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V. Analyse von Bedarf und Alternative

10.3 Pro und Contra der geschlossenen Unterbringung

10.3.2 Argumente gegen die geschlossene Unterbringung

In der Literatur befinden sich im Gegensatz zu Pro- Argumenten, eine ganze Reihe von Contra- Argumenten. Um einem Überblick zu geben, werde ich sie in meiner nachfolgenden Bearbeitung in rechtliche, pädagogische, strukturelle und gesellschaftliche Argumente gliedern.

10.3.2.1 Rechtliche Argumente gegen die geschlossene Unterbringung

Eines der wichtigsten Argumente gegen die geschlossene Unterbringung, als eine Form der Heimerziehung im Sinne des § 1631b BGB, sind die rechtlichen Unstimmigkeiten des § 1631b BGB. Während eine längerfristige Unterbringung in Einrichtungen der Jugendhilfe nach den §§ 71, 72 JGG rechtlich unbedenk-lich ist, so erweist sich die zentrale Vorschrift des Familienrechts für die ge-schlossene Unterbringung nach § 1631b Satz 1 BGB als verfassungswidrig.

Eine nach dieser Vorschrift praktizierte Unterbringungsmaßnahme ist, laut einer Untersuchung von Bernhard Schlink und Sebastian Schattenfroh zum Thema

„Zulässigkeit der geschlossenen Unterbringung in Heimen der öffentlichen Ju-gendhilfe“, auf Grund unzureichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig.168 Die Ermächtigungsgrundlage geht aus dem Artikel 104 des Grundgesetztes hervor. Darin heißt es, dass Maßnahmen, die für die Verwirklichung der Grund-rechte relevant sind oder auch nur die GrundGrund-rechte gefährden, stets einer Er-mächtigung durch ein Gesetz bedürfen.169 Die einzige materielle Voraussetzung für die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1631b Satz 1 und 3 BGB, ist eine dem „Wohl des Kindes“ erforderliche Maßnahme.

167 Vgl. Hoops/Permien 2004, S. 5, zit. nach Winkler 2006, S. 244

168 Vgl. Schlink/Schattenfroh 2001, S. 149

169 Vgl. Schlink/Schattenfroh 2001, S. 77

Somit ist die richterliche Genehmigung abhängig von der Generalklausel dem

„Wohl des Kindes“. Die Verwendung der Generalklausel ist verfassungsrecht-lich nicht unzulässig und dient den Anforderungen an die Ermächtigungsgrund-lagen. Das besondere an der Verwendung der Generalklausel liegt darin, dass diese Klausel über einen besonders intensiven Grundrechtseingriff entschei-det.170 Die dabei von der geschlossenen Unterbringung betroffenen Grundrech-te können zum einen, Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Grundgesetz sein, wobei es um die Freiheit der Person des Minderjährigen und dem Schutz vor Freiheitsentziehungen geht. Zum anderen, könnte es den kel 11 Freizügigkeit des Grundgesetztes bzw. unter Umständen auch den Arti-kel 1 Absatz 1 des Grundgesetztes (Schutz der Menschenwürde) betreffen. Der Artikel 103 Grundgesetz mit dem Recht auf rechtliches Gehör, sowie der Artikel 6 Grundgesetz, wo es um den Schutz der Familie geht, könnten ebenfalls da-von betroffen sein.171

Die Ermächtigungsgrundlage für die geschlossene Unterbringung Minderjähri-ger in Heimen der Jugendhilfe ist, nach § 1631b Satz 1 BGB, trotz jahrzehn-telanger unkritischer Anwendung durch das Gericht, untauglich.172 Die Vor-schrift, nach § 1631b Satz 1 BGB, gilt daher als ungenügend und eine verfas-sungskonforme Auslegung ist nicht möglich. Im Ergebnis von Schlink und Schattenfroh zeigt sich, dass der § 1631b Satz 1 BGB verfassungswidrig ist und der Bundesgesetzgeber angehalten ist die Vorschrift zu überarbeiten.173

Bis zur Überarbeitung des Unterbringungsrechts für Minderjährige sollte aus diesem Grund, in der Folgezeit darauf geachtet werden, dass der § 1631b BGB nur unter der rigorosen Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Anwendung kommt. Des Weiteren sollte darauf geachtet werden, dass die ver-fahrensrechtlichen Anforderungen, gemäß den §§ 70ff FGG, welche bereits im Kapitel III. Institutionelle Rahmenbedingungen der Einrichtungen unter dem Punkt 7.3.1 näher erläutert wurden, auch unter der strengen Beobachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet werden.174

170 Vgl. Schlink/Schattenfroh 2001, S. 112

171 Vgl. Schlink/Schattenfroh 2001, S. 77

172 Vgl. Schlink/Schattenfroh 2001, S. 122

173 Vgl. Schlink/Schattenfroh 2001, S. 113

174 Vgl. Salgo 2001, S. 26

Ein weiteres Argument gegen die geschlossene Unterbringung als eine Form der Heimerziehung ist, dass nicht einmal die gültigen Verfahrensrechte zur ge-schlossenen Unterbringung Minderjähriger eingehalten werden.175 Das bedeu-tet, dass zum Beispiel die Verfahrensvorschriften über die Dauer der Unterbrin-gung in einer geschlossenen Einrichtung nicht eingehalten werden. In der Reali-tät konnte so festgestellt werden, dass ein Erstbeschluss, welcher längstens auf drei Monate angeordnet werden kann und die Dauer eines Jahres nicht ü-berschreiten darf, häufig weit überschritten wurde. Außerdem konnte auch fest-gestellt werden, dass keine Verfahrenspfleger eingesetzt wurden.176

10.3.2.2 Pädagogische Argumente gegen die geschlossene Unterbringung

Das zentrale Argument gegen die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Jugendhilfe ist ein pädagogisch-ethisches und lautet: „ Erziehung ist nur in Freiheit möglich“. Freiwilligkeit und Vertrauen sind wesentliche Voraussetzungen für die Erziehung, sowie ein auf einer positi-ven menschlichen Beziehung basierender Interaktionsprozess. In der Interakti-on zwischen dem Erzieher und dem Minderjährigen bilden somit, die gegen-ständlich existentiellen Bezüge die Grundlage. Diese Pädagogik wendet sich damit, gegen die Erziehungsauffassung von Bestrafung, Zwang und Unterord-nung.177

10.3.2.3 Strukturelle Argumente gegen die geschlossene Unterbringung

Die zentralen strukturellen Argumente gegen die geschlossene Unterbringung sind zum einen, die Probleme des Systems der Hilfen zur Erziehung, die eine Nachfrage nach einer solchen Maßnahme notwendig macht. Zum anderen führt es dazu, dass durch das Vorhandensein der Maßnahme der notwendige Ver-änderungsdruck entfällt. Somit unterlag die Heimerziehung in Form der ge-schlossenen Unterbringung, einem verhängnisvollen Spezialisierungssystem.

175 Vgl. Häbel 2004, S. 32f, zit. nach Winkler 2006, S. 241

176 Vgl. Hoops 2004, S. 23, zit. nach Winkler 2006, S. 241

177 Vgl. IGfH – Arbeitsgruppe 1995, S. 40

Gegenüber anderen Formen der Heimerziehung stellt die geschlossene Unter-bringung ein Drohpotential bereit, mit dem eine Anpassung erzwungen werden soll.178

10.3.2.4 Gesellschaftliche Argumente gegen die geschlossene Unterbringung Das Fehlen einer eindeutigen Indikation für die Einweisung in die geschlossene Unterbringung spricht gegen die Heimerziehung in Form der geschlossenen Unterbringung.

Ebenfalls negativ an dieser Form der Heimerziehung ist, die so genannte „Sog-wirkung“ die von diesen Einrichtungen ausgeht. Wie bereits im Kapitel Analyse von Bedarf und Alternative unter dem Punkt 10.2 erläutert, ergab eine Untersu-chung von Hoops und Permien im Jahre 2004, dass in den Bundesländern mit dieser Einrichtung deutlich mehr Kinder und Jugendliche untergebracht wurden, als in Bundesländern ohne diese Form der Heimerziehung.179

Ein Verzicht auf die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in einer ge-schlossenen Einrichtung führt zudem nicht automatisch dazu, dass sie in schwierigen Situationen ohne Hilfe wären. Es gibt Kinder und Jugendliche, die in schwierigen Situationen ebenso in einer offenen Hilfeform leben, was wie-derum ein Argument gegen die geschlossene Unterbringung darstellt.180

Ein Zitat von Jörg Fegert stellt ebenfalls ein Argument gegen die Heimerzie-hung in Form der geschlossenen Unterbringung dar. Darin heißt es:

„Die Eltern werden in ihrer Not bereit sein, jeder vorgeschlagenen Maßnahme zuzustimmen. Niemand ist da, der tatsächlich überprüft, ob andere Lösungs-möglichkeiten zur Verfügung stehen…Wer vertritt die Position des Jugendli-chen? Wer prüft, ob die Erwachsenen, die zu seinem Besten nun eine ultimo ratio fordern, alles in ihrer Macht Stehende getan haben, ob nicht andere Alter-nativen zur Verfügung stehen? Wer kontrolliert die Effizienz der Maßnahmen, wer kontrolliert die Gutachter, wer gleicht die ohnmächtige Position dieser Kin-der und Jugendlichen aus?“181

178 Vgl. IGfH – Arbeitsgruppe 1995, S. 43

179 Vgl. Permien 2005, S. 206

180 Vgl. Radewagen 2005, S. 205

181 Fegert 1998, S. 211, zit. nach Wolffersdorff 2003, S. 60

Mit dieser Aussage macht Jörg Fegert auf die Fragen der Kontrolle, in Bezug auf alle Beteiligten, bei der Anordnung einer geschlossenen Unterbringung aufmerksam. Außerdem stellt er die Effizienz einer solchen Maßnahme in Fra-ge.

Der stetig steigende Bedarf an Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familien lässt, bei immer knapper werdenden Mitteln in der Jugendhilfe, auch die Wirtschaft-lichkeit dieser Einrichtungen in Frage stellen.182 Die hohen Kosten und der dar-aus resultierende Erfolg stehen dabei nicht immer im Verhältnis zueinander, was eine Argumentation gegen die Form der geschlossenen Unterbringung möglich macht. Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Maßnahmen eher weniger erfolgreich sind gegenüber offenen Alternativen.183

11. Erlebnispädagogik als Alternative zur geschlossenen Unterbringung

Die Erlebnispädagogik bietet Kindern und Jugendlichen, die als besonders schwierig gelten und die durch andere pädagogische Maßnahmen nicht erreicht werden konnten, einen Zugang zur Arbeit. Sie wird als Ausweg, aus der allge-meinen Ratlosigkeit im Umgang mit gewaltbereiten Jugendlichen, jungen Straf-fälligen oder Kindern und Jugendlichen in den Hilfen zur Erziehung gesehen.184 In der Erziehungshilfe beschreibt die Erlebnispädagogik ein pädagogisches Ar-rangement, in dem Kinder und Jugendliche, je nach Lernziel, fehlende Grunder-fahrungen ihres Lebens, über sachliche und menschliche Medien, nachholen, intensivieren bzw. ergänzen können.185

Im Rahmen von Hilfen zur Erziehung oder der Straffälligenhilfe wurden erleb-nispädagogische Projekte auf Segelschiffen, vor allem als Alternative zur ge-schlossenen Unterbringung, entwickelt. Grund dafür sind die besonders positiv anzusehenden Strukturbedingungen. Das bedeutet, dass die Erfordernisse des Segelns und die damit verbundenen Tätigkeiten klar erkennbar sind und relativ leicht zu akzeptieren. Die Bewältigungen der Aufgaben finden unmittelbar statt, sind anwendbar und überprüfbar. Das schafft eine positive Bestätigung für die

182 Vgl. Permien 2005, S. 210

183 Vgl. Peters 2006, S. 126

184 Vgl. Klawe/Bräuer 2001, S. 7

185 Vgl. Merkle/Liegel 1996, S. 274f, zit. nach Klawe/Bräuer 2001, S. 14

Kinder und Jugendlichen und reduziert gleichzeitig die Anlässe für Machtkämp-fe und Konflikte. Der gemeinsame, enge Lebensraum von Betreuern und Min-derjährigen schafft eine neue Möglichkeit der Beziehungsdefinition und der Auseinandersetzung bei Konflikten. Das Leben auf engem Raum verlangt ge-genseitige Rücksichtnahme und ein hohes Maß an sozialer Toleranz, sowie die Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien. Durch neue körperliche und techni-sche Herausforderungen ermöglicht das gemeinsame Segeln Grenzerfahrun-gen. Besonders erlebnisintensiv beim Segeln sind, in der Regel, die direkten Konfrontationen mit den Naturelementen. Das fördert die Bereitschaft, die Grundfragen der Existenz neu zu stellen und verfestigte Einstellungen und Ver-haltensmuster zu überdenken und zu überarbeiten.

11.1 Ziele der Erlebnispädagogik

In der Rahmenkonzeption eines Segelprojekts kommen dann, u. a. Zielsetzun-gen wie die Integration in einer Kleingruppe und das Erlernen sozialen Handels vor. Ebenso soll erreicht werden, dass Motivation geweckt und Initiativen ergrif-fen werden. Die Kinder und Jugendlichen sollen auf dem Segeltörn ihre Auto-nomie und Selbstverantwortung entwickeln. Sie erlernen konstruktives Arbeits-verhalten und die Fähigkeit, sich praktisch eigenständig zu versorgen. Dieses Abenteuer und die Freiheit des weiten Meeres verschafft Kindern und Jugendli-chen die Möglichkeit, ihr eigenes Leben neu zu ordnen und zu gestalten.186 11.2 Rechtliche Rahmenbedingungen erlebnispädagogischer Projekte

Erlebnispädagogische Maßnahmen im Rahmen der Hilfen zur Erziehung kön-nen, durch unterschiedliche gesetzliche Regelungen bewilligt werden. Diese Maßnahmen können u. a. durch den § 29 soziale Gruppenarbeit SGB VIII, § 34 Heimerziehung SBG VIII, sowie auch durch den § 35 Intensive sozialpädagogi-sche Einzelbetreuung SGB VIII, bewilligt werden.

186 Vgl. Klawe/Bräuer 2001, S. 17ff

Voraussetzung für die Bewilligung einer solchen Maßnahme ist, die Erstellung eines Hilfeplan nach § 36 SGB VIII in Verbindung mit der fachlichen Kontrolle durch das Jugendamt gemäß § 37 SGB VIII (Zusammenarbeit bei Hilfen außer-halb der eigenen Familie).

Die ausführenden Träger der erlebnispädagogischen Maßnahme benötigen außerdem, die Anerkennung des § 35 Intensive sozialpädagogische Einzel-betreuung SGB VIII bzw. des § 75 Anerkennung als Träger der freien Jugend-hilfe SGB VIII. Die Teilnahme einer erlebnispädagogischen Maßnahme kann auch in Einzelfällen nach dem § 14 Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz SGB VIII, als präventive Maßnahme in Betracht kommen.

Des Weiteren ist festzustellen, dass es auch im Bereich der Justiz zu einer Be-willigung erlebnispädagogischer Maßnahmen kommen kann. Die Anordnung einer erlebnispädagogischen Maßnahme erfolgt im Jugendgerichtsgesetz, durch den § 10 Weisungen und den § 12 Hilfe zur Erziehung. Die erlebnispäda-gogische Maßnahme kann aber ebenso, zur Abwendung einer Untersuchungs-haft nach den §§ 71 Vorläufige Anordnungen über die Erziehung und 72 Unter-suchungshaft des Jugendgerichtsgesetztes seine Anwendung finden.187

11.3 Zielgruppen erlebnispädagogischer Maßnahmen

Kennzeichnend für die Zielgruppen der erlebnispädagogischen Maßnahmen sind u. a. die Zugehörigkeit der Kinder und Jugendlichen zu Milieus, wie der Punker-, Prostitutions- und Drogenszene. Die Minderjährigen sind geprägt durch massive Beziehungsstörungen. Ihnen fehlt es an Vertrauen und Selbst-bewusstsein. Sie neigen zu starker Aggressivität und es liegen Formen der Selbst- und Fremdgefährdung vor. Die Kinder und Jugendlichen leben mit ihrer Perspektivlosigkeit.188

187 Vgl. Klawe/Bräuer 2001, S. 27

188 Vgl. Klawe/Bräuer 2001, S. 43

VI. Subjektive Wirkungen der geschlossenen Unterbringung

12. Empfindungen Minderjähriger

Nach der Bedarfsermittlung und dem Aufzeigen von Alternativen, sollen im Fol-genden, die subjektiven Einschätzungen der Kinder und Jugendlichen, zusätz-lich zur Lösungsfindung der Arbeit, beitragen.

Kinder und Jugendliche erleben die Heimerziehung in Form der geschlossenen Unterbringung unterschiedlich, deshalb untermauern die Zitate dieses Kapitels die mannigfachen Erlebnisse der Kinder und Jugendlichen zu verschieden Zei-ten.

Peter Wensierski, Dokumentarfilmer und Fernsehjournalist, dokumentierte in seinem 2006 geschriebenen Buch, „Schläge im Namen des Herrn“ – Die ver-drängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, eindrucksvoll die Erlebnisse der damaligen Heimkinder, wie sie sich vor der Heimreform in den 1960er Jahren abspielte. Es sind Erlebnisberichte ehemaliger Heimbewohner und Heimbewohnerinnen, denen „das vielleicht größte Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde“, dargestellt.189 Dazu gehören dramatische Menschenrechtsverletzungen und traumatisierende Erlebnisse, die Kinder und Jugendliche in jener Zeit erfahren mussten. Peter Wensierski schreibt, dass es selten Waisenkinder oder Kriminelle waren, die in ein Heim kamen. Meist waren es nichtige Gründe, die zur Einweisung in ein Heim führten und daher Kinder nicht verstehen ließ, warum sie jetzt nicht mehr zu Hause wohnen durften.190

So beschreibt Gisela Nurthen, Jahrgang 1945, Bewohnerin im Vincenzheim 1961-1965 in Dortmund, ihre erste traumatische Erfahrung:

Eine Frau hatte zu ihr gesagt: „So, jetzt machen wir einen kleinen Ausflug nach Dortmund, da triffst du viele Mädchen in deinem Alter, und es wird dir gefal-len.“191

189 Vgl. Hoops/Permien 2006, S. 101

190 Vgl. Wensierski 2006, S. 9f

191 Vgl. Wensierski 2006, S. 14

Der Aufenthalt von Gisela Nurthen hinter den Klostermauern dauerte vier Jahre.

Bis heute ist es ihr nicht möglich, das Trauma der Jahre zu überwinden, denn schon bei den geringsten Verfehlungen, wie unerlaubtem Sprechen, Weinen oder Erbrechen, bekam sie Schläge mit Teppichklopfern oder Besenstielen.

Ebenso wie Boxhiebe in Rücken und Rippen. Ein- und ausgehende Post wurde von den Nonnen gelesen und zensiert, bzw. kamen die Briefe nie an und das Telefonieren war streng verboten.192

Weiterhin erinnert sich Gisela Nurthen:

„Ich verlor meinen Namen, wurde wie die anderen nummeriert. Wir durften nur schön ordentlich, nach Nummern sortiert, in Zweierreihen durchs Haus mar-schieren – zur Arbeit, zur Kirche, zur Toilette, zum Essen.“193

„Jede Minute des Tages wurden wir bewacht, auch während des Entkleidens zur Nacht oder beim Waschen. Sämtliche Schamgrenzen wurden dabei ver-letzt.“194

Kinder, wie Gisela, die bereits 14 Jahre alt waren und die Schule abgeschlos-sen hatten, mussten bis zu zehn Stunden am Tag unentgeldlich in der hausei-genen Großwäscherei arbeiten.195

Gisela Nurthen plagte die Sehnsucht, denn sie wusste, dass es da draußen noch ein richtiges Leben gab, doch wenn sie durch ihr vergittertes Fenster sah, erblickte sie nur eine riesige Ziegelwand, denn das Gelände war von hohen Backsteinmauern umgeben. Ebenso waren die Eingangstore mehrfach gesi-chert, sowie auch die meisten Türen im Haus.196

Das gesellschaftliche Kartell, die Jugendbehörden, Gerichte, Lehrer, Nachbarn, Eltern und die damals noch einflussreiche Kirche, legten fest, wer in ein Heim sollte. Besonders die katholischen Institutionen und Ordensgemeinschaften hat-ten großen Anteil an den seelischen und körperlichen Verletzungen, denen dut-zende Heimkinder zugefügt wurden.197 Dabei ist Gisela Nurthen kein Einzelfall.

192 Vgl. Wensierski 2006, S. 20

193 Vgl. Wensierski 2006, S. 21

194 Vgl. Wensierski 2006, S. 23

195 Vgl. Wensierski 2006, S. 21f

196 Vgl. Wensierski 2006, S. 24f

197 Vgl. Wensierski 2006, S. 9

Allein im Jahre 1961 lebten 235 Mädchen mit Gisela Nurthen zusammen in dem Vincenzheim.198

Peter Wensierski berichtet in seinem Werk noch von weiteren Heimen und un-erträglichen Zuständen. Die Erlebnisse und Eindrücke von Gisela Nurthen sol-len hier nur stellvertretend für die Gruppe der Heimkinder sein, die ähnlich schlimme Erfahrungen in den Heimen damals gemacht haben. Wichtig an die-ser Stelle ist noch zu erwähnen, dass dieses Schicksal gleichwohl auch Jungen widerfahren ist. Im katholischen Kinderheim Kallmünz bei Regensburg, suchen Josef Doll, Heinz Aubeck, Anton und Ludwig Tengler noch immer nach ihrer verlorenen Jugend.199

Fast ein halbes Jahrhundert, später gibt es noch immer in einigen Bundeslän-dern die Sonderform der Heimerziehung. Die geschlossene Unterbringung un-terlag jedoch in den vergangenen Jahren auch einem großen Wandel. Heute stellt sie eine sozialpädagogische Intensivmaßnahme dar, die „schwererziehba-ren“ Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zur Veränderung geben soll.

Trotzdem bleibt es eine Maßnahme unter Zwang, denn durch die baulichen Verhältnisse sind die Minderjährigen gezwungen, körperlich anwesend zu sein.

Daher erleben die Kinder und Jugendlichen die Maßnahme sehr dominant und nehmen sie erst einmal als Bedrohung wahr.200

Ein Mädchen beschreibt das folgendermaßen:

„Direkt gesehen hab ich sie nicht, aber ich hab`s gefühlt, dass irgentwo eine Mauer in der Nähe ist, wo ich nicht durchkomme.“201

Heute erleben die Kinder und Jugendlichen aber auch etwas anderes, als sie es erwartet haben.

Ein Mädchen sagt zu ihrer Erwartung:

„Da gingen halt draußen Gerüchte rum, dass es ein einfaches Zimmer ist mit so

´ner Panzertür und mit Gittern vor die Fenster und ´ne Kamera. Da steht bloß ein Bett drin und ein Schrank und das war´s dann schon. Ja das ist bei uns rumgegangen. […]. Dass die Mädchen von den Erziehern geprügelt werden, es gibt nur Essen, wenn man ihnen in den Arsch reinkriecht und da hab ich gesagt, echt net, da mag ich net nei.“202

198 Vgl. Wensierski 2006, S. 28

199 Vgl. Wensierski 2006, S. 97

200 Vgl. Pankofer 2007, S. 51

201 Vgl. Pankofer 2007, S. 51

202 Vgl. Pankofer 2007, S. 51

Ein weiters Mädchen spricht ihre Erleichterung darüber aus, dass das Heim nicht dem entspricht, was sie an Vorstellungen hatte.

„Und dann kam ich halt hier rein, stand hier drin, ich war schon fertig mit den Nerven. Dann kommt halt ein Erzieher her und ist total freundlich, ja, fühl` dich wie zu Hause. Geh´ ich hier in die Gruppe, und hab geschaut, ja, wo sind die Kameras, von wegen Stahltüren, alle sitzen sie auf dem Hof. Und dann, wo ich

´ne Weile hier war, hat´s mir halt schon besser gefallen gehabt.“

Die geschlossene Unterbringung hat heute daher zwei Seiten. Während einige Kinder und Jugendliche sie sogar als Schutz annehmen, bleibt sie für andere eine geschlossene Einrichtung in der man von Erziehern abhängig ist.

Zitat – Schutz

„Zum Beispiel, bin ich meist abends abgehauen oder nachts, so zwölf oder so.

Und das kann ich hier nicht. Doch, ich denk schon drüber nach, ich träum halt so vor mir hin, wie es wär´ oder so, aber ich weiß ja, dass ich nicht raus kann und dass es auch besser für mich ist, weil da weiß ich ja nicht, unter welche Leute ich gerat.“203

Zitat - Abhängigkeit

„Für mich ist das Einschleimen und das kann ich nicht brauchen. Deswegen hab´ ich es auch nie weitergeschafft als bis zu vier Stunden in der Woche. Mehr hab ich nicht gekriegt, weil ich meinen eigenen Kopf habe.“204

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Heimerziehung in Form der geschlossenen Unterbringung auch heute noch, durch das Mittel der Geschlos-senheit, eine Zwangsmaßnahme darstellt, welche die unterschiedlichsten Ein-drücke bei den Kindern hinterlässt. Einige können darin eine Chance sehen und fühlen sich beschützt und geborgen, während andere sich eingesperrt fühlen und der Willkür der Erzieher ausgesetzt sehen. 205

In subjektiver Hinsicht scheinen die negativen Aspekte und Einflüsse der GU, die offene Heimerziehung als eine bessere Alternative herauszustellen, da von ihr kein Drohpotential ausgeht. Des Weiteren ist die Wirkung auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen vor Anordnung einer solchen Maßnahme unbekannt.

203 Vgl. Pankofer 2007, S. 51

204 Vgl. Pankofer 2007, S. 52

205 Vgl. Pankofer 2007, S. 57

VII. Resümee

13. Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es delinquente Kinder und Ju-gendliche gibt, die auf Grund ihres abweichenden Verhaltens mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Vor diesem Hintergrund entsprechen sie nicht einer ge-sellschaftlichen Normalität. Um eine Anpassung dieser devianten Kinder und Jugendlichen an die Normen der Gesellschaft zu gewährleisten, wurden in der historischen Entwicklung Räume geschaffen, in denen sie gemeinsam verbind-liche Normen und kulturelle Werte erlernen konnten.

Die geschichtlichen Veränderungen der Heimerziehung werden im Wesentli-chen durch den sozialen und historisWesentli-chen Kontext bestimmt. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Reformen, die zu bestimmten Zeiten in ein soziales System eingebracht werden, sich zu einem Zeitpunkt etablieren und ein anderes Mal nicht. Die Gesellschaft selektiert offensichtlich, sodass unter bestimmten Systembedingungen, bestimmte Neuerungen ausgeschlossen wer-den, während andere zugelassen bzw. sogar gefördert werden.

Zusammenfassend für die Heimerziehung lässt sich daher sagen, dass sie im-mer dann von einem Reformschub erfasst wurde, wenn politische oder gesell-schaftliche Probleme überhand nahmen und die bereits vorhandenen Lösungen als nicht ausreichend erachtet wurden. Kennzeichnend für solche Neuorientie-rungen waren u. a. der Waisenhausstreit gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die Ablösung der Jugendfürsorge von der staatlichen Armenfürsorge in der Zeit der Deutschen Reichsgründung und der großen Heimkampagnen in den Jahren 1969/1970.

Weitere besonders wichtige Einflussfaktoren hinsichtlich der Entstehung solcher Institutionen sind, die ökonomischen und kulturellen Faktoren, die durch Indust-rialisierung und Technologisierung entstehen.

Die ursprüngliche Motivation der Gesellschaft hat sich stark verändert, denn während es in den Anfängen der damaligen Fürsorgeerziehung um die Rettung, Versorgung und Heilung der Kinder ging, besteht die Heimerziehung, im spe-ziellen die geschlossene Unterbringung, heute vor dem Hintergrund,