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Perspektiven aus der documenta X

Wenn es um Zukunft geht, scheint in Kunst eine Interpretation auf, die höhere Sensi-bilität und größere Kreativität verspricht als andere Formen der Weltaneignung. Der ästhetischen Produktion wird ein seismographisches Gespür für Tendenzen, für Trends, für nicht Artikuliertes unterstellt. Sie wurzelt tiefer in Sinnlichkeit; sie ist emp-findsamer in ihrer Wahrnehmung.

Wenn gleichzeitig gilt, daß die Suche nach der Zukunft ein immer wichtiger werden-des Thema wird, dann scheint eine Reaktivierung utopischen Denkens angesagt.

Utopie tritt auf als Entwurf einer gestalteten Welt, als eine der Zeit vorauseilende Vision. Kunst kommt dann ins Spiel als Weise ästhetischer Welterzeugung.

Wenn es so ist, daß Bildung die individuelle Aneignung von Kultur bedeutet (vgl.

Adorno 1975, S. 67), dann ist der Umgang mit Kunstwerken ein – aus der gegenwärti-gen Diskussion eher verdrängter – Fokus von Bildung, auch von Erwachsenenbil-dung. Gefragt ist dann nach Strategien der Vermittlung, aber auch umgekehrt nach didaktischen Potentialen von Kunst.

Sind auf diese Weise utopische Potentiale ästhetischer Produkte und Erwachsenen-bildung zusammengebracht, geht es um andragogische Vermittlung von Welterzeu-gung und Weltaneignung durch Kunst. Wo wäre diese Herausforderung größer als am Beispiel der Ausstellung der Weltkunst, zuletzt auf der documenta X. Keine Kunst-aktivität im Jahr 1997 hat stärkere Diskussionen provoziert und auseinandergehen-dere Interpretationen erzeugt als die dX.

Deshalb werde ich beim Durchgang durch den „Parcours“ einige Exponate befra-gen, was sie an perspektivischem Potential bergen und wie dies vermittelbar ist.

Dabei wissen wir, es handelt sich um „offene“ Kunstwerke (Eco 1977), gekennzeich-net durch „fundamentale Ambiguität der künstlerischen Botschaft“ (ebd., S. 11).

Retroperspektive

Die dX ist explizit als „Retroperspektive“ angetreten. Dieser „Blick zurück nach vorn“

enthält den Anspruch, das Vergangene mit dem Zukünftigen zu verbinden, zu fra-gen, was das Bleibende ist und was das Kommende. Von einem zeitgenössischen Standpunkt aus wird ein antizipierender Blick auf die Zukunft künstlerischer Produk-tion und ihres gesellschaftlichen Kontexts geworfen. Deshalb geht es auch um Ein-ordnungen. Zu dem Konzept gehören auch Publikationen und Vorträge. „ Die Ausstel-lung, ,Das Buch‘ und das Programm ,100 Tage – 100 Gäste‘ bilden zusammen das Ereignis documenta X“ (David in art 4/1997, S. 42). Die dX stellt sich somit der Aufgabe von Vermittlung. Dies hat ihr den Vorwurf von Intellektualität und Funktio-nalität eingebracht.

Aus Anlaß der dX findet nach dem Anspruch der Ausstellungsmacherin eine Verge-wisserung statt als Rückblick auf fast ein halbes Jahrhundert und als Ausblick auf das nächste Jahrtausend.

„Die letzte documenta des Jahrhunderts mußte sich – ohne dem modischen Trend zur Jubiläumsfeier zu verfallen – die Aufgabe stellen, einen kritischen Blick auf die Geschichte, auf die jüngste Nachkriegsvergangenheit zu werfen und das, was da-von die Kultur und die zeitgenössische Kunst umtreibt: die geschichtlichen Ereignis-se, das Gedächtnis, die Dekolonisierungsbewegungen, die ,Enteuropäisierung‘ der Welt (Wolf Lepenies), aber auch die komplexen – postarchaischen, posttraditionalen und postnationalen – Identifikationsbemühungen in den ,fraktalen Gesellschaften‘

(Serge Gruzinski), die aus dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Brutali-sierung des Marktes entstanden sind“ (David, S. 9). Die dX stellt sich der ambitio-nierten Aufgabe, „unter einer kritischen, wenn nicht gar programmatischen, aktuel-len Perspektive die wichtigen Positionen zu sichten und neu zu durchdenken, die in den sechziger Jahren aufkamen“ (ebd.). Also ist die historische Dimension vertreten durch Kunstwerke der 60er und 70er Jahre, welche die Referenz abgeben für zu-künftige Perspektiven.

„An der Retroperspektive soll durchaus auch die Veränderung der künstlerischen Praktiken sichtbar werden. Dieses Problem beschäftigt heute viele. Die documenta X wird also nicht die Frage beantworten: ,Wie wird die Kunst im 21. Jahrhundert aussehen?‘ Wir sind ja keine Hellseher und Wahrsager. Aber die Fragen, was ist ein Kunstwerk, welche neuen Formen nimmt die Kunst an, wie sieht die Rolle des Künstlers aus – diese Fragen beschäftigen mich sehr, und sie stehen auch im Zen-trum der gegenwärtigen Debatte“ (David in art 4/1997, S. 39).

Der „Parcours“ ist angelegt als Bildungsgang; er zeichnet „einen ideellen, sinn-gebenden Spaziergang durch die Stadt“ (David in documenta documents 1, S. 2).

Seit 1955 ist Kassel der Veranstaltungsort der documenta. Bislang wurde das Mo-dell des Ausstellungsspaziergangs präferiert, das – so der Vorwurf von Catherine David – abzielte auf die Rezeption der Avantgarde und ihre Vermarktung als Kon-sumartikel. Die dX setzt sich dagegen ab. „Um die Rezeptionshaltung und den ,Kirmes-effekt‘ in Grenzen zu halten oder ihm entgegenzuwirken, schien es erforderlich zu sein, die Heterogenität der Ausstellungsorte, ihre Mischung (...) und die Heterogeni-tät der Werke im Kasseler ,Hier und Jetzt‘, im Kontext Kassel 1997, in einem histo-rischen und urbanen Parcours zu artikulieren, um so die Aufmerksamkeit auf die Zeichen der Geschichte zu lenken, die sich in das Antlitz der Stadt eingeschrieben haben“ (a.a.O., S. 11). Genau dies hat viel Ärger und Mißverständnis eingebracht.

Es ist zum einen eine Verweigerungshaltung gegenüber dem Kunstbetrieb und zum andern eine Auffassung von Kunst, die explizit nach ihrer Wirkung fragt und damit die Fiktionen von Autonomie aufbricht. Ausstellungsmachen wäre demgemäß ein didaktisches Problem. Die Ausstellungskonzeption ist durchaus Bildungsprojekt. Die dX ist ein Projekt der Erwachsenenbildung. Dies steht im Gegensatz zu den Immu-nisierungsstrategien des Kunstmarktes und wird insofern sowohl brisant als auch schwierig als Gegenentwurf. Die Intellektualität des Konzepts hat möglicherweise

auch ein Defizit an Emotionalität bewirkt. Zu fragen ist aber nicht, ob die dX gut oder schlecht war. Zu fragen ist, was gelungen ist.

Jeff Walls „film stills“

Als erstes erzeugt die dX ein Schwingen zwischen Kunst und Wirklichkeit. Ausge-hend vom Bahnhof als Kunststätte wird der Teilnehmer in die Unterwelt der Unter-führungen und Untergrundbahnen geleitet. Dort findet man ein Foto des kanadi-schen Künstlers Jeff Wall (*1946) (Abb. 1), das den Unterschied von Realität und Fiktion aufbricht. Das in einen Leuchtkasten für Reklame montierte Bild sieht zu-nächst aus wie ein Schnappschuß. Aber bei genauerem Hinsehen beginnt die Irrita-tion. Die Schatten können so nicht stimmen, Körper- und Armhaltung des dargestell-ten Mannes, der eine Tüte mit „Milk“ – so der Titel – in der Hand hält, sind nicht schlüssig. Die Dynamik der Bildelemente ist gegenläufig. Nichts an diesem Foto ist

„realistisch“, alles ist inszeniert.

Abb. 1: Passanten in der Unterführung am Kulturbahnhof in Kassel vor der Foto-arbeit „Milk“ von Jeff Wall.

Foto: Koch, Hessische/Niedersächsische Allgemeine

Jeff Wall stellt seine Leuchtkastenbilder ins Spannungsfeld von Malerei, Photogra-phie und Film. Zum einen gibt es eine konzeptionell begründete Komposition in der Syntaktik des Bildaufbaus. Und es werden aus der Malerei semantische Symbole wie Gesten – der haltenden, der gespannten Hand – aufgenommen. Zum anderen arbeitet Wall mit dem surrealistischen Konzept der „explosion fixe“, dem bewegungs-losen Erstarren, dem unheimlichen Erscheinen der Gegenstände aus dynamischen Prozessen – wie die spritzende „Milk“. Die Fotos sind eher angehaltene Filmbilder –

„film stills“. Wall bedient sich der digitalen Montage, um die arrangierten Motive nach-zuarbeiten. Die Bilder sind dann perfekt inszenierte „Schnappschüsse“. Es entsteht ein Sprung im scheinbar Selbstverständlichen. Heraussteigend aus der U-Bahn scheint die Stadt zu verschwimmen, indem Geschäfte, Restaurants, Boutiquen merk-würdig flirren zwischen Banalität und Faszination. Was denn real ist, weiß man kaum mehr. Die „Volksboutique“ ist Exponat der dX, die documenta-Boutique betreibt ein cleverer Sockenverkäufer.

Broodthaers‘ Museum

Dem schließt sich – nachdem die Rezipienten einmal sensibilisiert sind – konse-quent das Adler-Museum des Belgiers Marcel Broodthaers (1924–1976) an, das im Ergeschoß des Fridericianums an herausragender Stelle präsentiert wird (Abb. 2).

Abb. 2: Marcel Broodthaers’ Adler-Museum

Es steht in der Tradition von Magritte und Duchamp und potenziert deren Exponate.

Die Reflexivität der Kunst hat mittlerweile mindestens das fünfte Niveau ereicht: die Darstellung von Darstellungen von Wirklichkeit von Darstellung der Wirklichkeit dar-gestellt durch Wirklichkeit anstelle von Darstellungen von Wirklichkeit. Kunstwerke

Foto: Hessische/Niedersächsische Allgemeine

stellen erstens Wirklichkeit dar, sie werden dann zweitens – z.B. bei Velázques‘

Meninas – selbst Teil der Wirklichkeit; sie werden drittens selbstreflexiv, wenn z.B.

Magrittes Gemälde einer Pfeife negiert, eine Pfeife zu sein; sie werden rückkehrend mit der Wirklichkeit identisch in Duchamps „ready-mades“; sie treten letztlich an die Stelle von Wirklichkeit und leugnen das – so bei Broodthaers Anhängern ausgestellt im „Musée d‘Art Moderne, Department des Aigles“, die – auf Magritte und Duchamp anspielend – deklarieren „Dies ist kein Kunstwerk“. Diese Museumsparodie bestand in ihrer ersten Fassung, als sie der Dichter Marcel Broodthaers 1968 bei sich zu Hause in Brüssel eröffnete, aus leeren Kisten und Postkarten. Das fiktive Museum ist im Laufe der Jahre gewachsen und erhielt zusätzliche Abteilungen. In einer frühe-ren Fassung war die Section Publicité bereits 1972 auf der documenta 5 zu sehen.

Parodie ist angesagt – auch bezogen auf den Gegenstand des Museums – den Adler, der in Broodthaers‘ Dichtung auftaucht im Vers „Oh Melancholie, herbes Adler-schloß“ und der Metapher ist für das Erhabene, Emblem des Imperialismus und Symbol der Macht. Im Adler-Museum ist auch der Vogel auf dem Verpackungspa-pier der „Deutschen Markenbutter“ ausgestellt. Broodthaers beschreibt sich selbst als listig und ironisch. Die Spannung zwischen Bild und Wirklichkeit wird so in Schwin-gungen versetzt zwischen Identität wie in Magie und Fiktion in höchsten Graden von Virtualität. Es werden Bedeutungsebenen überlagert durch Metasysteme von Zei-chen.

Schon Magrittes gemalte „Pfeife“ war keine Pfeife und konnte keine sein, gehörte aber als Bild einem neuen Zeichensystem an. Duchamp hatte dieses Phänomen genutzt, indem er seine ready-mades in den ästhetischen Kontext des Museums stellte und damit Gebrauchsgegenstände in das System künstlerischer Zeichen in-tegrierte, sie dadurch zum Kunstwerk machte. Als Duchamp 1917 ein industriell produziertes Urinoir unter dem Titel „Fontaine“ ausstellte, provozierte er selbstver-ständlich das Museumsestablishment, gleichzeitig machte er aber ernsthaft klar, daß es eine Setzung und Vereinbarung ist, was Kunst sei und was nicht. Broodthaers potenziert dieses Spiel, indem er Kunst zur Wirklichkeit erklärt und damit die Gren-zen aufhebt. Dies zerstört jeden Glauben an Abbildbarkeit durch Kunst. Gleichzeitig werden Bild und Sprache zusammengebracht und gezeigt, daß es Sehen ohne Spre-chen nicht geben kann. Broodthaers rezipiert Roland Barthes, der in „Mythen des Alltags“ gezeigt hatte, daß die menschliche Gesellschaft in der Lage ist, sprachlich gefaßte Bedeutungen zu produzieren, und gleichzeitig das Bezeichnete oder Darge-stellte mit Mythen überzieht, Riten, Signalen und Botschaften, die nicht den Gegen-ständen anhaften, sondern ihnen zugesprochen werden und sich mit ihnen verbin-den. Damit wird keine Zukunftsbotschaft einer ästhetischen Sozietas verkündet, sondern die Spiegel werden gespiegelt in Ironie und Reflexivität.

Richters Atlas

Reflexivität der Wirklichkeitsbezüge bezieht Gerhard Richter (* 1932) – im Erdge-schoß des Fridericianums den größten Raum direkt gegenüber Broodthaers

einneh-mend – auf die eigene Biographie und ästhetische Produktion. Sehr früh hat er be-schlossen, die von ihm gesammelten und die Quellen seiner Arbeit dokumentieren-den Materialien zu archivieren: Zeitungsausschnitte, Schnappschüsse von Amateu-ren, eigene Photos. Diesen Atlas, als Museum der eigenen Werkgeschichte, hat Richter 1962 begonnen. Er stellt ein Work-in-progress dar, das 1972 zum ersten Mal ausgestellt wurde. Die Präsentation auf der dX (Abb. 3) umfaßte ungefähr 5.000 Bilder auf 600 Tafeln in einer taxonomisch strukturierten Dokumentenmontage: Rei-seziele, Autos, Flugzeuge und Schiffe ebenso wie Bestandteile von Sensationen, Tiere, Natur und Städte, Berge, Wasser, Wolken. „All dies fügt sich in einen ,Kos-mos‘ der Sekretärinnen, Liebespaare und Krankenschwestern, gekrönten Häupter, Soldaten, Sportler und historisch bedeutsamen Personen. In einem hart geführten Schnitt folgt den ausgemergelten Menschen aus den Konzentrationslagern eine Sequenz pornographischer Szenen“ (Friedel in Richter 1997, S. 5).

Abb. 3. Gerhard Richter „Atlas“

Diese Vorlagen waren immer auch Material für Richters konstruktivistische Kunst.

Bekannt sind die „Baader-Meinhof-Fotos“, wobei Richter die urspünglich im „Stern“

und im „Spiegel“ veröffentlichten Aufnahmen reproduzierte, bearbeitete und

ver-Foto: Koch, Hessische/Niedersächsische Allgemeine

fremdete, so wie sie auch in den danach entstandenen Gemälden verunscharft sind.

Ein neuerer umfangreicher Abschnitt des „Atlas“ ist Richters Familie, seiner jungen Frau, ihrer Schwangerschaft und den Kleinkindern gewidmet. Er hat aber keines-wegs Bildvorlagen fotographiert. „Ein Foto macht man für ein Foto, und wenn man Glück hat, entdeckt man es später für ein Bild“ (Richter 1993, S. 256).

Dies meint keine naturalistische Wiedergabe, sondern Konstruktion. „Ich mißtraue nicht der Realität, von der ich ja so gut wie gar nichts weiß, sondern dem Bild von Realität, das uns unsere Sinne vermitteln und das unvollkommen ist, beschränkt.

(...) Ich kann über die Wirklichkeit nichts deutlicheres sagen als mein Verhältnis zur Wirklichkeit, und das hat dann was zu tun mit Unschärfe, Unsicherheit, Flüchtigkeit, Teilweisigkeit oder was auch immer“ (Richter zit. in Wilmes 1988, S. 14).

Der „Atlas“ ist also selbst ein Gesamtwerk. In ihm spiegeln sich biographische und ästhetische Etappen. Überlegungen, die in die Bilder Richters eingehen, finden in den Fotos, Skizzen und Collagen des Atlas ihren eigenen Ausdruck. Er repräsentiert genau das, was man als Patchwork-Biographie, als Biographie-Collage bezeichnen kann. Es ist der reflexive Umgang eines Künstlers mit sich selbst, einem, der 1961 kurz vor dem Bau der Mauer die DDR verlassen hat und seitdem jede Festlegung immer wieder aufbricht, neue Stile sucht, aber gleichzeitig eine die Episoden verbin-dende Kontinuität und Identität herzustellen versucht und gestaltet. Für Catherine David ist der „Atlas“ ein Werk, das „ästhetische, kognitive, sinnliche und sogar ethi-sche Erfahrungen“ ermöglicht. „Er entstand zwar schon in den sechziger und siebzi-ger Jahren, doch mir ist es wichtig, ein großes Publikum, das diese Arbeit nicht kennt, mit dieser umfassenden Gegenüberstellung fotographischer Bilder aller Art zu konfrontieren“ (in art 4/1997, S. 39). Ein Teil der Kritik hat den „Atlas“ nur als Vorarbeiten akzeptiert und die Tafelbilder Richters als das „Eigentliche“ auf der dX vermißt. Der Atlas ist „offen“ für kontroverse Interpretation: Er zeigt das „Potential, aus dem die Künstler schöpfen“ (Eduard Beaucamp, FAZ vom 29.9.1997), gerade indem er „einen riesigen Raum mit 5000 sorgfältig gerahmten Urlaubs- und Familien-photos ausstaffiert“, wie Ulrich Greiner süffisant glaubt bemerken zu müssen (Die Zeit vom 26.9.1997).

Hamiltons Interieurs

Spiegelwelten baut auch Richard Hamilton (* 1922). Seit Mitte der fünfziger Jahre betreibt er Versuche, um die Möglichkeiten des Bildes durch technische Eingriffe auszuloten (reshaping). In „Seven Rooms“ (1994 – 1996) photographierte er zu-nächst die nackten, weißen Wände eines Ausstellungsraums und scannte sieben Negative von Interieurs in einen Computer, so daß es möglich war, die Aufnahmen zu manipulieren, z.B. perspektivische Verzerrungen zu korrigieren. Produkt sind also nicht Fotos im herkömmlichen Verständnis von technischer Reproduktion, sondern extrem artifizielle Produkte (Abb. 4).

Abb. 4: Richard Hamilton „Seven Rooms“

Auch die Ergebnisse sind mehrfach verschachtelt mit Bildern in Bildern in Bildern.

Die Wirklichkeit liefert Bilder, und die Bilder stellen Bilder dar. Gegenstand waren ursprünglich sieben Räume des eigenen Hauses. Damit werden die in den Interieurs dargestellten Räume gleichzeitig zu einem Selbstporträt des Künstlers.

„Hyperreflexivität“

Diese Auswahl von Kunstwerken der dX ist zweifellos willkürlich. Es gab vieles andere zu sehen. Nichtsdestoweniger ist das Resultat auffällig und bemerkenswert. Gerade die exponiertesten Produzenten, zu denen Broodthaers, Richter und Hamilton gehö-ren, sind gekennzeichnet durch eine potenzierte Reflexivität. Dies ist nicht nur selbst-bezügliche Intellektualität, sondern erhält eine sinnliche Form von Emotionalität. Al-les Selbstverständliche und Unmittelbare scheint auch im Wahrnehmen und Fühlen aufgelöst. An die Stelle von Eindeutigkeiten treten Offenheit und Selbstbezüglichkeit.

Dies könnte die kulturtheoretische Essenz dessen sein, was die dX zeigt. Man trifft auf eine „Hyperreflexivität“ einer sich andeutenden „Metamoderne“. Scott Lash hat den Begriff der „ästhetischen Reflexivität“ benutzt, um darauf hinzuweisen, daß nicht nur die kognitiven Symbole reflexiv werden, sondern auch Bilder, Klänge,

Geschich-Foto: Koch, Hessische/Niedersächsische Allgemeine

ten. Er verweist dabei auf den mimetischen Charakter solcher Zeichen (Lash in Beck u.a. 1996, S. 234). Gleichzeitig finden die Spiegelungen und Brechungen in extre-mer Individualität statt: in Broodthaers‘ Privatmuseum, Richters Atlas seines eige-nen Kosmos oder Hamiltons privaten Interieurs.

Allerdings wäre es zu einfach, dies als postmodernes Flimmern abzutun, wie Eber-hard Fiebig es unternimmt: „Was David erzählt, klingt wie das verzerrte Echo einer von französischen Meisterdenkern Baudrillard, Derrida, Lyotard, Virillo seit langem herbeigeredeten gesellschaftlichen und kulturellen Entropie“ (Fiebig in FR vom 20.9.1997, S. 8). Zwar diskutiert David mit Virillo theoretische Einordnungen: „Der blinde Fleck der Kunst“ (in documenta documents 1, S. 56–67); die präsentierten Künstler aber sind keine Apologeten des Dekonstruktivismus, sondern sie zeigen Versuche, mit erschreckenden Offenheiten umzugehen – also doch wieder eine sinn-liche Form zu finden. Wenn in sexistischer Pose der Ausstellungmacherin „eine ka-tastrophale sinnliche Apathie“ (Fiebig) vorgeworfen wird, wenn sie als „Nonne im Bordell“ (SZ), als „eine Jeanne d‘Arc, die den Kunstbetrieb aufstacheln und reformie-ren will und dazu nach den vielen üppigen und populistischen Kunstfestivals, nach den Orgien der Malerei eine strenge Diät verordnet“ (FAZ), als „Zuchtmeisterin“,

„Schneewittchen“, als „Maria Magdalena“, „weiblicher Robespierre“, „schwarze Äb-tissin von St. Germain des Près“ bezeichnet wird (zit. in FR vom 29.9.1997, S. 18), dann sagt das mehr über die Kritiker aus als über die Kunstwerke.

Reflexive Moderne

Die Sensibilität der Kunst potenziert den Zeitgeist, wie er sich in der Diskussion um

„reflexive Moderne“ zeigt.

„Theorien reflexiver Modernisierung versuchen das neue Wilde der Wirklichkeit durch eine an dem Gedanken der Radikalisierung der Moderne geschulte Begriffs- und Theoriebildung einzufangen. (...) Sie sind vom Wissen durchtränkt, daß die Zukunft nicht im Begriffsrahmen der Vergangenheit verstanden und bestanden werden kann“

(Beck 1996, S. 25).

In einer durch institutionelle Reflexivität gezeichneten Gesellschaft wird das Infrage-stellen zur Selbstverständlichkeit, werden Sprachformeln zerbrochen, Institutionen entkernt. Reflexivität meint das systematische Aufdecken der ungedachten Katego-rien. „Als Selbst-Reflexivität befragt sie unseren Sinnhorizont“ (Lash in Beck u.a.

1996, S. 356).

Die genannten gesellschaftlichen Grundströmungen setzen neue Rahmenbedingun-gen. Nun scheinen auch diese Tendenzen schon wieder zu kippen. Angesichts unbe-herrschbarer Folgen und resultierender Risiken ist der Modernisierungskonsens zer-brochen.

– Linearitätsmodelle von gesellschaftlicher Entwicklung, gestützt auf Fortschritts-gläubigkeit, werden „chaotisch“ durch gegenläufige Zirkel.

– Finalisierende – d.h. an einfachen Ziel-Mittel-Relationen orientierte – Interventions-strategien brechen sich an der Komplexität sozialer Systeme und erzeugen kontra-intendierte Effekte.

– Traditionelle Großgruppen als Merkmal von Sozialstruktur werden relativiert, In-dividualisierungstendenzen greifen um sich, und es ergibt sich eine differenzierte Landschaft von Milieus.

– Kontinuität von Lebensläufen scheint sich aufzulösen in Patchwork-Mustern. Versu-che, Identität herzustellen und zu bewahren, nehmen die Form von Bastelexisten-zen an. Biographie wird selber zur Gestaltungsaufgabe.

– Eingriffe in soziale Systeme – nach dem Muster instrumenteller Rationalität – laufen leer, erzeugen statt der beabsichtigten Ergebnisse viel weitreichendere

„Nebenfolgen“. Insgesamt wird Reflexivität zum angemessenen Interpretations-muster.

„Unübersichtlichkeit“ ist nicht zufällig ein Modebegriff der aktuellen Diskussion. „Längst vorbei sind die Zeiten der Klassifizierung und Übersichtlichkeit, die Kunst verweigert Sinn, Deutung und Genuß, die sich aus der Eindeutigkeit der Zeichen, aus verstän-digem Dechiffrieren gewinnen lassen“ (Kirschenmann/Stehr 1997, S. 9).

Erstaunlicherweise war die dX ein großer Erfolg, wenn man die Publikumsresonanz mißt. Die Besucherzahlen erreichten mit dem Rekord-Niveau von 631.000 die Dimen-sionen der IAA oder der Cebit. Es herrschte Volksfeststimmung: Besucherschlangen, Schulklassen, internationale Freaks. In einer repräsentativen Erhebung beurteilten 44,3% der Besucher die Ausstellung als hervorragend und gut; 32,7% fanden sie befriedigend, und nur 23% gaben ihr die Noten vier und fünf (Hessisch-Niedersäch-sische Allgemeine vom 7.11.1997, S. 17). Was suchen die Leute?

Erstaunlicherweise war die dX ein großer Erfolg, wenn man die Publikumsresonanz mißt. Die Besucherzahlen erreichten mit dem Rekord-Niveau von 631.000 die Dimen-sionen der IAA oder der Cebit. Es herrschte Volksfeststimmung: Besucherschlangen, Schulklassen, internationale Freaks. In einer repräsentativen Erhebung beurteilten 44,3% der Besucher die Ausstellung als hervorragend und gut; 32,7% fanden sie befriedigend, und nur 23% gaben ihr die Noten vier und fünf (Hessisch-Niedersäch-sische Allgemeine vom 7.11.1997, S. 17). Was suchen die Leute?