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Alltagskontexte des Transplantationssystems

Die bisherige Betrachtung zielte hauptsächliche auf die medizinisch-funk­

tionalen Ebenen des Organtransplantationssystems. Entsprechend kamen bislang nur jene Sinnprobleme zur Sprache, denen im Rahmen der zentralen

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-Abbildung IV

Transplantationssystem und Betroffenenforschung

Funktionsprobleme des "Systems" ein legitimatorischer Stellenwert zu­

gewiesen wird. Im weiteren wollen wir - quasi in Fortführung der Betroffe- nenforschung - aus der Perspektive der am Transplantationsgeschehen beteiligten Akteure der Frage nachgehen, in welcher Form ein derart tech- nik- und wissenschaftsintensives System in alltagsweltliche Kontexte ein­

greift.

Relevant ist die Transplantationsmedizin in erster Linie für Formen des körperbezogenen Handelns und der für sie maßgebenden Körpersymboliken.

Wir vermuten nun, daß der Betrieb von Transplantationssystemen und das Wissen über die Möglichkeiten der Transplantationsmedizin zu einer Pluralisierung der gesellschaftlichen Formen des Körperumgangs beitragen und insofern eine generelle Tendenz verstärken, die ihre Grundlage in der auf breiter Front in der Medizin wie in Konsumbereichen vorangetriebenen Technisierung des Körpers hat.52

Organverpflanzung und Körperpraxis

Durch die Transplantationsmedizin werden die von der Gesellschaft bereitge­

stellten Optionen des Handelns gegenüber "der Natur" um bestimmte Le­

bensverlängerungs- und Lebensverbesserungsmöglichkeiten erweitert und zwar speziell für das Handeln mit, den Bezug auf und die Behandlung von menschlichen Körpern.53 So ermöglicht die Herztransplantation ein Hinaus­

schieben des Todes, das mit herkömmlichen Mitteln der Medizin nicht zu be­

werkstelligen ist. Nierentransplantationen bilden eine Alternative zur Dialy­

sebehandlung, die für Nierenkranke mit meist viel gravierenderen Bela­

stungen, Risiken und Einschränkungen ihres Alltagslebens verbunden ist als eine Transplantation.54

52 Zur Erweiterung körperbezogener Handlungen durch "kleine technische Systeme" siehe Braun 1987 und Braun/Joerges 1990.

53 Mit dieser Formulierung soll betont werden, daß körperbezogenes Handeln und die dazu­

gehörigen Körperbilder lediglich einen Spezialfall des Handelns gegenüber der Natur und den dazugehörigen Naturvorstellungen darstellt. Technische Eingriffe in die Physiologie des Menschen weisen folglich eine Reihe struktureller Ähnlichkeiten mit technischen Eingriffen in seine Umwelt, das heißt in die sogenannten Ökosysteme auf.

5 4 Vgl. Muthny et al. 1990; Schuster/Schewe 1987; Böhlen/Lange 1987; und Lange 1988.

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-Die Inanspruchnahme und die Bereithaltung dieser medizinischen Optionen setzen eine Reihe neuartiger - auf den eigentlichen Transplanta­

tionsakt mehr oder weniger direkt bezogener - Formen des alltäglichen Kör­

perhandelns voraus. Dies betrifft zunächst den großen Problemkreis relevan­

ter Spendenpraktiken, das heißt:

- die meist unter aktuellem Situationsdruck zu treffende Entscheidung über eine Organspende, sei es nun, daß ein Organ aus dem eigenen Körper (Le­

bendspende) oder Organe aus dem Körper eines gerade verstorbenen Ver­

wandten in den Bereich transplantationsmedizinischen Begehrens gera­

ten;

- die unter starken moralischen und psychischen Belastungen stehende Entscheidung, durch die Lebendspende eines paarigen Organs aus dem eigenen Körper, einem persönlich Nahestehenden das Überleben zu er­

möglichen;

- die generelle, von einem aktuellen Anlaß unabhängige Entscheidung, sich einen Organspenderausweis zu beschaffen und damit eine Art voraus­

schauender Körperplanung zu betreiben, die bislang nur angesichts des nahestehenden Todes üblich war - etwa im Zusammenhang mit dem Auf­

setzen eines Testaments - und mit der absehbar jeder, gerade auch junge Menschen, konfrontiert sein werden;

- aber auch die zeitflexible Planung der Bestattung eines Verwandten, des­

sen zur Multi-Organentnahme freigegebener Leichnam unter Umständen eine Zeitlang konserviert werden muß.

Welchen Stellenwert alltagsweltliche Strukturen für die Transplantationsme­

dizin haben, wird vor allem an den Bemühungen zur Ausweitung des Spen­

derpaßwesens deutlich. Das Interesse der Transplantationsmediziner richtet sich dabei nämlich vor allem auf die "Nettoorganlieferanten", das heißt auf Bevölkerungsgruppen, aus deren Kreis bedingt durch ihr Alter, Lebens- und Sterbensstil mehr potentiell transplantierbare Organe geborgen als zur medi­

zinischen Versorgung gebraucht werden. Dazu gehören zuvorderst die Mo­

torradfahrer. Ihr Bundesverband konnte bereits als Mitglied des Arbeitskrei­

ses Organspende gewonnen werden.

Welchen Stellenwert umgekehrt die Transplantationsmedizin für das Alltagshandeln erhalten kann, zeigt die sogenannten Widerspruchslösung, die in vielen europäischen Ländern mittlerweile eingeführt ist. Mit ihr wird

der ubiquitäre Charakter des Spendenwesens rechtlich sanktioniert. Die Wi­

derspruchslösung basiert auf der für behördliche Lösungen typischen Um­

kehrung der Beweislast: Bei einem nicht vorliegenden Widerspruch gegen die Organentnahme wird von der Zustimmung des Betroffenen ausgegangen.

Ähnlich drängt auch der Aufbau von computerisierten Spenderregistern, in denen die Einwilligung und Verweigerung registriert ist, zu einer frühen - und "natürlich" jederzeit reversiblen - Entscheidung über den Umgang mit seinem/ihrem toten Körper.* 55 *

Das Transplantationswesen bietet darüber hinaus ein weites Feld für die Ausdifferenzierung neuer, hochspezialisierter Rollen- und Kompetenzan­

forderungen für die medizinische und mediziütechnische Behandlung des Körpers. Man denke hier an die organspezifischen Transplantationsteams oder an die jeweiligen spezialisierten Berufsrollen und Experten für die Todesdiagnostik, die ethikverträgliche Rezipientenselektion, die Immunsup­

pression und die postoperative Nachbehandlung, den umfangreichen labor- und informationstechnischen Hintergrund der Gewebetypisierung oder die Konservierung von Organen und Gewebeproben. Als prototypisch untypisch für den bisherigen Medizinbetrieb können vor allem folgende Anforderungen und Felder der im engen Sinne professionellen Körperbezüge gelten:

- die Fähigkeit zum sogenannten switch-around, der von den behandelnden Ärzten abverlangt, eben noch um das Leben des Patienten kämpfend beim sich abzeichnenden Tod des Patienten plötzlich umzuschalten, ihn nun­

mehr als potentiellen Organspender aufzufassen und entsprechende Schritte einzuleiten:

- die häufig zur Organkonservierung notwendige "Pflege toter Patienten", die dem Krankenhauspersonal abverlangt wird;55

55 Zur europäischen Praxis und Rechtslage des Organspendens vgl. Wolfslast 1989.

55 Die emotionale Problematik, him tote Patienten betreuen zu müssen, deren Körper Or­

gane entnommen werden sollen, veranschaulicht der Film "Ich pflege tote Patienten - Transplantationsmedizin am Scheideweg?" (Südwestfunk, 25. Juni 1989, 22.25 Uhr). Der Film zeigt, daß das ärztliche Personal durch entsprechende Erfahrungen im Anatomie - und Pathologieunterricht weit transplantationsgünstigere Habits als das Pflegepersonal verinnerlicht hat, und beispielsweise psychische Reizschutzschwellen im Umgang mit toten Körpern leichter erhöhen und ein eher distanziert sachliches Verhältnis zum Ge­

genstand der Arbeit einnehmen kann (vgl. dazu Helmers 1989: 65fl).

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-- das Fingerspitzengefühl des Arztes, der sich bei Verwandten eines Verstor­

benen um die Einwilligung in die Organentnahme bemüht.57

Es sei hier auch auf die postmortale Schönheitschirurgie hingewiesen, die vor allem nach der Entnahme mehrerer Organe mit Rücksicht auf Bestat­

tungsrituale durchgeführt wird. Zwar gehört die Leichenpräparation durch­

aus zum vertrauten Klinikalltag, vor dem Hintergrund der Spenden- und Spendeneinwilligsproblematik kommt ihr jedoch eine größere Bedeutung und spezielle symbolische Funktionen zu, unter anderem die einer Wieder- gutmachungs- oder Honorierungsgeste gegenüber den Verwandten, die in die Organspende eingewilligt haben. Im Spenden wie im Normalfall postmor­

taler Schönheitschirurgie handelt es sich um eine professionelle Antizipation möglicher pietätsbedingter Spendeneinwilligungs- oder Sektionsverweigerun­

gen. Die Vorstellung vom Schutz der Toten und der Unversehrtheit des Leichnams zwingt dazu, ein unversehrtes Erscheinungsbild der Leiche zu wahren.58

Untypische oder neuartige Körperpraktiken haben sich schließlich auch in bezug auf das Leben mit einem Transplantat herausgebildet. So ist das Leben mit einem Transplantat durch den krassen Gegensatz von aktuellem Wohlbefinden und latenter Abstoßungsgefahr geprägt. Patienten, die nach schwerer Krankheit oder langjähriger Dialyse ein Organ erhalten, fühlen sich oft wie neugeboren und können häufig einem weitgehend normalen Privat- und Arbeitsleben nachgehen. Beim gegenwärtigen Stand der Immunologie bleiben sie jedoch ein Leben lang Patient, was von ihnen ein hohes Maß an Risikobewußtsein und insbesondere den Aufbau von Lebensstrategien zur Abstoßungskrisenbewältigung abverlangt. Neben der dauerhaften Gefahr von Abstoßungskrisen rechtfertigen auch die Nebenwirkungen der Im­

munsuppression Ängste, die im Leben mit dem Transplantat bewältigt sein wollen. Zu der langen Liste unerwünschter Effekte einer auf Cyclosporin aufbauenden Immunsuppression gehören die Schädigung der Nieren und die Förderungen der Krebsbildung.

Die Herausbildung transplantatbewußter Lebensweisen läßt sich auch daran ablesen, daß mittlerweile regelmäßig "world transplantat games", also

57 Hierfür wurden bereits gezielte Strategien der Gesprächsführung entwickelt (vgl. Smit/- Scharek/Viebahn 1990).

58 Vgl. Helmers 1989: 85f.

Sportveranstaltungen für Transplantierte durchgeführt werden. Besonders drastische Veränderungen des Verhaltens gegenüber dem eigenen Körper zeigen sich bei Alkoholikern, die ihr Leben nur noch durch ein Transplantat retten können. Denn Alkoholismus gilt gemeinhin als Kontraindikation für Transplantationen.59 Insofern ist der radikale Bruch mit der alten Lebens­

weise für Alkoholiker nicht nur notwendig, um eine Transplantation und die mit ihr verbundene immunsuppressive Therapie zu überstehen, sondern be­

reits die Voraussetzung dafür, auf ein zweites Leben überhaupt hoffen zu dürfen. Transplantationsmediziner beeinflussen also - in diesem Fall über ihre Indikationsregeln - schon lange vor der Transplantation die Lebens­

weisen potentieller Rezipienten.

Dieser Einfluß äußert sich potentiell auch ln anderer - sicher nicht be­

absichtigter - Weise. Denn das Wissen über die Möglichkeiten der Trans­

plantationsmedizin könnte - was sich in den USA andeutet - generell das Verhalten und die Haltung gegenüber dem eigenen Körper beeinflussen und eine zunehmende Ersatzteilmentalität im alltäglichen Körperumgang begün­

stigen - ein von Kritikern seit langem befürchteter Nebeneffekt des steigen­

den Transplantationsbewußtseins der Bevölkerung.

Organverpflanzungen und Körpersymbolik

Mit dem Stichwort der Ersatzteilmentalität ist im Grunde schon die Ebene der im engen Sinne symbolischen Repräsentationen der Körperpraktiken an­

gesprochen, speziell die Deutungsmuster vom Tod, vom Leben, aber auch von der Qualität des Lebens und Sterbens. Die Ausweitung der Handlungs­

optionen, die Organtransplantionssysteme für die gesellschaftliche Körper­

praxis bieten, haben nun teils in Verlängerung, teils in Abgrenzung vom lau­

fenden Expertenstreit um sozialhygienisch saubere Todes-, Spenden- und Selektionskriterien auch in alltagsweltlichen Kontexten Resymbolisierungen des menschlichen Körpers angestoßen und so zur Relativierung gewohnter

59 "In patients with advanced alcoholism related cirrhosis who, despite abstinence for at least 6 month and adequate nutritional state, develop hepatic decompensation, trans­

plantation may be contemplated when all other means o f therapy have failed; relatively few patients however, fulfill these qualifications." (Braunwald et al. (ed) 1987: 1357)

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-Deutungen, zur Mobilisierung alter und zu deren Rekombination zu spezi­

fisch neuen Deutungsmustern beigetragen.

Die routinemäßige und gezielte Verknüpfung toter und lebender Körper verlangt eine entsprechende symbolische Verknüpfung von Tod und Leben, der es bislang nur in Extremsituationen bedurfte, etwa bei der Rettung der gebärenden Frau auf Kosten ihres Kindes oder umgekehrt. Hiervon betroffen sind unter anderem

- die einst unproblematische Vorstellung, daß das Leben mit der Geburt resp. der Zeugung beginnt und mit dem letzten Atemzug, dem letzten Herz­

schlag oder dem Erkalten des Körpers endet,

- die darin enthaltene Zeitordnung, nach der das Leben immer vor dem Tode steht,

- und die Vorstellung, daß das menschenwürdige Sterben wie das Leben an körperliche Integrität und Unversehrheit gebunden ist, ein Deutungsmu­

ster, das durch verschiedene Regeln der gebotenen Pietät, aber auch durch viele religiöse Motive wie etwa der "Vergänglichkeit des Fleisches"

oder des biblischen Verrottungsimperativs "Asche zu Asche" gestützt wird.60

Nicht nur für die unmittelbar Beteiligten und Betroffenen läßt sich das Transplantationsgeschehen kaum mehr durch Rückgriff auf solche Vorstel­

lungen mit Sinn ausstatten. Eher wird schon der Transplanteur zur Hebam­

me des Transplantierten, zeugt das Organ des Toten neue Lebenskraft. An­

gesichts des auf die Organentnahme wartenden "Schon-Toten", der apparativ unterstützt atmet, dessen Herz schlägt und dessen warmer, durchbluteter Körper sogar noch Reflexe zeigt, vermitteln vertraute Vorstellungen vom Tod und Leben mehr Hilflosigkeit als Sinn. In diesem Sinn bietet die Transplan­

tationsmedizin vielfältige Anläße, traditionelle Todes- und Lebensvorstellun­

gen zu aktivieren, sie aus der häufig vollzogenen Verdrängung ins Bewußt­

sein zurückzuholen, sie dann mit zeitgemäßeren und vor allem transplanta­

tionsgerechteren Semantiken zu mischen und erneut zu verdrängen.

So berührt jede Transplantation die Ansprüche auf körperliche Integri­

tät, sie verletzt gängige Körpersymboliken, was naturgemäß auf der Seite des

6 0 Andererseits ist, worauf auch von medizinischer Seite her gern hingewiesen wird, die christliche Auferstehungshoffnung nicht an die Vollständigkeit des Körpers gebunden (vgl. Salomon 1989: 42).

Spenders und/oder seiner Verwandten mehr ins Gewicht fällt als auf der des Transplantierten. Auch kulturelle Körperbilder nicht-holistischer Art, Vor­

stellungen also über den Sitz der Seele, der Vernunft oder der Persönlichkeit in einem bestimmten Körperteil, sind davon betroffen, zumal die Trans­

plantationschirurgie zwischenzeitlich auch zum äußerst identitätskritischen Gehirnorgan vorgedrungen ist.

Während durch den Aufbau und die Erweiterung von Organtransplan­

tationssystemen eine Reihe wohletablierter Körpersymboliken an Orientie­

rungskraft einbüßen und die mehr oder weniger universellen Geltungsan­

sprüche, die bislang mit ihnen verbunden waren, relativiert werden dürften, könnten bislang eher randständige oder aus der Mode gekommene Symbol­

kontexte von der Entwicklung profitieren. Die öffentliche Diskussion über die Kommerzialisierung des Spendenwesens und die Sozialpflichtigkeit des Leichnams hat beispielsweise den Topos des Altruismus remobilisiert, eine in der Liebe und anderen gesellschaftlichen Mikrobereichen nachgerade proto- typische Motivlage sozialen Handelns, die jedoch auf den makrostrukturellen Ebenen moderner Industriegesellschaften eigentümlich fehl am Platze scheint. Auch die großen Kirchen, nach wie vor Monopolisten des Deutungs­

und rituellen Managements der Grenzen des Lebens, haben ihre anfängli­

chen Widerstände gegen Organverpflanzungen aufgegeben.61 Die Organ­

spende wird nun als handgreiflicher Akt christlicher Nächstenliebe deutbar,62 ihre Ablehnung gerät dadurch in die Nähe der unterlassenen Hilfeleistung, wenn auch nicht im juristischen, so doch im moralischen Sinne.63

Der Aufbau und Betrieb der Organtransplan tationssysteme hat darüber hinaus zur Renaissance alter, ehemals mächtiger Wiederauferstehungs-, Reinkarnations- und KannibalismusvorStellungen beigetragen - Deutungsmu­

ster, die in den westlichen Industrieländern in der einen oder anderen Form im religiösen Leben (Osterfest, Abendmahl, Hostienkult), aber auch im tra­

61 Die beiden Kirchen hatten sich 1989 mit der Erklärung "Gott ist ein Freund des Lebens"

zur Organtransplantation geäußert. In einer (im September 1990) abgegebenen ge­

meinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bekräftigten sie die bereits seit langem konstatierte Vereinbarkeit von Pietät und Organspende (vgl. den Artikel "Handel ..." sowie Deutsche Bischofskonferenz 1990 und Viefhues 1989).

62 Ein katholischer Moraltheologe fand dafür folgende Fonnulierung: "Hier muß die Pietät gegenüber einem Toten der Pflicht der Rettung eines Mitmenschen weichen. Das Gegen­

teil erscheint als Pervertierung echter Mitmenschlichkeit ." (Böckle 1984: 26) 63 Vgl. Schreiber 1989: 45.

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-dierten Märchengut (Hänsel und Gretel) und anderen populären fiction-gen­

res, ja sogar in der Alltagssprache (sich zum Fressen gern haben) lebendig geblieben sind. Die vom Transplantationsgeschehen aktivierten Semantiken stehen dabei in durchaus widersprüchlicher Beziehung zu den funktionalen und legitimatorischen Erfordernissen des Systems.

Als eher legitimationsschädigend ist die Renaissance der traditionell ne­

gativ besetzten Kannibalismusvorstellungen einzustufen, wobei die psycho­

analytische Deutung nicht ausschließt, daß sich hinter ihnen vielleicht der archaische Wunsch nach Einverleibung verbirgt.64 Im Alltagsbewußtsein dürften ihre historisch-anthropologischen Dimensionen im Vordergrund ste­

hen: der Verzehr des Toten zum eigenen Überleben und zur Aneignung der Kraft des Verzehrten.65 In diesem Sinn bieten sich Kanibalismussemantiken als eine Folie der latenten Angst an, selbst zum Einverleibten zu werden.66 Entsprechend dienen sie bevorzugt zur Markierung der kriminellen Ränder des Organtransplantationsystems.

Die Reinkarnationssemantik, die spiegelbildlich zum persönlichkeits­

übergreifenden Transfer körperlicher Fähigkeiten den körperübergreifenden Persönlichkeitstransfer abbildet, dient hingegen eher zur positiven Sinnaus­

stattung des Transplantationsgeschehens. Zum einen ist sie mit nicht-line- aren, zyklischen Kosmologien - meist fernöstlicher Provenienz - konnotiert.

Zum anderen enthält sie - analog zur medizin-rechtlichen Symmetrisierung der Todes- und Lebensdefinition - eine weitgehend symmetrische Anordnung von Leben und Tod. Sie kann daher insbesondere als sinnvermittelnde Brücke für Verwandte eines gerade Verstorbenen fungieren, die aufgefordert werden, in eine Organentnahme einzuwilligen.

Darüberhinaus können Reinkarnationssemantiken auch sinnstiftende Funktionen im Kontext der organprotektiven Therapie übernehmen. So sind Transplantationsmediziner daran interessiert, bei den Schwestern und bei den Pflegekräften, die durch eine intensivtherapeutische Behandlung

hirnto-64 Psychoanalytische Deutungen des Kannibalismus konzentrieren sich inzwischen vor al­

lem auf die oralen Objektbeziehungen in der Mutter-Klnd-Dyade, also auf frühkindliche Erlebnisformen der Verinnerlichung des libidinös besetzten Anderen, und auf die damit verbundenen Machtphantasien, Verlustängste, Gewissensbisse, Wiedergutmachungs­

sehnsüchte (vgl. Klein 1972: 69ff).

6 5 Vgl. Attali 1981: 21-41.

66 Wobei allerdings in psychoanalytischer Perspektive die Angst vor dem Einverleibtwerden nicht unbedingt eine uneingestandene Lust daran ausschließt.

ter Patienten besonderen Belastungen ausgesetzt sind, eine Perspektiven­

verschiebung im Verhältnis zu der Person herzustellen, die sie wirklich be­

treuen. Adressat der Fürsorge ist demnach nicht mehr die Person des Or­

ganspenders, dessen Körperfunktionen bis zur Explantation aufrechterhal­

ten werden muß, sondern die Person des Organempfängers.67 Der den Ärz­

ten und dem Pflegepersonal abverlangte Switch-around von der Lebensret­

tung zur Organerhaltung findet mit dieser zweiten Drehung wieder zurück zu seinem Ausgangspunkt, der Lebensrettung. Gegenstand des Rettungs­

handelns ist ein dem medizinischen Personal in der Regel unbekanntes Subjekt.68

Von der Entwicklung der Transplantationsmedizin haben auch ar­

chaische Gerechtigkeitsvorstellungen des biblischen "Auge um Auge, Zahn um Zahn" profitiert. Prosaischer ausgedrückt, handelt es dabei um natural­

tauschbezogene Symmetrien von "Geben und Nehmen" - symbolische Hand­

lungsregulative, die zwischen den formalen, harten Austauschmechanismen ökonomischer oder rechtlicher Prägung und ihren emotionalen, weichen Spielarten wie der Nächstenliebe oder des Altruismus anzusiedeln sind.69

Die Symmetrievorstellung vom Geben und Nehmen ist daher vor allem auf den Zirkulationsebenen des Organtransplantationssystems relevant: bei­

spielsweise im internationalen Organaustausch mit arabischen Ländern, die

67 "Eine Intensivbehandlung potentieller Organspender versucht das Kreislaufversagen zu vermeiden, um über eine Organspende das Überleben der Transplantatempfänger zu er­

möglichen. Damit zeigt sich das große Problem, aber auch die Chance der Intensivthe­

rapie potentieller Organspender als eine vorweggenommene Intensivtherapie des Emp­

fängers. Ärzte und Pflegepersonal übernehmen bei der Behandlung him toter potentieller Organspender Verantwortung für die wartenden Organempfänger ..." (Klöss/Fretschner/- Baumann 1990)

68 In diesem Fall unterliegt allerdings auch die Reinkarnalionssemantik einer Bedeutungs­

verschiebung, die wegführt von der traditionellen Vorstellung des körperübergreifenden Persönlichkeitstransfers. Lediglich das Organ des toten Spenders findet im Empfänger einen Ort des Überlebens, nicht jedoch der Tote als Person.

69 Indem wir (Nächsten-)Liebe und Altruismus als weiche Spielarten des Tausches bezeich­

nen, soll betont werden, daß der Altruismus wie die Liebe letztlich auf die Wechselseitig­

keit von Verhaltenserwartungen angewiesen bleibt. Die Reziprozitätsanforderungen der Liebe können durchaus harte Zwänge etablieren - jeder, der einmal unglücklich verliebt war, wird dies bestätigen. In diesem Sinne schlägt Dr. Brigitte Tannenbaum, Oberärztin der Neurochirugie vom "Krankenhaus der Barmherzigen Brüder" in Regensburg vor, die Organspende nicht nur als puren Akt der Mitmenschlichkeit, sondern immer auch als eine Art Versicherung auf Gegenseitigkeit zu begreifen: "Mit dem Kreis derer, die sich im Todesfall zur Organspende bereit erklären, wächst für jeden die Chance, daß ihm gehol­

fen werden kann, wenn er plötzlich für sich oder seine Angehörigen auf ein Transplantat angewiesen ist." (Tod und neues Leben 1990: 127)

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-zwar Implantationen zulassen, nicht jedoch Organspenden, aber auch im Organaustausch zwischen verschiedenen Regionen und Transplanta­

tionszentren.70 Denkbar wäre, daß dieses Prinzip letztlich auch auf der Ebe­

ne der einzelnen Patienten größere Bedeutung erhält. Und zwar dann, wenn die persönliche Spendenbereitschaft und die Chancen, im Notfall selbst ein Organ zu erhalten, voneinander abhängig gemacht werden.

SchlieJ31ich sind mit der Transplantationsmedizin auch vergleichsweise neue Formen der körperbezogenen Identität entstanden. In erster Linie be­

trifft dies die Verfremdungseffekte, die durch die Explantation für die Identi­

tät des Spenders und durch die Implantation für die des Rezipienten auftre- ten. Die Implantation und das Leben mit einem fremden Organ erzeugen - als Ausdruck der Verfremdung des eigenen Körpers und zugleich als Ver­

such des Transplantierten, dem entgegenzuwirken - das verständliche Be­

such des Transplantierten, dem entgegenzuwirken - das verständliche Be­