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Auch wenn in der Automobilindustrie schon im Jahr 2019 über den „größten Branchen-umbruch aller Zeiten“ gesprochen wurde, hat sich die Situation in der Branche im Verlauf der Corona-Pandemie deutlich zugespitzt. Zum weitestgehend technologisch getriebe-nen Strukturwandel haben sich pandemiebedingte Auswirkungen wie zeitweilige Produk-tionsstopps in der ersten Jahreshälfte 2020, ein massiver Nachfragerückgang und nicht zuletzt Störungen und Engpässe in den internationalen Lieferketten gesellt. Die Meldun-gen großer und kleinerer Automobilzulieferer über Stellenabbaupläne oder gar Insolven-zen häufen sich. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für die Branche in Hessen, sondern in ganz Deutschland. Gleichzeitig verkündeten mehrere deutsche Automobilhersteller Gewinne für das Jahr 2020: VW, Daimler, BMW – und auch Opel samt Mutterkonzern.

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Die anhaltende Pandemie hat ferner die Mobilität verändert: Nicht nur hat das Mobilitäts-niveau deutlich abgenommen, die Bedeutung des ÖPNV ist allerdings zugunsten des Individualverkehrs deutlich zurückgegangen. Inwieweit dies die Mobilitätstrends von vor der Pandemie nachhaltig beeinflussen wird, lässt sich momentan nur schwer abschätzen.

Fest steht, dass das Thema Nachhaltigkeit keineswegs an Bedeutung eingebüßt hat – im Gegenteil: Mit dem European Green Deal setzt die Europäische Kommission ambiti-onierte Klimaschutzziele, die für die Automobilindustrie neue Herausforderungen bedeu-ten. Somit ist davon auszugehen, dass der technologisch getriebene Strukturwandel in der Branche, der auch im engen Kontext zur Nachhaltigkeit zu sehen ist, eher beschleu-nigt wird. Es ist denkbar, dass viele Unternehmen die durch die Pandemie erzwungenen Anpassungen und Umstrukturierungen nutzen, um ihre Unternehmens- bzw. Produkti-onsprozesse sowie Produktionspaletten und Marktausrichtung nachhaltig zu optimieren und für die neue „automobile Zukunft“ zu rüsten.

Alle Hersteller setzen auf die Elektromobilität und bauen ihr Angebot an E-Fahrzeugen weiter aus. Der VW-Konzern bietet inzwischen alle Modelle ab der Kompaktklasse auf Basis des modularen Elektrobaukastens auch als Elektroauto an. Mit seiner E-Offensive versucht VW Tesla – dem aktuellen „Platzhirschen“ auf dem Elektroautomarkt – die Stirn zu bieten. Daimler beabsichtigt bis zum Jahr 2022 sein gesamtes Mercedes-Portfolio zu elektrifizieren, d.h. in jedem Segment vom Mittelklassewagen bis zum SUV verschiedene E-Alternativen anzubieten. Und Opel sorgt für Aufmerksamkeit mit seinen Plänen, ein

„Kultauto“ aus den 1970ern – den Opel Manta – als Elektroauto wiederzubeleben. Noch ist die Elektromobilität zwar kein Massenmarkt, aber das Wachstumstempo ist ausge-sprochen hoch. Während im Jahr 2020 die PKW-Neuzulassungen insgesamt pandemie-bedingt um fast ein Fünftel zurückgegangen sind, ist das Wachstum bei den Neuzulas-sungen von alternativ betriebenen Fahrzeugen ungebrochen. So wurden im Jahr 2020 in Deutschland rund 194.000 Fahrzeuge mit rein elektrischem Antrieb (+207 % im Ver-gleich zum Vorjahr) und rund 527.000 Fahrzeuge mit Hybridantrieb (+121 %) neu zuge-lassen. Damit beläuft sich deren Anteil an allen Neuzulassungen in Deutschland des Jahres 2020 inzwischen auf 6,7 % bzw. 18,1 %. Steuerliche Förderung, die bis Ende 2025 verlängerte Kaufprämie („Innovationsprämie“), regulatorische Vorgaben vonseiten der Politik (strengere Abgasnormen) und Förderprogramme (z.B. für Fahrzeuge für den ÖPNV und für Ladeinfrastruktur) wirken weiterhin in Richtung einer größeren Markt-durchdringung.

Die zunehmende Verbreitung neuer Antriebstechnologien eröffnet der heimischen Auto-mobilindustrie zweifellos Potenziale. Der Paradigmenwechsel hin zur Elektromobilität stellt die Branche aber auch vor die beträchtliche Herausforderung, in die Elektromobilität zu investieren bzw. dieses Geschäft voranzutreiben und zugleich das Geschäft mit her-kömmlichen Fahrzeugen zu betreiben – und dies seit Frühjahr 2020 unter den erschwer-ten Bedingungen (Stichwort: Umsatzausfälle) der Pandemie. Denn der klassische An-triebsstrang wird kurzfristig nicht seine wesentliche Rolle verlieren, sondern weiterhin einen bedeutenden Anteil an der Motorisierung haben – wenn auch die Liste der Länder, die ein Verkaufsverbot für Verbrenner in absehbarer Zukunft verkündet haben, wächst.

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Der Trend zur Elektromobilität geht mit massiven Anpassungsprozessen sowohl bei den großen Automobilherstellern als auch bei den Zulieferern einher, denn ein E-Fahrzeug benötigt z.B. keine Einspritzanlage, keine Abgasanlage, und auch keine Zylinder. Hessi-sche Unternehmen, die solche Komponenten entwickeln und produzieren oder z.B. Ma-schinen anbieten, auf denen Teile dieser Art gefertigt werden, müssen ihr Produktportfo-lio entsprechend anpassen. Dieser Prozess dürfte kaum ohne Friktionen in den Unter-nehmen und in der UnterUnter-nehmenslandschaft insgesamt ablaufen, was natürlich nicht nur für Hessen gilt. Auch ist es plausibel anzunehmen, dass der Wettbewerb bei antriebsun-abhängigen Produktgruppen intensiver wird, da – zumindest übergangsweise – mehr Unternehmen den Fokus auf dieses Segment richten dürften.

Zudem ziehen die im Vergleich zum Verbrennungsmotor als gering geltenden Marktein-trittsschranken neue Wettbewerber an. Tesla mit dem Model 3 (seit Anfang 2019 in Deutschland erhältlich) und das Stadtauto e.GO Life des jüngsten und kleinsten deut-schen Serienherstellers aus Aachen stecken preislich gesehen sozusagen die Band-breite der neuen Akteure ab. Ob sich die neuen Marktteilnehmer auch längerfristig be-haupten werden, muss sich aber erst zeigen. So musste etwa das o.g. Start-up bereits Insolvenz anmelden und firmiert nun – mit neuem Eigentümer – unter Next.e.GO Mobile.

Und der britische Staubsaugerhersteller Dyson hat seinen Plan, in die Produktion von Elektroautos einzusteigen, aufgrund fehlender Wirtschaftlichkeit des Projekts inzwischen aufgegeben.

Nachhaltigere Mobilität kann auch durch die eigentumslose Nutzung des Autos im Sinne von Car-Sharing oder gar den vollständigen Verzicht auf ein Auto erreicht werden. Zuletzt hatte das eigene Auto vor allem in den Ballungsgebieten (Stichworte: ÖPNV und Stau)17 und bei der jüngeren Generation an Bedeutung verloren. Neue, durch die Digitalisierung beförderte Geschäftsmodelle, die die Dienstleistung Mobilität statt Automobile verkaufen, verbreiten sich. Die Fahrzeuge gehören dann nicht mehr den Fahrern, sondern den Mo-bilitätsdienstleistern. Die Corona-Pandemie, die dem individuellen Verkehr wieder zu-nehmende Bedeutung bescherte, dürfte diese Tendenzen zumindest kurz- bis mittelfris-tig etwas abgeschwächt haben.

Die Digitalisierung in der Branche ist auch im Sinne von Industrie 4.0 zu verstehen, d.h.

die Vernetzung von Maschinen, Produkten und Arbeitskräften, um die Flexibilität der Au-tomobilproduktion zu steigern und deren Effizienz zu erhöhen. Aber nicht nur Industrie 4.0, sondern z.B. auch das Schlagwort Car2X steht für rasante technologische Entwick-lung in der Automobilbranche. Dies erschöpft sich schon lange nicht mehr in der Nutzung eines Navigationssystems im Auto, sondern reicht über Assistenz-, Kommunikations- und Telematiksysteme (z.B. Einparkhilfe, Müdigkeitserkennnung, Spurhalteautomaten) bis hin zur Vision des autonomen Fahrens.

17 Die Diskussionen über Seilbahnen und Flugtaxen in Ballungsgebieten zeigen weitere Möglichkeiten für die Mobilität der Zukunft auf. Während Erstere kaum ein zukünftiges Geschäftsfeld für die Auto-mobilbranche sein werden, ist dies bei Flugtaxen schon eher denkbar – aber die Luftfahrtbranche und Start-ups (z.B. Anbieter von Drohnen) sind in diesem Bereich auch bereits tätig.

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An dieser Vision wird mit Milliardeninvestitionen bereits intensiv gearbeitet – sowohl im Ausland (z.B. in den USA von Tesla, Apple und Waymo, in der VR China u.a. von Autox und Baidu) als auch in Deutschland, wo das autonome Fahren u.a. in Partnerschaften vorangetrieben wird (z.B. Daimler mit Bosch und zuletzt auch mit Nvidia und VW mit Ford und mit Microsoft). Aus hessischer Sicht sind z.B. die Aktivitäten des Continental-Kon-zerns anzuführen, der den Standort in Frankfurt-Rödelheim zum weltweiten Kompetenz-zentrum für Fahrsicherheit sowie für assistiertes und autonomes Fahren ausbaut. Zuletzt wurde dort ein „Supercomputer“ in Betrieb genommen, um die Entwicklung von Fahras-sistenzsystemen und Software für selbstfahrende Autos zu beschleunigen. Continental geht davon aus, dass es einen fließenden Übergang von hochentwickelter Fahrassis-tenz-Technik zum Roboterauto geben wird. Die genannten Unternehmen zeigen, dass sich die heimische Automobilindustrie nicht nur vielfältigen und komplexen technischen Herausforderungen und rechtlichen Fragen stellen muss, sondern auch branchenfrem-den, sehr großen Wettbewerbern.

Für all die skizzierten Entwicklungen sind gut ausgebildete Fachkräfte eine essentielle Voraussetzung. Insofern stellt die demografische Entwicklung eine Herausforderung (nicht nur) für die Automobilbranche dar. Dieser gilt es z.B. durch eine Intensivierung der Ausbildungsanstrengungen insbesondere im so genannten MINT-Bereich entgegenzu-wirken, damit der hessischen Automobilindustrie auch in Zukunft genügend gut qualifi-zierte Fachkräfte – auch für die neuen Anforderungsprofile, die mit Elektromobilität, Künstlicher Intelligenz und der Arbeit in digitalen Prozessen einhergehen – zur Verfügung stehen.

Die Automobilindustrie ist eine ausgesprochen global aufgestellte Branche, sowohl be-zogen auf die Beschaffung als auch den Absatz. Die positiven Wachstumsperspektiven in aufstrebenden Schwellenländern eröffnen der heimischen Automobilindustrie weiter-hin beträchtliche Absatzpotenziale. Dies kann einen Beitrag dazu leisten, eine schwache oder gar rückläufige Nachfrage in traditionellen Märkten zu kompensieren. Asien – und dort insbesondere die VR China – wird nach wie vor als wesentlicher Wachstumsmarkt der nächsten Jahrzehnte angesehen, obgleich die Autonachfrage zurzeit nicht mehr mit der gleichen Geschwindigkeit zunimmt wie in den vergangenen Jahren. Doch nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als Produktionsstandort hat das Ausland in den letzten Jahren immer weiter an Gewicht gewonnen: Mehr als zwei Drittel der von deutschen Unternehmen hergestellten PKW werden mittlerweile im Ausland gefertigt. Spitzenreiter unter den ausländischen Produktionsstandorten (gemessen an der Zahl der dort gefer-tigten PKW deutscher Konzernmarken) ist mit großem Abstand die VR China. Hierbei ist nicht nur auf die hohe Nachfrage vor Ort, sondern auf das Charakteristikum der Fertigung vor Ort zu verweisen, die durch tarifäre (Importzölle) und nichttarifäre Handelshemm-nisse (Local-Content-Auflagen) gesteuert wird.

Im Schatten Chinas sind auch andere aufstrebende Schwellenländer wie etwa die ASEAN-Staaten (z.B. Indonesien) zu nennen, die ebenfalls ein hohes Wirtschaftswachs-tum aufweisen. Aufgrund protektionistischer Maßnahmen sind diese Absatzmärkte je-doch noch nicht interessant genug. Der Abbau von Importzöllen wie auch von nicht-ta-rifären Handelshemmnissen ist wesentlich, um der heimischen Automobilbranche

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weitere Exportmöglichkeiten zu erschließen und zudem die Abhängigkeit vom chinesi-schen Markt zu mindern.

Allerdings werden Krisen wie die Corona-Pandemie oftmals zum Anlass genommen, die Lieferketten zu überprüfen. Bei Lieferschwierigkeiten (z.B. der Mangel an Halbleitern) werden die wechselseitigen Abhängigkeiten schmerzlich bewusst und Trends zu „Resho-ring“ und „Nearsho„Resho-ring“ werden neu entdeckt oder verstärkt, wofür beispielhaft der Titel einer Studie des McKinsey Global Institute aus dem Jahr 2020 steht: „Risk, resilience, and rebalancing in global value chains“. Auch in der Automobilindustrie – vor allem bei zunehmender Automatisierung der Produktion – ist es denkbar, dass Produktion in hei-mische Regionen zurückkehrt, wenn dadurch die Widerstandsfähigkeit der Unternehmen auch in Krisensituationen gesteigert werden kann und die Kosten und Risiken, die mit ungeplanten Unterbrechungen von Lieferketten verbunden sind, gesenkt werden können.

Eine solche Tendenz kann im Bereich der Batterieproduktion beobachtet werden. Derzeit findet die Batteriezellenfertigung für Elektroautos überwiegend hochautomatisiert im asi-atischen Raum (China, Japan und Südkorea) statt. Allerdings wird es auf EU-Ebene als immer wichtiger betrachtet, dass Europa (nicht nur) bei der Elektromobilität unabhängi-ger wird. Mit Unterstützung der Politik formieren sich mittlerweile auch in Europa Kon-sortien / Kooperationen, um eine Batteriezellenproduktion aufzubauen. So hat u.a.

Volkswagen angekündigt, in den kommenden Jahren mit Partnern ein Netz eigener Bat-teriezellfabriken aufzubauen. Neben der derzeit entstehenden Batterieproduktion in Salzgitter sollen europaweit fünf weitere Werke für eine Selbstversorgung mit dieser zentralen E-Technologie hinzukommen. Währenddessen befindet sich die Batteriezel-lenfabrik des chinesischen Herstellers Contemporary Amperex Technology (CATL) in der Nähe von Erfurt im Bau. Bereits Mitte 2022 soll die Produktion starten. Mittelfristig soll die Fabrik rund 2.000 Mitarbeiter beschäftigen. Zudem soll das bei Berlin entstehende Tesla-Werk nach Aussagen von Elon Musk die weltgrößte Batteriefabrik werden. Und nicht zuletzt entsteht am Opel-Standort in Kaiserslautern eine Batteriefabrik. Sie soll 2023 den Betrieb aufnehmen und ebenfalls bis zu 2.000 Arbeitsplätze schaffen. Vom Umfang her zwar nicht mit diesen Projekten zu vergleichen, aber dasselbe Ziel verfol-gend, hat Opel am Standort Rüsselsheim ein Batterie-Center für Service und Instandset-zung von Hochvolttechnologie aufgebaut. Dort werden die Antriebe aller auf der konzern-eigenen eCMP-Plattform basierenden Modelle getestet und repariert.

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