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Allgemeinmedizin ist Familienmedizin

Ein methodischer und kasuistischer Beitrag zu einem hausärztlichen Essential

Hagen Sandholzer Abt. Allgemeinmedizin der Universität Göttingen Manfred Cierpka

Schwerpunkt Familientherapie

INHALT

»Familienmedizin« wurde wiederholt von der Deutschen Gesellschaft für All­

gemeinmedizin (DEGAM) als Teil der Allgemeinmedizin definiert, doch es feh­

len Konzepte und Aktivitäten, die dieses Aufgabenfeld transparent machen. Wir beschreiben eine Methodikzur Reflexion der triangulären Arzt-Patient-Fa- milie-Beziehung, die wir seit über 3 Jahren in der allgemeinmedizinischen Aus-, Weiter-, und Fortbildung sowie in der Qualitätszirkelarbeit anwenden. In der »Familienmedizinischen Fallkonferenz« werden Behandlungsfälle aus der All­

gemeinpraxis vorgestellt und besprochen, Genogramme dienen als metho­

disches Hilfsmittel. Eine vordergründig banale Beratungsursache kann sich un­

ter der familienmedizinischen Lupe als komplex gelagertes Problem erweisen, das professioneller hausarztspezifischer Interventionen bedarf.

»Family may be suffering from neglect in the scientific literature and the class­

room, but it is alive and well in the clini­

cal practice. ... If you care for patients, you will end up caringfor families. Ask any bu­

sy practitioner« (9).

Die DEGAM definierte Familien­

medizin als Teil der Allgemeinmedi­

zin. Sie umfaßt die hausärztliche und gesundheitliche Betreuung von Fa­

milien oder familienähnlichen Grup­

pen in somatischer, psychischer und sozialer Hinsicht.

Im Unterschied zur Familienthera­

pie widmet sich die Familienmedizin einer breiteren, um somatische und sozialmedizinische Elemente erwei­

terten Aufgabe (Abb. 1). Nachfolgend wird ein Seminarkonzept vor­

gestellt, das in fünf Schritte geglie­

dert ist (Kasten 1)

Patient

Familie Soziales

Allgemeinmedizin

»Familiy Medicine«

Familientherapie Psychotherapie

Abbildung 1: Die biopsychosoziale Basis der Famili­

enmedizin

Methodik

Problembeschreibung und Brain­

storming. Der Moderator stellt die Eingangsffage, wer einen Fall vor­

stellen möchte. Anlaß zur Vorstel­

lung sind psychosoziale Schwierig­

keiten der Patientin/des Patienten selbst, oder Schwierigkeiten mit den Angehörigen. Es folgt die freie Pro­

blembeschreibung durch den behan­

delnden Arzt, wonach Raum für In­

formationsfragen und freie Einfälle gegeben wird (Technik der »freien As­

soziation«).

Hypothesenbildung anhand des Ge- nogramms. Das Zeichnen eines Ge- nogramms fördert das Verständnis des Patienten und seiner Angehöri­

gen. Der aus der Humangenetik be­

kannte »Stammbaum« dient inner­

halb der Familienmedizin zur Ver­

anschaulichung selbst komplizierte­

ster familiärer Beziehungen (Abb. 2).

Durch diese in Minuten zu erlernen­

de Technik lassen sich weitreichen­

de Informationen (Kasten 2} zum Er­

stellen von beziehungsdynamischen Hypothesen gewinnen. Im nächsten Schritt wird der Arzt in das »erwei­

terte Genogramm« eingezeichnet, so erhält man ein umfassendes Bild

vom therapeutischen Patient-Arzt- Familien(P-A-F)-System (Kasten 3).

Verortung des Arztes im Ceno- gramm. Der berichterstattende Arzt wird gefragt; »Wo würden Sie sich im Genogramm selbst einzeichnen?«

Hierdurch wird ein Verständnis der eigenen Rolle im »Therapeutischen Dreieck« (P-A-F) offensichtlich (Kasten 3). Die Eintragung erfolgt je nach den systemischen Kräften der verschiede­

nen Personen bzw. Subgruppen, von denen er sich angezogen oder abge­

stoßen fühlt.

1 Die Methodik der »Familien­

medizinischen Fallkonferenz«

i 1. Schritt: Problembeschreibung und i Brainstorming

1 2. Schritt: Hypothesenbildung anhand

; desCenogramms

3. Schritt: Verortung des Arztes im Ge­

nogramm

4. Schritt: Überlegungen zur Interventi-

; on des Arztes

; 5. Schritt: Abstraktion des Patientenbei- : spiels zu verallgemeinerungsfähigen I Handlungsleitlinien.

Überlegungen zur Intervention des Arztes. Mögliche Formulierungen für Interventionen werden in der Grup­

pe besprochen. Grundsätzlich kann jedes Mitglied des »triangulären« P-A- F-Systems die Beziehung der beiden anderen Elemente beeinflussen (Ka­

sten 4). Geplante und professionelle Interventionen des Arztes sind not­

wendig, um nicht nur zu »reagieren«, sondern bewußt zu Verbesserungen in der Beziehung zwischen Patient und Familie beizutragen. Im einfach­

sten Fall können beispielsweise die Angehörigen vom Arzt über die

Z. Allg. Med. 1996; 72:1016-1022. © Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart 1996

1017

ZII^^ Fortbildung

FAMILIENMEDIZIN

Krankheit des Patienten und deren Auswirkungen informiert werden, so daß sich ihre Einstellung und/oder ihr Verhalten gegenüber dem Patien­

ten verändert; in einer Beratung mit dem Paar können Partnerschaftspro­

bleme angesprochen werden. Nicht selten reicht die ärztliche Erkenntnis der familiären Situation zu einer weitreichenden Entlastung des Pa­

tienten aus. Ein aufgrund eines tie­

fergehenden Verständnisses der indi­

viduellen Familiengeschichte geäu­

ßerter Satz wie: »Es ist ungemein schwierig, ein guter Vater zu sein«, oder »Die Maria war wahrscheinlich immer schon ein harter Brocken«

kann das Zauberwort zur Auflösung einer zunehmend unzufrieden erleb­

ten Arzt-Patienten-Beziehung wer­

den und dem Patienten neues »Selbst­

bewußtsein« im Umgang mit seiner Familie eröffnen.

Die Einbeziehung der Familie kann eine wichtige Intervention sein, die erst ermöglicht werden muß: Der Patient muß dann selbst ein Interesse an Verbesserungen in der Beziehung zwischen Angehöri­

gen und Arzt entwickeln. Wenn z.B.

ein Patient die Schuld für seine Be­

schwerden ganz der Ehefrau zu­

schreibt und dem Arzt untersagt, mit ihr über diese Probleme zu sprechen, ist ein gemeinsames Gespräch im Beisein des Arztes die wichtigste Vor­

bedingung. Seltener kann sich auch die Notwendigkeit ergeben, die Fa­

milienanamnese in konkreten Punk­

ten zu vertiefen.

Im Rahmen des akademischen Un­

terrichts sind die Studierenden in

er-Symptoma

Abbildung 2: Cenogramm der Familie K.

2 Was kann man aus einem Geno- gramm ablesen?

■ Den unmittelbaren soziodemogra- phischen und strukturellen familien­

medizinischen Kontext des Patien­

ten (z.B. Familienstand, Familien­

zyklus, Geschwisterreihenfolge etc.);

■ die Quantität des familiären Netz­

werks, z.B. wer mit dem Kranken im Haushalt lebt, welche potentiellen fa­

miliären Ressourcen außerhalb des Haushalts bestehen;

■ die Qualität des familiären Netz­

werks, z.B. wer mit dem Kranken en­

ge unterstützende Beziehungen un­

terhält, die bei der Krankheitsvorbeu­

gung, -bewältigung und -erholung genutzt werden können;

■ wo Konflikte bestehen, bzw. wo psy­

chosozialer Streß allein schon auf­

grund der familiären Konstellation (z.B. kleine Kinder in enger Reihenfol­

ge) oder Lebensereignisse zu erwar­

ten ist;

■ wo Cesundheitsverhalten oder

Krankheitsdispositionen über Gene­

rationen hinweg tradiert wurden (z.B. die stets kränkelnde, abererst in hohem Alter verstorbene Großmut­

ter, bei der eine vorgestellte, somati- sierende Patientin aufwuchs).

Ster Linie gefragt, Vorschläge zu er­

arbeiten. Die anschließende Grup­

pendiskussion führt auch zu einem besseren Verständnis auf seiten des berichtenden Hausarztes. Dadurch werden entscheidende familien­

medizinische Daten beim bericht­

erstattenden Arztes mobilisiert. Die­

se positiven Auswirkungen der fami­

lienmedizinischen Fallkonferenz auf die Patientenversorgung werden da­

her auch für die Qualitätssicherung genutzt.

Vom Patientenbeispiel zu Hand­

lungsleitlinien. In der Schlußphase wird versucht, das ärztliche Vorgehen zu verallgemeinern und Bezüge zur Theorie der Familienmedizin zusam­

menzufassen. Indikations- und Pro­

zeßüberlegungen zu Einzel-, Paar- und Familiengesprächen werden in der Gruppe diskutiert. Ein Konferenz­

protokoll dient bei der nächsten Sit­

zung als Rahmen und Gedächtnisstüt­

ze, wenn Folgeberatungen und Ver­

läufe bereits vorgestellter Patienten diskutiert werden.

Kasuistik

Problembeschreibung und Brain­

storming. Für den Kollegen stellt sich das Beziehungsproblem der Patien­

tin (siehe Kasten 5) so dar; Eine stets besorgte, ganz auf ihren Ehemann bezogene Ehefrau, die sich all die Jah­

re für ihren hypochondrischen Part­

ner verbrauchte, hatte nun plötzlich selbst einen lebensbedrohlichen Herzinfarkt, den sie selbst gar nicht ernst nehmen konnte.

In der Fallkonferenz wird zunächst vermutet, daß sich die aktive Frau durch ihren kränkelnden Mann mög­

licherweise seit Jahren einge­

schränkt fühlte. Kurz vor dem Auf­

bruch zum Kurort empfand sie die Einschränkungen durch die erneu­

ten Beschwerden ihres Mannes, das unklare Erbrechen und dessen Angst vor dem Weggehen von zu Hause in besonderem Maße. Sie hhi

mußte sich eigentlich sehr angebunden und von ihrem Mann abhän­

gig fühlen. Ihre Wut über diese Abhängigkeit konnte sie jedoch nicht

äußern, weil sie den »kranken« Mann schonen mußte und ihre Sorge um sich selbst zurückstellte.

Verschiede-3 Informationen im erweiterten Cenogramm

■ Familienstruktur: Familienstand der einzelnen Mitglieder

■ Familiensoziodemographie: Alter, Geschlecht, Schulbildung, Beruf

■ Familiäre Lebensereignisse; Gebur­

ten, Tod, Heirat

■ Familiengesundheit: Gesundheits­

verhalten, Krankheiten einzelner Fa­

milienmitglieder, Krankheitsdisposi­

tionen und psychosoziale Probleme im Generationenbezug

■ Familiäre Beziehungen und ihre Qua­

lität (z.B. konflikthafte, enge Bezie­

hungen)

i ■ Wohngemeinschaft(en) bzw. Ab­

grenzung von Haushalten

i ■ Anstehende oder abgelaufene Ver­

änderungen der Familiensituation, z.B. Umzug, Verlassen des Haushaltes I ■ Position des Hausarztes relativ zu an­

deren Familienmitgliedern.

Herzinfarkt - ausgelöst durch Aufregung und Wut

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Fortbildung

FAMILIENMEDIZIN

ne Teilnehmer der Gruppe äußerten die H5fpothese, daß möglicherweise die Aufregung und die unterdrückte Wut von Frau K. den Herzinfarkt aus­

löste. Auch das scheinbare Erbrechen des Ehemannes könnte als aggressi­

ve Verhaltensweise zu interpretieren sein. Man könnte sagen »es bricht aus ihm heraus«, »er kotzt seiner Frau was hin«.

Hypothesenbildung anhand des Ge- nogramms. Die bisherige Fallschil­

derung ermöglichte die Zeichnung eines klaren, wenig aufwendigen Ge- nogramms (Abb. 2).

Die eheliche Beziehung erschien der Gruppe wie eine Mutter-Kind-Be- ziehung, in der Mutter und Kind im Autonomie-/Abhängigkeitskonflikt verstrickt sind. Auffällig ist, daß der Vollzug des »leeren Nestes« noch nicht erfolgt ist, da ein 27jähriger Sohn noch zu Hause wohnt, ln der Gruppe wird darauf problematisiert, welchen Einfluß der Wegzug des äl­

teren Sohnes bzw. das anstehende

»Verlassen« des elterlichen Haushal­

tes des verbleibenden jüngeren Kin­

des auf die Bindungskräfte im Sy­

stem »Familie« gezeigt hat.

Verortung des Arztes im Ceno- gramm. Der behandelnde Allgemein­

arzt zeichnet sich ohne Zögern ge­

nau in die Mitte über das Paar in das

Genogramm ein. Die Beschwerden des Ehemannes sind das dritte »neu­

trale Element«; ein Gesprächsthema, das die beiden Eheleute miteinander verbindet, jedoch eine partnerschaft­

liche, sexuell getönte Beziehung nicht aufkommen läßt. Die Be­

schwerden dienen gleichzeitig auch als Feld, um mit dem Arzt in Kom­

munikation zu treten, der wiederum diese »psychosomatische Kollusion«

durch seine Hilfestellung stabilisie­

ren kann.

Überlegungen zur Intervention des Arztes, ln der Gruppe wird nun dis­

kutiert, welche Ansatzpunkte für ei­

ne Verbesserung der Familien­

gesundheit im konkreten Fall sinn­

voll und machbar sein können. Da sich die Frau unbewußt wegen ihrer Befreiungsbestrebungen offenbar schuldig fühlt, wird sie sich vom Arzt Entlastung erhoffen. »Eigentlich muß sie manchmal denken, daß sie ihren Ehemann am liebsten loswer­

den möchte«, meinte ein Studieren­

der. Der Arzt sollte ihre Phantasien nicht aussprechen, weil er ihnen auch keine »Absolution« verschaffen kann. Als 7\rzt muß er sich um die Be­

schwerden von beiden kümmern, zu­

mindest bis er den ehelichen Bezie­

hungskonflikt thematisiert. Der Pa­

tientin könnte die Wichtigkeit der ei­

genen Gesundheit und eigener

Akti-männllch Weiblich

16-60

Mann, geboren 1916, gestorben 1960

H 82 S 93

Paar; Heirat 1982 Scheidung 1993

ipi H 1960^^

66

Verheiratetes Paar (Heirat 1960)

60

P w

86 88

Paar, verheiratet 2 Söhne, Frau in I.Ehe kinderlos Eltern

Kinder

86 88

/V\

enge, veschmolzene Beziehung

distanzierte, lockere Beziehung konfliktreiche Beziehung

Abbildung 3: Genogrammelemente

4 Interaktionen im Patient-Arzt- Familie-(PAF)System

1. Vom Arzt ausgehend (A-^P->F)

Der Hausarzt bittet seine Patientin Erna, ihren 38jährigen Ehemann Hans für ei­

nen »Check-up« zu motivieren, weil in seiner Familie Diabetes gehäuft auftritt und im Dorferzähltwird, daß er ständig

»verpinkelt« sei und zunehmend »saufe«.

Erna meint daraufhin nachdenklich, daß sie sich um die Gesundheit ihres Mannes in der letzten Zeit zuwenig gesorgt ha­

be und bestimmt mit ihm sprechen wer­

de. Vielleicht trage er auch ein Problem mit sich herum.

2. Vom Patienten ausgehend (P^A^F)

Die 28jährige Heidemarie bittet ihren Hausarzt, etwas zu unternehmen, daß ihr Ehemann während des laufenden Scheidungsverfahrens nicht mehr den gemeinsamen zweijährigen Sohn besu­

chen dürfte. Vielleicht könne er eine Be­

scheinigung ausstellen oder dem Vater persönlich klarmachen, daß solche Be­

suche die Gesundheit ihres Sohnes ge­

fährden würden.

3. Von Familienangehörigen aus­

gehend (F->A^P)

Eine Nichte der 92jährigen Else ruft ih­

ren Hausarzt in der Praxis an und bittet ihn, eine Entmündigung einzuleiten und Else in ein Heim zu bringen. Sie befürch­

te sonst eine Überanstrengung ihrer ei­

genen 89jährigen Mutter, die mit Else und zwei weiteren Geschwistern im ei­

genen Haushalt lebt.

vitäten nähergebracht werden (»da­

durch wird auch das Sorgen für den anderen wieder gewährleistet!«).

Verallgemeinerungsfähige Hand­

lungsleitlinien. ln der Fallkonferenz wird dann - über die eigentliche Ka­

suistik hinaus - besprochen, wie sol­

che auf Schmerzen und Beschwer­

den konzentrierten Partnerschaften entlastet werden können. Konkreter stellte sich für die Kolleginnen und Kollegen die Frage, wie der »Sorgege­

ber« (hier die Ehefrau) entlastet wer­

den kann. Ein Satz wie »Gönnen Sie sich doch auch mal was selbst« wird von den Gruppenmitgliedern als sehr wichtig erachtet. Grundsätzlich scheint der Partner bei KHK- Kranken die körperlichen Beschwerden zu

ha-i Irtischocken-Exlrakl