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1. EINLEITUNG

2.1 Allgemeines zur Verdauungsstrategie der Wiederkäuer

Evolu-tion als sehr erfolgreich erwiesen. Vertreter der drei wichtigsten Familien Bovidae (z.

B. Rind, Schaf, Ziege, Antilopen) Cervidae (z. B. Reh, Elch) und Giraffidae (z. B. Gi-raffe, Okapi), besiedeln heute mit insgesamt 158 Spezies nahezu alle Klimazonen der Erde (KASKE 2002).

Die Phylogenese der Ruminantia ist verbunden mit der Entwicklung einer be-sonders effizienten Nutzung von Gräsern als Futtergrundlage. Gräser sind auf-grund des hohen Anteils an Gerüstsubstanzen (u. a. Cellulose, Hemicellulose und Lignin) und des häufig auch niedrigen Proteingehalts qualitativ minderwerti-ges Futter, an dessen effektive Nutzung sich Wiederkäuer im Laufe der Evoluti-on adaptiert haben. Der biologische Vorteil des Verdauungssystems der Wieder-käuer mit Vorverlagerung der bakteriellen Fermentation in den Vorderdarmbe-reich bei zunehmender Anpassung an faserVorderdarmbe-reiche Nahrung liegt vor allem

• in der relativ hohen Verdaulichkeit von pflanzlichen Zellwandbestandtei-len,

• der möglichen Nutzung des im Vormagensystem gebildeten Mikroben-proteins im Dünndarm,

• der Rezirkulation von Harnstoff als Endprodukt des Eiweißstoffwechsels in das Retikulorumen, wo dieser erneut nach Spaltung durch bakterielle U-rease als Stickstoffquelle zur Synthese von Mikrobenprotein genutzt wer-den kann (HOFMANN 1995).

Die Überlegenheit der Wiederkäuer bei der Nutzung von zellulosereichem Futter ver-glichen mit monogastrischen Herbivoren ergibt sich insbesondere aus der langen Verweilzeit der Ingesta im Vormagensystem. Wiederkäuer können so den Nachteil des langsamen Abbaus der Zellwandbestandteile weitgehend kompensieren (KASKE 1996).

Nach vergleichenden Untersuchungen an 76 der weltweit ca. 150 rezenten Wieder-käuerarten und aufgrund von Nahrungswahlkriterien morphophysiologischen Schwerpunkten und 39 morphologischen Merkmalsgruppen am gesamten Verdau-ungsapparat (HOFMANN 1989, 1992) werden die Wiederkäuer nach ihrem evolutio-nären Entwicklungsgrad in drei sich überlappende Ernährungstypen eingeteilt (Abb.

1):

• Konzentrat-Selektierer (KS; 40 % aller rezenten Wiederkäuerarten); diese entwickelten sich bereits vor der Ausbreitung der Gräser im Miozän und selek-tieren besonders nährstoffreiche, leichtverdauliche Pflanzen bzw. Pflanzentei-le; cellulosereiche Pflanzen werden gemieden;

• Gras- und Rauhfutterfresser (GR; 25 % aller Wiederkäuerarten), insbesondere Bovini, die überwiegend monokotyledone Pflanzen nichtselektiv aufnehmen und deren Zellwand vor allen im voluminösen Vormagensystem mikrobiell fermentativ aufschließen,

• Intermediärtypen (IM; 35 % aller Wiederkäuerarten), die als opportunistische Gruppe sich je nach Qualität und Verfügbarkeit der Nahrungspflanzen dem KS- oder GR-Typ annähern (regional oder saisonal), stets aber eine mono- und dikotyledone Mischnahrung aufnehmen und dabei faserreiche Teile stär-ker meiden als GR.

Bei den Hauswiederkäuern gehört die Ziege zum IM-Typ mit jahreszeitlicher Tendenz zum KS, das Schaf ist ein selektiver GR und das Rind ein nicht-selektiver GR. Aus der Gruppe der KS wurde das Rentier teildomestiziert.

Abb. 1: Die europäischen Wiederkäuerarten und ihre Stellung im System der Er-nährungstypen. Von links: Reh, Elch, Ziege, Gemse, Rothirsch, Stein-bock, Damhirsch, Wisent, Mufflon, Hausschaf, Rind, Auerochse (HOF-MANN 1988)

Insbesondere bei KS- und IM-Spezies werden offenbar in der Mundhöhle beim Kauen des Futters Nährstoffe gelöst, die über die lebenslang voll funktionsfähige Magenrinne (Sulcus ventriculi) unter Umgehung des Vergärungssystems in den Labmagen abgeleitet werden; dazu scheint ein reflektorischer Schluss der Rin-nenlippen nicht erforderlich zu sein (HOFMANN 1995). Außerdem können wech-selnde Mengen besonders von Hemicellulose-Blattgerüsten der Pansenvergärung entgehen („ruminal escape"; ULYATT et al. 1975), um im Dickdarm aufgeschlossen zu werden; dies gilt wiederum insbesondere für die KS und IM.

Morphophysiologie des Kopfabschnitts des Verdauungssystems

Die prehensilen Organe der Wiederkäuer sind Lippen, Zunge, Unterkiefer-Schneidezähne und Dentalplatte. Ihr unterschiedlicher Gebrauch hängt von Form und Breite der Schnauze bzw. des Schneidezahnbogens, von der Beweglichkeit der

Lippen, der Größe der Mundspalte und der Länge des freien Teils der Zunge ab. So erfolgt die Futteraufnahme bei Rinder mit dem typischen breiten Flotzmaul völlig an-ders als bei Schafen oder Gazellen, die ein schmales Rostrum besitzen und besser selektiv Pflanzen bzw. Pflanzenteile aufnehmen können. Eine besondere Beweglich-keit der Lippen ist typisch für den selektiv fressenden Elch, während Giraffe, Okapi oder Gerenuk als primäre zungenselektiverer gelten. Die Incisivi der „pflückenden"

KS/IM sind schmal und meißelförmig, die der weidenden GR (und IM) breit-schaufelförmig (HOFMANN 1995).

Der harte Gaumen ist mit dem Zungenrücken (v. a. dem wiederkäuertypischen Wulst/Torus) für den Abtransport aufgenommener Pflanzenteile zuständig. Er ist je nach Ernährungstyp unterschiedlich gestaltet - eine starke Papillierung der Gaumen-staffeln und eine relativ kurze Dentalplatte gehören stets zu einem blätterfressenden KS, eine starke Verhornung von Gaumen- und Zungenschleimhaut zeichnet die GR aus. Das Muster der Zungenpapillen ist nahezu artspezifisch (stets gröber bei den GR). Die grasfressenden Wiederkäuer-Arten besitzen erheblich mehr Geschmacks-rezeptoren (v. a. in den umwallten Papillen am Zungengrund) als die KS, die primär aufgrund olfaktorischer Reize selektieren (HOFMANN 1995).

Der gesamte Kauapparat der KS und IM ist stärker strukturiert und offenbar primär zum Quetschen und nicht zum Zermahlen der Nahrung angelegt: die Unterkieferäste sind schmal mit ausgeprägtem Winkelfortsatz, sie ermöglichen damit dem kompakt gebündelten M. masseter nur eine kleine Ansatzfläche; mit den synergistisch wirken-den M. pterygoideus und M. temporalis wirkt dieser auf saftige Blätter und Früchte vertikal effektiver auf die Backenzähne ein als der stärker seitwärts mahlende Kau-apparat der GR. Dieser stützt sich auf einen massigeren Unterkiefer mit großen An-satzflächen; der Masseter ist fächerförmig ausgebreitet und stärker sehnig durchsetzt (HOFMANN 1995).

Das Wiederkauen dient primär der Zerkleinerung faserreicher Pflanzenteile, um den zellulolytischen Bakterien bessere Ausgangsbedingungen zu verschaffen. Entspre-chend sind die Backenzähne der GR breitflächig-selenodont und damit besser zur mahlenden Zerkleinerung auch harter Pflanzenfasern in langen Wiederkauperioden geeignet. Die Backenzähne der KS tragen demgegenüber enge Schmelzfalten, Kun-den und besitzen spitze Kauränder; das selektiv aufgenommene und qualitativ

hochwertigere Futter der KS wird weniger intensiv wiedergekaut. In Verbindung mit einer kürzeren Retentionszeit der Ingesta im Vormagensystem verglichen mit den GR scheiden KS auch größere Futterpartikel unverdaut aus; im Pansen wird so schneller Platz für neu aufgenommenes Futter verfügbar und die Futteraufnahmenkapazität ist höher (HOFMANN 1995).