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AKT: ERNEUERN UND ANPASSEN

Im Dokument POLITIK UND WIRTSCHAFT IM KRIEG (Seite 83-88)

3. 1940: VERDREHUNGEN UND VERWIRRUNGEN

5. AKT: ERNEUERN UND ANPASSEN

Hauptmann des Nachrichtendienstes Alfred Ernst, sowohl von der Haltung des Bundesrates wie von jener des Generals enttäuscht, organisierte eine geheime Vereinigung mit dem Ziel, unter allen Umständen den bewaffneten Widerstand durchzusetzen. Ein erstes Treffen, getarnt als Rapport des Nachrichtendienstes, fand am 21. Juli in Luzern statt. Am 3. August schon flog die ganze Geschichte auf, da ein Teilnehmer der Luzerner Versammlung seine Vorgesetzten orientiert hatte. Die Hauptverantwortlichen wurden, nach Absprache mit dem General, zu Arreststrafen zwischen 3 und 15 Tagen verurteilt.200 Die Offiziersverschwörung hatte in der damaligen Innenpolitik kaum eine konkrete Bedeutung, sie zeigt aber, wie weit die Erregung und das Misstrauen in verschiedenen Kreisen schon gediehen war. August Lindt, einer der Organisatoren der Verschwörung, schrieb später: «Wir beide [Lindt und Ernst] hatten kein Vertrauen mehr in die Standfe-stigkeit des Bundesrates und rechneten mit der schrittweisen, kampflosen Kapi-tulation der Schweiz.»201

schen Zutrauens und der schweizerischen Bereitschaft zur Zusammenarbeit in schweren Zeiten gewertet werden soll».202

Gegenüber England war die Stimmung weniger wohlwollend. Pilet-Golaz zeigte sich in starkem Masse durch die Grenzverletzungen englischer Flugzeuge verär-gert. Der Bericht des Schweizer Gesandten in London, Thurnheer, vom 4. Sep-tember lässt deutlich erkennen, mit welch heftigen Worten in London protestiert wurde. Thurnheer vergass nicht, auf das Prinzip der bewaffneten Neutralität hin-zuweisen, die «sozusagen zum Fleisch und Blut des Schweizers» gehöre. Gleich-zeitig versuchte er gegen die englische Blockadepolitik vorzugehen, ein Vorha-ben, das angesichts des britischen Willens, den Kampf mit allen Mitteln weiter-zuführen, zunehmend hoffnungsloser wurde.203

Am 6. September kam im Bundesrat ein besonders heikles Problem der Bezie-hungen mit Deutschland zur Sprache. Auf Antrag des Politischen Departements wurde das am 17. Juli 1934 gegen den Völkischen Beobachter, das offizielle Or-gan der NSDAP, erlassene Verbot aufgehoben. Das Protokoll des Bundesrates vermerkt dazu: «La division presse et radio de l’état-major de l’armée affirme n’avoir, de son côté, aucune raison de s’opposer à la vente et à la circulation en Suisse du journal dont il s’agit.»204 Pilet-Golaz beschäftigte sich in diesen Tagen auch mit innenpolitischen Fragen. Interessant ist diesbezüglich ein Satz aus ei-nem Brief an den General. «Je suis persuadé, personnellement», schrieb Pilet-Golaz am 9. September, «que nous pourrions améliorer sensiblement nos rap-ports avec notre voisine du Nord si nous pouvions nous débarasser d’une optique idéologique fâcheuse, d’un ultradémocratisme démagogique inspiré du parla-mentarisme à la française, si mortel pour ce dernier pays.»205

Am folgenden Tag, dem 10. September, empfing Pilet-Golaz die Delegation der Nationalen Bewegung der Schweiz, der Ende Juni gegründeten Sammlungsbe-wegung der extremen Rechten. Pilet-Golaz unterhielt sich anderthalb Stunden mit Dr. Max Leo Keller, Ernst Hofmann und dem Schriftsteller Jakob Schaffner.

Ein von Heinrich E. Wechlin, Redaktor am Berner Tagblatt und Sekretär von alt Bundesrat Musy, verfasstes Kommuniqué gab diesem Empfang ein zusätzliches Gewicht. Markus Feldmann notierte am 12. September im Tagebuch: «Die Schweiz ist möglicherweise soeben in eine Staatskrise eingetreten [...]. Pilet, ge-treu seinem mit der Rede vom 25. Juni eingeschlagenen ‚Pétain-Kurs’, ist drauf und dran, nun gleichzeitig aussen- und innenpolitisch die schärfste Krise herauf-zubeschwören.»206

Diese Septembertage enthielten, betrachtet man insgesamt die verschiedenen Er-eignisse, eine gute Portion innenpolitischen Sprengstoff. Beispielsweise trafen sich am 10. September im Schweizerhof in Bern ein Oberst und ein Direktor der Nationalbank mit Vertretern des Schweizerischen Buchhändlerverbandes. Die beiden ersterwähnten Herren gaben sich als Vertrauensmänner der deutschen Botschaft aus und verlangten von den Buchhändlern eine bessere Berücksichti-gung der deutschen Sichtweise.207

In denselben Tagen machte sich der Bundesrat an eine Neudefinition seiner po-litischen Richtlinien. Neben der Bestätigung der traditionellen Prinzipien – Un-abhängigkeit, Neutralität, Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, Arbeitsbeschaffung und Arbeitsfriede – fanden sich auch einige neue Töne. Zur Frage der Wirtschaft heisst es etwa: «Nach aller Voraussicht werden wir gezwungen sein, die Wirt-schaft unseres Landes mehr als bisher und mit grösseren Bindungen in den neu zu organisierenden europäischen Wirtschaftsraum einzubauen. Diese Notwen-digkeit wird uns voraussichtlich vor zwei nicht leicht zu lösende Probleme stel-len; eine gewisse zwangsläufige Anpassung unserer Lebensbedingungen an die in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bestehenden Verhältnisse, und eine durch die Natur der Dinge sich aufdrängende Neuordnung und Führung un-serer Wirtschaft. [...] Die Wirtschaft von morgen wird nicht mehr die freie Wirt-schaft von gestern sein.» Ein anderer neuer Ausblick betraf die Natalität und die Familie: «Wir sind ein sterbendes Volk geworden. Der Klageruf, den Marschall Pétain am Tage des Zusammenbruches über Frankreich erhoben: ‚Trop peu d’enfants‘, gilt leider auch für unser Land.» Zur Pressefreiheit hiess es: «Die Freiheit der Presse soll im Prinzip gewahrt bleiben. Doch erscheint eine ver-mehrte Disziplinierung, Verantwortung und Verpflichtung der Presse auf das gemeinsame Interesse des Landes unerlässlich.» Es ist zudem die Schaffung ei-ner «Zentralstelle für nationale Propaganda» vorgesehen. Alle diese Änderun-gen, meinte der Bundesrat, machten eine Totalrevision der Bundesverfassung notwendig, doch seien «die bisher schon gefallenen Vorschläge und Anregungen noch zu wenig reif und auch die Verhältnisse noch zu wenig abgeklärt», als dass man schon heute entscheiden könne. Immerhin verfüge man jetzt schon über eine starke Regierungsgewalt und das Parlament müsse sich in Zukunft auf die Wahlrechte und die Kontrolle des Budgets beschränken.208 Die politische Kultur dieses Septembers 1940 erscheint uns heute wie ein Alptraum aus Ancien régime und helvetischem Vichy.

Der Bundesrat gab am 11. und 12. September in groben Zügen dieses Programm der Vollmachtenkommission bekannt. Drei Tage später, am 15. September, emp-fing Pilet-Golaz erneut Max Leo Keller, diesmal bei sich zu Hause. Keller gab Pilet bekannt, dass er nach Berlin fahre und dort vom Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess, empfangen werde. Am folgenden Morgen, dem 16. September, be-gann die Herbstsession. Pilet-Golaz musste sich wegen des Empfangs vom 10.

September gleich mit einer vielfältigen Kritik der Parteienvertreter herumschla-gen. Obwohl selbst von Rücktritt die Rede war, liess die Uneinigkeit der Parteien den Sturm rasch abflauen.209 Selbst die Sozialdemokraten, die in der ersten Em-pörung lauthals Pilets Kopf gefordert hatten, lenkten auf eine moderate Kritik ein.

Die politische Rechte nahm alle diese Zeichen mit Interesse zu Kenntnis. Bircher war überzeugt, eine Neuorganisation des Staatswesens sei unumgänglich. Und Philippe Amiguet, der Herausgeber des Mois Suisse, schrieb am 17. September an Oberst Victor Perrier, den Chef der Abteilung Presse und Funkspruch: «Sur-tout, tordons le cou au libéralisme d’origine anglosaxonne, qui a commis tant de méfaits dans notre pays. Je préfère Machiavel à Vinet.»210 Der Gotthard-Bund hinwiederum, letztlich auch eine Erneuerungsbewegung, fand sich am 21./22.

September zum ersten nationalen Treffen in Magglingen zusammen und nahm dort u.a. die Idee des Landammans auf.

Auch die Volksbündler wollten nun konkret eingreifen. Am 16. September, an-lässlich einer Zusammenkunft des engsten Kreises in Basel, entwickelte Andreas von Sprecher die Grundzüge des Entwurfs für die «Eingabe der 200». Am 23.

September trafen die Volksbündler zudem auf Schloss Wülflingen Dr. Klaus Gerhard Hügel, SS-Sturmbannführer und Chef des Referats VI beim Sicherheits-dienst in Stuttgart. Hügel, Spezialist in Pressefragen, war schon am 9. November 1939 im Hotel Storchen in Zürich mit Oberst und Bundesrichter Eugen Hasler, dem damaligen Leiter der Abteilung Presse und Funkspruch, zusammengetrof-fen. Das Politische Departement war über diese Kontakte, bei denen es um die Pressekonflikte mit Deutschland ging, orientiert. Daraus entwickelten sich in den folgenden Jahren eine Reihe gegenseitiger Besuche.211 Hügel traf sich einige Wochen später auch mit den Vertretern der NBS und versuchte, die frontisti-schen Gruppen zu einer gemeinsamen Organisation zu verschmelzen. Auch die Wirtschaft wurde über diese Kontakte auf dem Laufenden gehalten. Einer der Teilnehmer der Tagung auf Schloss Wülflingen, der Industrielle und Präsident der Mittelpresse Caspar Jenny, erstattete schon am folgenden Tag einen schrift-

lichen Bericht an den Direktor des Vorortes, Heinrich Homberger. Er regte in seinem Schreiben an, der Vorort sollte bei der NZZ und den Basler Nachrichten seinen Einfluss geltend machen, damit endlich geeignete Korrespondenten nach Berlin geschickt würden, so wie dies die Mittelpresse mit der Abordnung von Peter Dürrenmatt schon gemacht habe.212 Die in der Schweiz wohnhaften deut-schen Nationalsozialisten verstärkten zudem ihre öffentliche Präsenz. Am 6. Ok-tober, an der deutschen Erntedankfeier in Zürich, stellte sich Legationsrat Frei-herr von Bibra, ein eingefleischter Nazi, offiziell als neuer Leiter der Auslands-organisation der NSDAP in der Schweiz vor. Der Bundesrat hatte übrigens zu dieser neuen Leitung sein Einverständnis gegeben.

Die Armeeführung kam im Herbst 1940 ebenfalls in starke Bedrängnis. Die Ge-rüchte über die von den Deutschen in Frankreich gefundenen Abmachungen Guisans mit der französischen Armeeführung verdichteten sich immer mehr.

Frölicher schrieb aus Berlin am 17. September, «dass die in Frankreich gefun-denen Dokumente, die unseren Generalstab belasten, zu einer diplomatischen Aktion Anlass geben werden».213 Oberstkorpskommandant Wille brachte Ende September diese Angelegenheit beim deutschen Botschafter Köcher zur Spra-che, wobei er nicht verfehlte, auch einige kritische Bemerkungen über Guisan fallenzulassen.214

Im Laufe des Septembers begannen sich auf der andern Seite des politischen Spektrums linksliberale Kreise und Beteiligte der Offiziersverschwörung neu zu organisieren. Am 7. September wurde im Bahnhofbuffet Zürich die Aktion Na-tionaler Widerstand (ANW) gegründet. An seiner Spitze stand ein Dreierge-spann, bestehend aus den Journalisten August Lindt, Ernst von Schenk und dem sozialdemokratischen Zürcher Politiker und Verleger Hans Oprecht. Es entstand eine mehrhundert-köpfige, mehr oder weniger geheime Organisation mit einem internen Informationsdienst. Neben Aufklärung über Nazi-Deutschland sollten in erster Linie die sogenannten Anpasser bekämpft werden. «In dem farbenrei-chen Mosaik», erklärt August Lindt diesbezüglich, «zusammengesetzt aus An-passern verschiedenster Auffassungen, war Pilet seines hohen Amtes wegen der gewichtigste Stein. Es galt, den Stein aus dem Mosaik auszubrechen.»215 Der Historiker Erwin Bucher, der Person Pilet-Golaz eher zugetan, charakterisiert die Aktion folgendermassen: «Wie aus den Quellen hervorgeht, war die ANW auch eine Geheimorganisation der Anhänger Guisans und Gegner Pilets. Dem-entsprechend hatte sie über ihr landesweites Netz eine unterirdische Propaganda

getrieben, die den Sturz Pilets herbeiführen sollte, was allerdings nicht ge-lang.»216 Pilet stolperte aber 1944 über das Problem der Aufnahme diplomati-scher Beziehungen mit der Sowjetunion und musste Ende 1944 den Bundesrat verlassen.

Trotz all dieser z.T. konfusen Pläne und Abkommen im Rahmen der «Neuorien-tierungen» erkannten nicht wenige die konkreten Limiten dieser Politik. Be-zeichnend dafür ist etwa die Schlussfolgerung, die Pierre Bonna, Chef des Aus-wärtigen des Politischen Departements, zog. Er schrieb in einem Brief vom 24.

September 1940 an Minister Frölicher in Berlin: «Wir gehen ganz mit Ihnen darin einig, dass die Stellung der Schweiz zwischen den Achsenmächten eine neue Orientierung ihrer aussenpolitischen Beziehungen unerlässlich macht.

Diese neue Orientierung wird sich vor allem auf dem Gebiete der Wirtschaft notwendig erweisen und ist übrigens auch schon in Erscheinung getreten. Eben-so werden die Voraussetzungen für einen Austausch der kulturellen Güter, un-geachtet der Gegensätzlichkeit der beiderseitigen Staatenordnungen, geschaffen werden müssen. Abzulehnen aber ist der Gedanke des freiwilligen Verzichts auf unsere traditionelle Neutralitätspolitik, und wir würden wohl auch in den Augen der Achsenmächte kaum etwas damit gewinnen, wenn wir in allzu rascher Be-flissenheit unsere staatliche Existenz ganz von der Politik unserer beiden grossen Nachbarn abhängig machen wollten.»217

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