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3 Methodik der Elektronendichteanalyse

3.3 Daten- und Modell-Validierung der hochaufgelösten Röntgenstrukturdaten

3.3.2 Allgemeines Vorgehen bei der Multipolverfeinerung

Der erste Schritt für eine Ladungsdichteuntersuchung mittels des Multipolmodells ist die Erstellung eines geeigneten Startmodels. Dieses Startmodell wird als IAM (siehe Kapitel 3.1.2) in SHELXL verfeinert. Wichtige Kriterien für ein gutes Startmodell sind präzise Atompositionen (XYZ) und Auslenkungsparameter (Uij) von jedem Atom. Hierfür wird folgende Vorgehensweise verwendet:

In den Hochwinkeldaten sind insbesondere Informationen über die Positionen und Schwingung der Nichtwasserstoffatome enthalten, sodass zu ihrer Bestimmung eine IAM-Verfeinerung gegen die hochaufgelösten Daten (d<0.6 Å) durchgeführt wird. Die Informationen über die Wasserstoffatome sind dagegen in den Niedrigwinkeldaten (d>1 Å) enthalten. Somit wird eine Verfeinerung gegen eine maximale Auflösung von 1 Å durchgeführt, während die Positions- und Auslenkungsparameter der Nichtwasserstoffatome festgehalten werden. Dieses Vorgehen erzielt eine möglichst genaue Bestimmung der jeweiligen Positionen, indem die Informationen aus den Röntgendaten separiert verwendet werden. Das so erreichte Startmodell wurde für jede Struktur zu Beginn erstellt.

Das hier verwendete Multipolmodell (MM) basiert auf der von HANSEN und COPPENS

etablierten asphärischen Beschreibung der ED (siehe Kapitel 3.1.3). Angewendet wurde es mit dem kernzentrierten MM gegen F2 mit einer full-matrix-least-squares Verfeinerung im Programm XDLSM, welches im XD2006 Programm189 implementiert ist. Die Kerndichte und sphärische Valenzdichte werden für das Atom aus relativistischen S3 Dirac-Fock Wellenfunktionen zusammengesetzt, welche von Su, Coppens und Macchi hinterlegt wurden (SCM Datenbank-Datei).138,190 Die radiale Anpassung dieser Funktionen werden mittels der Ausdehnungs-Kontraktions-Parameter  und ‘ optimiert. Für alle Nicht-Wasserstoffatome (Li, Al, C, N, Si, S) wurden Kugelflächenfunktionen bis hin zu den Hexadecapolen verwendet, wobei für alle Multipole (nl = 1-4) der gleiche ‘ Wert verwendet wird. Für die Wasserstoffatome wurden die in Bindungsrichtung beschreibenden Dipole und eventuelle Quadrupole175 (meist getestet) verfeinert, wobei der Ausdehnungs-Kontraktions-Parameter für alle Wasserstoffatome auf einem festen Wert gehalten wurde ( = 1.1 und ‘ = 1.18)191. Des Weiteren wurden die Uiso-Werte der Wasserstoffatome auf 1.5 Ueq des dazu gebundenen sp3 Kohlenstoffatoms und 1.2 für alle anderen Kohlenstoffatome gesetzt. Nach jedem Verfeinerungszyklus wurde ebenfalls der Abstand der Wasserstoffatome auf deren Neutronenabstand gesetzt. 192

Für das weitere Vorgehen der Multipolverfeinerung muss zunächst ein lokales Koordinatensystem für jedes Atom individuell gesetzt werden. Dies hat den Sinn, dass

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eine lokale Symmetrie (ausgehend von dem jeweiligen Atom bis hin zu den benachbarten Atomen) angenommen werden kann, welche den Multipolparametern zugrunde liegen muss. Somit wird zu Beginn der Verfeinerung kein Maximum an Multipolparametern verwendet. Hierbei ist ebenfalls darauf zu achten, dass das lokale Koordinatensystem auch chemisch sinnvoll ist. Beispielsweise werden anhand der Molekülstruktur lokale Symmetrien direkt sichtbar. Bei dem tBu-Rest am C-Atom ist eine 3 zählige Achse (C3) wie auch eine Spiegelsymmetrie (m) vorhanden. Hierbei wurde versucht, das lokale Koordinatensystem so zu legen, dass die höchstmögliche Symmetrie beschrieben werden kann. Insgesamt wurde bei den Wasserstoffen eine zylindrische Symmetrie gewählt, sodass die z-Achse des Koordinatensystems auf das jeweilige Kohlenstoffatom zeigt, damit hier die ED entlang der Bindung modelliert werden kann. Neben der lokalen Symmetrie können auch sogenannte „chemical constraints“11 gesetzt werden. Dies bedeutet, dass die Parameter von „gleichgesetzten Atomen“ auf denselben Wert festgesetzt werden. Dies dient zum Einsparen von Parametern und auch zur Stabilisierung der Verfeinerung. Zu Beginn wird immer mit der Verfeinerung des Skalierungsfaktors gestartet und anschließend werden die entsprechenden Parameter schrittweise immer mehr verfeinert.

Im Vergleich zum IAM können im Multipolmodell bis zu 25 weitere Multipolparameter pro Atom verfeinert werden. Es kann also schnell dazu kommen, dass eine Vielzahl an Parametern verfeinert wird, welche allerdings nicht mehr zur Verbesserung des Modells führen, sondern andere Erscheinungen in den Daten, wie individuelle Fehler oder Rauschen, anpassen. Dieses Phänomen wird Überanpassung genannt. Als mögliches Analysetool kann das Parameter-zu-Daten-Verhältnis als Orientierung verwendet werden.

Für eine IAM-Verfeinerung sollte dieses nicht unter 10 liegen. Da dieses Kriterium für

11 Der Begriff „chemical constraints“ bezeichnet, dass Parameter von Atomen äquivalenter Umgebung auf den gleichen Wert verfeinert werden.

Abbildung 3-9 Beispieldarstellung der lokalen Symmetrie an einem Kohlenstoffatom in einer tBu-Gruppe.

- 97 - Standard-IAM-Verfeinerungen entwickelt wurde, ist keine Übertragbarkeit auf eine hochaufgelöste Messung gegeben. Der Grund ist, dass aufgrund der großen Datenmenge bei einem hochaufgelösten Datensatz eher selten das Verhältnis von 10 unterschritten wird. In der makromolekularen Chemie wurde bereits eine statistische Technik zur Vermeidung von Überanpassung entwickelt und auch verwendet. Die sogenannte Kreuzvalidierung (engl. Cross-Validation) ist ein Werkzeug zur Vermeidung von Überanpassung während der Modellentwicklung. Diese Technik wurde ebenfalls für IAM-Verfeinerung193 als auch für die hochaufgehöste Ladungsdichte161 kleiner Moleküle eingeführt. Diese letzte sogenannte Rcross-Validierung wurde für alle Datensätze zum Testen aller Parameter verwendet (siehe Kapitel 3.1.6). Für eine Stabilisierung der Verfeinerung wurden als Start die maximale Anzahl an „chemical contraints“ und die Symmetrie Restriktionen für die Multipolparameter verwendet. In der finalen Verfeinerungsstrategie können auch diese zum Teil aufgehoben werden (siehe Strategie –Validierung der einzelnen Strukturen). Die Strategie zur Verfeinerung baut sich durch schrittweises Hinzufügen von Parametern auf. Daraus folgt, dass im letzten Verfeinerungszyklus alle Parameter (außer ‘) in einem Schritt bis zum Erreichen der Konvergenz verfeinert werden.

In der allgemeinen Einführung wurde bereits das Phänomen der anharmonischen Schwingung erläutert. Bezogen auf eine MM-Verfeinerung werden an dieser Stelle nun einige Beurteilungsindikatoren aufgezählt, die zur Beschreibung des anharmonischen Schwingungsverhaltens mittels Gram-Charlier-Koeffizenten benötigt werden (siehe Kapitel 3.1.4)144,194,195:

 Peaks mit ca. 0.5 Å Entfernung sollten kleiner werden oder ganz verschwinden o Gleiches gilt für das typisch auftretende „Schaschlik-Muster“

 möglichst kleine Werte im PDF

 mindestens 1 Gram-Charlier-Parameter muss signifikant sein

 Kuhs‘ Regel sollte erfüllt sein141

 keine Korrelation von MM-Parameter mit Gram-Charlier-Parameter146

In Abbildung 3-10 ist ein Beispiel für ein anharmonisch schwingendes Kohlenstoffatom gezeigt. Tabelle 3-2 und Tabelle 3-3 zeigen exemplarisch, welche Werte vor bzw. nach der Verfeinerung überprüft wurden.

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Tabelle 3-2 Minimale Datenauflösung für eine sinnvolle Verfeinerung der anharmonischen Schwingungsparameter (Gram-Charlier-Koeffizienten), für die betreffenden anisotropen Atome nach Kuhs’s Regel. M.D.A’s: relative mittlere quadratische Verschiebungsamplituden; dKuhs Mindestauflösung für Qn.

Atom M.D.A’s / Å dKuhs / Å-1

n =3 n = 4

C(17) 0.208 0.168 0.103 0.85 0.98

Abbildung 3-10 Restelektronendichtemuster an einem Kohlenstoffatom vor („Schaschlickmuster“) und nach der Verfeinerung der Gram-Charlier-Parameter dritter Ordnung. Restdichtelevel ±0.07eÅ-3.

Tabelle 3-3 Berechnete Werte aus der thermischen Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion. -Pgesamt: Insgesamt integrierte negative Wahrscheinlichkeit; +Pgesamt: Insgesamt positive integrierte Wahrscheinlichkeit; PDFmax: Maximaler Wert im PDF; PDFmin: Minimaler Wert im PDF; -Vgesamt: Integriertes Volumen der negativen Wahrscheinlichkeit; +Vgesamt: Integriertes Volumen der positive Wahrscheinlichkeit.

Atom -Pgesamt [%] +Pgesamt [%] PDFmax PDFmin -Vgesamt

3] +Vgesamt

3]

C(17) -0.048 100.038 26637.74 -36.48 0.91 3.017

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Tabelle 3-4 Zusammenfassung kristallographischer Details der IAM- und MM-Verfeinerungen.

Verbindung 1 2 3 4 5 6

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