenheit im fremden Eigentum, mit der der Eigentümer einverstanden war, vernünftigerweise die Wahrung seiner Intimsphäre erwarten durfte.452

c. Notfallsituationen (Art. 230 Nr. 3 CPP)

Art. 230 Nr. 3 CPP nimmt Bezug auf „Notfallsituationen, wie zum Beispiel Feuer, Explosionen, Überschwemmungen oder andere Risikoszenarien, die das Leben oder Eigentum gefährden oder eine drohende Gefahr für die Gesundheit, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit eines Minderjährigen darstellen.“453 Es handelt sich hierbei um gerade die Situationen, die in der deutschen StPO unter dem Begriff Gefahr im Verzug behandelt werden.454 Bei der Überprüfung, ob eine solche Notfallsituation vorliegt, hat der JCG zu beachten, dass eine Gefahr im Verzug insoweit vorliegt, wenn objektiv keine Möglichkeit vorlag, eine Anordnung der Maßnahme zu beantragen, ohne dass in der Folge die Möglichkeit zur Beweiserhebung verloren gegangen wäre. Der JCG hat also die Schwere des Schadenfalls und die Notwendigkeit der Beweisbeschaffung zu bewerten.455

Die Rechtmäßigkeitsprüfung bei drohenden Gefahren für die Gesundheit, das Leben, die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit eines Minderjährigen ist ebenfalls komplex. Die Regelung ist so weit gefasst, dass ihr zufolge in einer Vielzahl der Fälle bei einer Hausdurchsuchung eine Anordnung entbehrlich wäre. Die Ausnahmeregelung wurde durch das Gesetz 1453 von 2011 eingeführt, welches in seinem Art. 53 den Begriff der drohenden Gefahr einführte. Nach dem KVerfG handelt es sich hierbei „um extreme Situationen, die ein Einschreiten der Behörden dringend und zwingend erforderlich machen, um die bedrohten Rechte und Interessen zu schützen.“456 Die Figur der Hausdurchsuchung zur Sicherung eines Minderjährigen ist demgegenüber im Jugendgesetz (Código del Menor) vorgesehen sowie in Art. 86 Nr. 6 und 106 des Gesetzes 1098 von 2006. Das KVerfG hat hierzu befunden, dass die Voraussetzungen dafür, dass diese Art von Hausdurchsuchungen

452 Guerrero Peralta, 2006, S. 101.

453 Art. 230 Nr. 3 CPP: „Se trate de situaciones de emergencia tales como incendio, explosión, inundación u otra clase de estragos que pongan en peligro la vida o la propiedad, o en situaciones de riesgo inminente de la salud, la vida o integridad personal o sexual de un menor de edad.“ (dt. Übersetzung d. Verf.).

454 I.d.S. Guerrero Peralta, 2006, S. 101.

455 Guerrero Peralta, 2007, S. 352 ff.; Guerrero Peralta, 2006, S. 102.

456 KVerfG, Entsch. C-256 v. 2008, Abschn. 38: „situaciones extremas que requieren la intervención urgente y obligatoria de aquellas autoridades para preservar los derechos o intereses que se encuentran en grave ries-go de afectarse.“

§ 5. Nachträglicher Rechtsschutz der Intimität

149 verfassungsgemäß sind, darin bestehen, „(i) dass eine drohende und schwerwiegende Gefahr besteht, (ii) das Leben, die Unversehrtheit, die Sicherheit oder die Gesundheit von Personen gefährdet ist und (iii) die diesen Maßnahmen zugrunde liegende Regelung den Entscheidungsrahmen der Verwaltungsbehörden vorschreiben muss und die nachträgliche richterliche Kontrolle in Fällen eines Exzesses oder von Willkür erfolgen muss.“457