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Angewandte Wissenschaften und Technikwissenschaften

1.3 Wissenschaftstheoretische Positionierung und Vorgehensweise

1.3.2 Angewandte Wissenschaften und Technikwissenschaften

Nach H. Ulrich unterscheiden sich angewandte Wissenschaften von Grundlagenwissen-schaften. Als Grund führt er u. a. die Problemauswahl an, welche bei den Grundlagen-wissenschaften aus „Rätseln“ besteht, während angewandten Wissenschaften ungelöste praktische Probleme zugrunde liegen. Für Lösungen sind in angewandter Forschung über den reinen Erkenntnisgewinn hinaus andere Faktoren relevant. Ulrich zitiert Lenk (Lenk 1979) und führt Kriterien wie „Sicherheit, Kostenminimierung, Haltbarkeit“ usw. an. Das

„Forschungsregulativ“ ist für Ulrich bei angewandten Wissenschaften die Nützlichkeit und nicht die bei theoretischen Wissenschaften entscheidende Wahrheit. (Ulrich 2001, S. 171–

172;220) Auch P. Ulrich und Hill unterscheiden Formalwissenschaften und Realwissen-schaften (GrundlagenwissenRealwissen-schaften und angewandte WissenRealwissen-schaften). Die angewand-ten Wissenschafangewand-ten umfassen u. a. die Ingenieurwissenschafangewand-ten und dienen „der Analyse menschlicher Handlungsalternativen zwecks Gestaltung sozialer und technischer Sys-teme“. (Ulrich et al. 1976, S. 305) Die Gestaltung von Systemen wird auch von Ropohl als Unterschied angeführt. Für ihn weist die Technik trotz Gemeinsamkeiten zwischen Natur- und Technikwissenschaften mit „Erfindungs-, Konstruktions- und Gestaltungspraxis an-dere Vorgehensweisen auf“. (Ropohl 2009, S. 23)

Ein Praxisbezug bewirkt auch externe, außerwissenschaftliche Ansprüche. Für Ropohl darf die Wissenschaft zwar nicht von Ideologien oder externen Instanzen reglementiert wer-den, genauso wenig sollte sie sich jedoch auf die rein „wissenschaftsinternen Ziele“ fo-kussieren, sondern sich auch an praktischen Gesichtspunkten orientieren. (Ropohl 2009, S. 20) Für die Problemlösung sind oftmals mehrere Hypothesen bzw. Möglichkeiten denk-bar. Vor einer experimentellen Prüfung müssen diese auf Plausibilität untersucht werden.

Dabei stellt das Sparsamkeitsprinzip, nach dem die einfachste Erklärung wahrscheinlich die beste ist, eine der wichtigsten Regeln dar. (Truran 2013, S. 28)

Für P. Ulrich und Hill müssen Grundprobleme in drei Kontexten gelöst werden: Entde-ckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang. Der Entdeckungszusammen-hang befasst sich mit Abgrenzung und konkreter Problemstellung. Der Begründungszu-sammenhang beinhaltet die empirische Überprüfung und umfasst deduktive Schritte zum

Erhalt von mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Aussagen. Der Verwendungszusam-menhang beschreibt Zweck und Relevanz der Aussagen. (Ulrich et al. 1976, S. 306–307) Die Definition dieser Zusammenhänge für die vorliegende Arbeit ist im Kontext der Tech-nikwissenschaften sinnvoll, daher erfolgt dies nach einer näheren Betrachtung der hierfür vorhandenen Ansätze.

Nach Auffassung von Spur existiert aktuell keine klare Abgrenzung zwischen Technik, Technologie und Technikwissenschaft, genaue Unterteilungen (Bereiche, Aufgaben) sind nicht vollständig klar. Über die Praxisnähe begründet er, dass die Technikwissenschaften alle Methoden umfassen, „die der Weiterentwicklung von Wissen zur Nutzanwendung dienen“. (Spur 2007, S. 119) Die deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) definiert jedoch folgendermaßen: „Technikwissenschaften schaffen kognitive Vorausset-zungen für Innovation in der Technik und Anwendung technischen Wissens und legen die Grundlagen für die Reflexion ihrer Implikationen und Folgen.“ (acatech 2013, S. 8) Weiter verdichtet die acatech die Technikwissenschaften auf drei Aufgabenfelder. Die erste Funk-tion ist die Erforschung und Entwicklung von Prozessen und Methoden, welche die Grundlage für Modelle und Simulationen darstellen und Vorhersagen erlauben. Die zweite ist die Beurteilung und Erforschung komplexer (technischer) Systeme bezüglich de-ren Potenzial zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Der dritte Aspekt betrachtet die ei-gentliche technische Arbeit, hier erlauben die Technikwissenschaften Hilfen bei Auswahl und Bewertung von Komponenten (Lebensdauer, Sicherheit usw.). (acatech 2013, S. 20)

Entdeckungszusammenhang

P. Ulrich und Hill formulieren im Entdeckungszusammenhang eine Kernfrage: „Unter wel-chen Bedingungen gelangen Wissenschaftler zu fruchtbaren theoretiswel-chen Konzeptio-nen?“. Dabei soll der Bezugsrahmen des Forschungsprozesses, d. h. Abgrenzung, Prob-lemstellung und Arbeitshypothesen, festgelegt werden. (Ulrich et al. 1976, S. 306) Im Rahmen der Technikwissenschaften ist der Entdeckungszusammenhang somit im Kontext dieser von der acatech postulierten drei Aufgabenfelder zu sehen.

Für H. Ulrich beginnt und endet angewandte Forschung jeweils in der Praxis, eine reale Problemstellung wird beforscht, gelöst (auch unter Einbeziehung bzw. Nutzung von

Grundlagen- und Formalwissenschaften) und wieder in die Praxis übertragen. (Ulrich 2001, S. 194–195) Dies trifft für diese Arbeit zu, welche das in der ersten Forschungsfrage formulierte, direkt aus der Praxis stammende Problem als Ursprung aufweist: Für das prak-tische Problem (endmaßnahe und vollflächige Lagerbeschichtung) wird eine Lösung ge-sucht. Ziel ist eine Technologie bzw. Vorrichtungstechnik, welche das Aufbringen einer galvanischen Schicht nach den benötigten Anforderungen ermöglicht. Für die Umsetzung von ingenieurwissenschaftlichen Fragestellungen existieren diverse Methodiken und Vor-gehensmodelle, jedoch nicht unbedingt direkt passend für die Gestaltung einer Lösung für die vorliegenden sehr speziellen Anforderungen.

Für die technische Gestaltung sind die zugrundeliegenden Zusammenhänge bzw. Funkti-onen essenziell. Die Entdeckung technischer FunktiFunkti-onen erfolgt dabei häufig bei tungsversuchen, die theoretischen Beziehungen werden daraus abgeleitet. Bei der Gestal-tung ist das Aufwand-Nutzen-Verhältnis relevant, es ist somit nicht nur das reine Erreichen einer Funktion entscheidend. (acatech 2013, S. 21–22) Dabei gilt für die acatech zur Ab-grenzung zwischen Technik und Technikwissenschaften der Leitsatz „Gestaltung ist Sache der Technik, Erforschung der Gestaltungsmöglichkeiten ist Aufgabe der Technikwissen-schaften.“ (acatech 2013, S. 30) Nach Rammert gilt es bei der pragmatischen Analyse technischen Wissens u. a., neue Handlungsmöglichkeiten zu schaffen und zu erproben.

Die neuen Ideen sind „in die technologischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Gegebenheiten einzupassen“, für diese Aufgabe sind geeignete Methoden zu entwickeln.

(Rammert 2010, S. 44) Nach den Vorgaben der acatech ist daher im Rahmen der Arbeit nicht nur eine reine Funktion zu erreichen, sondern ein effizientes Aufwand-Nutzen-Ver-hältnis sicherzustellen. Das Schaffen neuer Handlungsmöglichkeiten zur nachvollziehba-ren Ermittlung von geeigneten Gestaltungsmöglichkeiten ist daher neben der praktischen Ursprungsfragestellung mit zu berücksichtigen.

Allgemeiner, über die Gestaltung hinaus formuliert, besteht somit das Ziel der Technik-wissenschaften „in der Erzeugung von Gesetzes-, Struktur- und Regelwissen über Technik – in der Absicht, dieses in technischen Anwendungen zu nutzen.“ (acatech 2013, S. 19)

Ähnlich formuliert auch Spur: „Technikwissenschaften haben die Aufgabe, die mannig-faltigen Erscheinungsformen der Technik zu erklären und Modelle für ihre optimale Ge-staltung zu entwickeln.“ (Spur 2007, S. 122)

Die Konzentration auf die reine Gestaltung einer Technik auf Grund einer unbekannten Umsetzungsmöglichkeit ist im Rahmen dieser Arbeit daher zu kurz gegriffen. Eine Metho-dik mit Identifikation erfolgsversprechender Gestaltungsmöglichkeiten wird für eine zu-künftige, effiziente Bearbeitung dieser und ähnlicher Aufgabenstellungen benötigt. Ein interdisziplinärer Ansatz mit Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen anlagen-technischen und verfahrensanlagen-technischen / galvanoanlagen-technischen Gesichtspunkten wird dabei als essenziell betrachtet, insbesondere die Schichtdickenverteilung und die Sicherstellung einer anforderungsgemäßen Realisierung stehen bei der Entwicklung der Vorgehensweise im Vordergrund. Die Erarbeitung eines Prognosemodells auf Basis von Simulation dient als wichtige Hilfe während der Planungs- und Entwurfsphase. Hierbei wird ein pragmati-scher Ansatz, die Umsetzung eines möglichst effizienten, einfachen und damit praxistaug-lichen Planungswerkzeugs, bevorzugt. Abstriche bei der absoluten Genauigkeit können unter der Prämisse einer Nützlichkeit hingenommen werden.

Begründungszusammenhang

Dem Begründungszusammenhang kommt nach Auffassung von H. Ulrich bei angewand-ter Wissenschaft geringere Bedeutung zu, weil weniger die Prüfung von Hypothesen und mehr die „Gestaltungsmodelle für eine erst zu schaffende Realität“ im Vordergrund steht.

Entscheidend für diese Gestaltungsmodelle ist deren Tauglichkeit im Anwendungszusam-menhang. Der Geltungsbereich der Erkenntnisse muss dabei sinnvoll abgegrenzt werden.

(Ulrich 2001, S. 173–176) Nach Rammert entsteht technisches Wissen, indem es sich über die praktische Funktion als brauchbar erweisen muss. Daher stellen in den Technikwissen-schaften „praktisches Können und technische Erfahrung, intuitives Wissen und experi-mentelles Erproben“ erforderliche Inhalte dar. (Rammert 2010, S. 40–41)

Unabhängig von der Herkunft von Forschungsthemen ist für ein Fortschreiten der Wis-senschaft immer ein Erkenntnisgewinn notwendig. Technologische Theorie besteht für

Kornwachs aus verbundenen Regeln, welche anhand ihrer Effektivität beurteilt werden (nicht der Wahrheit). (Kornwachs 2010, S. 144)

Im Rahmen der Arbeit werden die erarbeiteten Ergebnisse daher anhand der vorliegenden Fragestellung als Fallbeispiel durchgeführt. Eine praktische Umsetzung erfolgt im Rahmen des Aufbaus einer Prototypanlage, welche eine experimentelle Überprüfung erlaubt. An-hand der Durchführung der Methodik und der Bewertung der Versuche wird eine Bewer-tung sowohl bezüglich der Tauglichkeit als auch der Effektivität vorgenommen.

Verwendungszusammenhang

Den Einfluss der realen (gesellschaftlichen, marktwirtschaftlichen, unternehmerischen) Umgebung sieht Brockhoff bei einer marktorientierten Sicht auf die Technikwissenschaft, u. a. durch eine Rechenschaftspflicht gegenüber anderen und dadurch eine Vorgabe von Themen. Technikwissenschaftler sollen sich zur Verringerung von Misserfolgen somit auf die Nutzer einstellen und unterliegen in ihrer Arbeit einer individuellen Nutzenorientie-rung. (Brockhoff 2010, S. 183–184)

Eine Nutzung der Ergebnisse dieser Arbeit erfolgt in der direkten Umsetzung für die Ent-wicklung und Untersuchung von Beschichtungslösungen für Wälzlagerringe. Sie kann darüber hinaus für ähnliche Fragestellungen zur Sicherstellung einer effizienten und risi-kominierten Entwicklung angepasster Lösungen verwendet werden. Insbesondere eine Skalierung der Umsetzung des Prototyps ist naheliegend.

Einordnung der Arbeit

Eine Einordnung der Arbeitsinhalte in die differenzierte Methodik der Technikwissenschaf-ten nach Spur findet sich in Abbildung 1.2. Kern der wissenschaftlichen Aufgabe ist die Methodik für die Entwicklung einer kontaktstellenfreien galvanischen Beschichtungsvor-richtung, ergänzt durch die geforderte Maßhaltigkeit für die beschichteten Bauteile. Dar-aus resultiert eine interdisziplinäre Problemstellung mit Wechselwirkungen zwischen phy-sikalischen, (elektro-)chemischen und anlagentechnischen Herausforderungen.

Eine Bewertung der Praktikabilität der Methodik (generische Methodik als auch der De-tailmethodiken zur kontaktstellenfreien Beschichtung, Maßhaltigkeit und Schichtdicken-optimierung) sowie der Möglichkeiten und Einschränkungen des Prognosemodells zur Schichtdickenverteilung wird anhand von Versuchsbeschichtungen vorgenommen.

Abbildung 1.2: Einordnung der vorliegenden Arbeit in die „Differenzierte Methodik der Technikwissenschaften“ nach Spur (Spur 2007, S. 124) (eigene Inhalte stichwortartig kur-siv in grau hinterlegten Feldern)

Technikwissenschaften

System von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden zur Anwendung in der Technik

Nutzungspotenziale

Erforschung der Erscheinungsformen technischer Systeme

Innovationspotenziale

Entwicklung von Modellen zur optimalen Gestaltung technischer Systeme

Entwicklung und Realisierung einer Prototypanlage zur Erforschung und Validierung einer technischen Lösung, welche mittels der entwickelten Methodiken erarbeitet wurde

Technologieentwicklung für die vollflächige galvanische

Beschichtung von rotationssymmetrischen Bauteilen bzw. Lagerringen

Allgemeine Methodik für die

Gesamtentwicklung von galvanischen Anlagen für Bauteile mit hohen

Anforderungen an Vorrichtungstechnik und Maßhaltigkeit

Methodik auf Detailebene zur Ermittlung von Lösungen für vollflächige Beschichtung ohne Kontaktstellen bei hoher

Maßhaltigkeit

Einfache Prognosemöglichkeit der Schichtdickenverteilung durch neues

Widerspruch vollflächige Schicht und elektrische Kontaktierung: Keine konkreten Lösungen oder Methodik zur Ermittlung von Lösungen bekannt. Bei hohen korrosiven Belastungen ist die Vermeidung von Kontakt- bzw. Fehlstellen zwingend.

Entwicklung einer Methodik zur Auswahl und Generierung einer bestmöglichen Lösung.

Hohe Maßhaltigkeit bei für die Galvanotechnik geometrisch anspruchsvoller Geometrie gefordert

Wechselwirkungen mit physikalischen, (elektro-) chemischen Faktoren

Fallbeispiel: Rotationssymmetrische Bauteile (Lagerringe)

Beschränkung auf die anlagentechnische Umsetzung ohne Verfahrensentwicklung