https://doi.org/10.20378/irbo-52023
Heinrich Bedford-Strohm
Vorrang für die Armen
Auf dem Weg
zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit
Chr. Kaiser
Gütersloh er
Verlagshaus
Albert und Barbara Strohm
Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme Bedford-Strobm, Heinrich:
Vorrang für die Armen: auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit I Heinrich Bedford-Strohm. -
Gütersloh: Kaiser; GütersloherVerl.-Hs., 1993 (Öffentliche Theologie; 4)
ISBN 3-579-02010-2 Ne: Bedford-Strohm, H.; GT
Dieser Band wurde mit der Unterstütrung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort gedruckt.
ISBN3-579-02010-2
©Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Gren:zen des Urheber- rechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.
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Printed in Germany
Inhalt
Vorwort
.„.„ •.••• „„.„.„„„ •• „„„„.„„„.„„„„„„„ ••••• „.„„ .• „ •.• „.„ •••.•... „ •••.11 A. Einleitung
„ ..•.•••••••••• „ ••••..•...•. „ ....•••• „„ „„ „„„„„. „„„ „. „„„.„ „.13
1. Das Problem ...
„„„„„.„ .• „„„„„„„„ .... „ .. „.„„.„„„„„.„„„„„.„„.„ ...134
II. Das Vorgehen
„„. „ „. „ „. „„ „.„„„„„ „„.„„„ „. „ „„„„ ••.• „.„ •.••• „ .. „ ....16 III. Auswahl der Quellen und Forschungslage ...
„„ ..21
1. Der Wirtschaftshirtenbrief der katholischen Bischöfe
der USA ...
„ ...•...•... „ .... „ ...••. „.21 1.1 Die Diskussion in den USA
.„ ... „ ••... „ .• „ •.. „„„„„„.„„„„ .• „„.„.„21 1.2 Die Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland
„„„.„„„.„ „25 1.3 Der Klärungs bedarf
„ .• „ .•. „ .. „ „„ .• „ ... „ .. „.„„„ „ „„. „. „ .. „ „ „ „ „ „ „26 2. Biblische Begründung und Vemunftbegründung ...
„.„ •..••• „ ....••27 3. Die Option für die Armen ...
„„ .••... „„ .... „.„ •. „ ... „„.„.„„ •. „ .. „ ..••79
4. Gerechtigkeit in der philosophischen Ethik
„„ ....•• „ .•.•.•.. „ ..• „„.31
5. Zur Rawls-Rezeption in der theologischen Ethik ....
„ ... „.„ ••• „3_5.
IV. Das Ziel der Untersuchung und ihr Beitrag zur Forschung .„ ..
„„.39
B. Der Wirtschaftshirtenbrief der katholischen
Bischöfe der USA ....
„„ •. „ •...••.•.••.... „.„ •••.•.•. „ ••••••• „ .•• „. „ •.... „„.41 1. Entstehung des Hirtenbriefs ...
„ ..•..•.. „ .•.•.•.•.•..•• „ „ „ „. „. „ •. „ „ ...••41 II. Der inhaltliche Kontext: die katholische Soziallehre ..
„ .. „ ...•• „ ...46
1. Die Sozialenzykliken der Päpste
.„ ...•••.. „ ...•••...•.. „ ... „ ....46
2. Die Soziallehre der U.S-Bischöfe
„ ..•..•.••••.•. „ •.•••• „.„„„ •....•••••.•54
III. Die Methode der Urteilsfindung ...
„ •••••..•. „ •••••••••. „„57
1. Theologische Ethik und Politik
.„ ...•••• „ ••.•.• „ .. „ ..••••.•••••.••.••••• „ •.57
1.1 Die Ausgangssituation ...
„ .. „. „ .... „ ... „ ..57
1.2 Die Antwort des Hirtenbriefs ... 58
1.3 Ethische Prinzipien und politische Konkretionen ... 59
2. Die Bedeutung des Kontextes ... 61
3. Biblische und philosophische Ethik ... 64
4. Ergebnis ... „ ... 68
X IV. Biblische Perspektiven ...
„ ...68
1. Grundkriterium ... 68
2. Schöpfung, Bund, Gemeinschaft ... 69
3. Gerechtigkeit ...
„.„ ...70
4. Nachfolge und Reich Gottes ... 72
5. Option für die Armen ...
„ ... „ ...73
6. Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament.. ... 74
7. Die Kritik an den biblischen Perspektiven ... 76
7 .1 Die Auswahl der Themen ... 76
7.2 Die biblische Option für die Armen und ihre Interpretation ... 78
8. Ergebnis ... „ ... 87
V. Ethische Normen für das Wirtschaftsleben ... 88
. 1. Der Gemeinschaftscharakter des Menschen ... 88
/'
2. Grundformen der Gerechtigkeit ... 89
3. Teilhabe ... 91
4. Wirtschaftliche und soziale Menschenrechte ... 92
5. Priorität für die Armen ... 93
6. Die Kritik an den ethischen Normen für das Wirtschaftsleben ... 96
6.1 Die Bedeutung wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechte ... 96
6.2 Gerechtigkeit ... 101
7. Ergebnis ... „ ... 105
VI. Die Grundkontroverse um den Hirtenbrief ... 106
1. Die wirtschaftspolitischen Vorschläge - ein Defizit ... 106
2. Systemkritik - überbetont? .. „ ... 108
Inhalt 7
3. Systemkritik - unterbetont? ... 110
4. Der pragmatische Ansatz ... 114
VII. Kritische Würdigung ... 119
C. Schlüsselprobleme eines theologisch-ethischen Gerechtigkeitsverständnisses ...
„ ...123
I. Biblische Begründung und Vemunftbegründung ... 123
1. Einleitung ... 123
2. Die klassische katholische Naturrechtslehre ... 123
2.1 Thomas vonAquin ... 123
2.2 Ideologisierung des Naturrechts ... 127
2.3 Die Verteidigung des Naturrechts: Josef Fuchs ... „.128
3. Autonome Moral oder Glaubensethik? ... 131
4. Einheit von Glaube und kritischer Vernunft - die methodologische Neubesinnung in der katholischen Moraltheologie ... „ ... 135
5. Ergebnis ... 141
6. Biblische Begründung und Vemunftbegründung in der Ethik
„ ... „ ...141
6.1 Auf dem Wege zu einer theologisch-ethischen Methodologie in ökumenischer Perspektive ...
„ ... „ ...141
6.2 Die Vemunft ...
„ ...142
6.3 Die biblische Tradition ... 144
6.4 Die kritische Integration von biblischer Begründung und Vemunftbegründung ...
„ ...14 7 II. Die Option für die Armen ... „ ... 150
1. Einleitung ... 150
2. Die Entstehung des Konzepts der Option für die Armen ... 151
2.1 Die Wurzeln der Option für die Armen in Medellin ... 151
2.1. l Vorgeschichte ...
„ ...151
2.1.2 Schlußdokument ... 153
2.2 Die explizite Ausführung des Konzepts der Option
für die Armen in Puebla ...
„ ...157
2.2.1. Vorgeschichte ...
„ ...•...157
2.2.2. Schlußdokument ... 158
3. Zur Interpretation der Option für dieArmen ... 166
3.1 WersinddieAnnen? ... 166
3.2 Elemente biblischer Begründung der Option für die Armen ...
„ ... „ ... „ ...170
3.2.l Altes Testament ...
„ ...170
3.2.2 Neues Testament ...
„ ...176
3.3 Die theologische Bedeutung der Armut ... 184
3.3.1 Materielle und spirituelle Armut ... 184
3.3.2 Das „evangelisatorische Potential" der Armen ... 187
3 .4 Die Option für die Armen - exklusiv oder inklusiv? ... 190
3.4.1 Klassenkampf ... 190
3.4.2 Partielle und universelle Solidarität ... 192
3.4.3 Ekklesiologische Konsequenzen ... 194
3 .5 Die Gefahr des Paternalismus ...
„ ...195
4. Ergebnis ... 199
4.1 Das inhaltliche Profil der Option für die Armen ... 199
4.2 Die üption für die Armen als kritischer Maßstab ... 201 -
III. Gerechtigkeit in der philosophischen Ethik ... 204
1. Einführung ... 204
2. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit ... 206
2.1 Erste Orientierung ... 206
2.2 Voraussetzungen ... 206
2.2.1 Philosophiegeschichtlicher Standort ... 206
2.2.2 Methodisches Vorgehen ... 207
2.3 Rolle und Gegenstand der Gerechtigkeitstheorie ... 209
2.4 Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit ... 211
j2.5 Der Vorrang des Rechten vor dem Guten ... 21.1J 2.6 DerUrzustand ... : ... 216
2.7 Die Herleitung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze ... 220
3. Die neo-liberale Kritik: Robert Nozicks Gegenentwurf ... 223
3.1 Der Minimalstaat ... 223
3 .2 Die Gerechtigkeitsgrundsätze der Anspruchstheorie ... 224
Inhalt 9 3.3 Historische, ergebnisorientierte und strukturierte
Prinzipien ...
„.„ ••••.• „ •..•• „ .•.•.•• „ .•..•••••. „ .• „.„ •. „„ ••.•••. „.„ •.•.225
3.4 Freie Wahl ...
„ ..••••.• „ .• „ •• „„„.„ .•.•.•••••• „.„„„„„ .••• „„„„ ••••.226
3 .5 Umverteilung als Zwangsarbeit
„ •••• „ ..•••• „ ..•...••• „ ..••••••• „.„ ••••.227
3.6 Nozicks Kritik an Rawls' Theorie ... 229
4. Die Diskussion um die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness .„ ...
„„ ...••...•...••...••232
4.1 Das Überlegungsgleichgewicht ...
„ ...••••• „ •.•••••••...••••232
4.2 Der Vorrang des Rechten vor dem Guten
.„„ ....•••...•...•••.•....•.•241
4.3 Der Urzustand ...
„ ••. „ .•• „ .. „ .•• „ .. „„.„„.„ ... „ •.•...• „ ..•....250
4 .4 Das Unterschiedsprinzip
„. „ .• „ „„ •. „ .„.„. „ „ .• „. „„ „ „. „. „ „ „ „ •. „261 4.5 Der Vorrang der Freiheit ....
„.„ ••••..•.••• „.„„„ ..•••••. „„„ •••.• „ ••••••.273
4.6 Die Grundsätze der Gerechtigkeit - Ideal ohne Konsequenzen? ...
„ ... „ .•••••••.•.••••••••281
5. Gerechtigkeit als Fairness - die philosophische Tragfähigkeit von John Rawls' Gerechtigkeitstheorie ...
„ ..•..285
5.1 Nozicks Einwände gegen Rawls - Versuch einer Antwort ... 285
5.2 Rawls als Eckstein eines philosophisch-ethischen Gerechtigkeitsverständnisses ... 290
D. Auf dem Wege zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit ...
„ ... „ ...•.... „ ..„
„„„„ .. „ „ „ ... „„.293
I. Vorbemerkung
„ „ ..• „ •... „„„.„ ... „.„ „ ... „ .... „„ .. „ ... „.294
II. Die Grundlagen .... „ ...
„ •... „ ...„ ... 294
1. Theologische Begründung des Gerechtigkeitsbegriffs ..
„ .„ .. „294
1.1 Die Option für die Armen als Kern des Gerechtigkeitsbegriffs ...
„ ...••••••• „ •.•...•••• „ .•...•..294
1.2 Die schöpfungstheologische Begründung ...
„ ... „295
1.3 Die bundestheologische Begründung ...
„ ...296
1.4 Die kreuzestheologische Begründung ...
„ ... „ ...297
1.5 Der eschatologische Horizont ...
„ ...•.••... „ ..297
2. Philosophische Begründung des Gerechtigkeitsbegriffs „ ...
„ ..299
III. Die Verträglichkeit der Begründungen
„ ... „ ... „ ...300 1. Die anthropologischen Voraussetzungen ... 300 2. Die erkenntistheoretischen Voraussetzungen ... 303 3. Philosophische und theologische Begründung
des Gerechtigkeitsbegriffs ... 305 IV. Zehn Dimensionen der Gerechtigkeit ... 306
V. Konsequenzen für die Politik in der Bundesrepublik
Deutschland ... 314
Literaturverzeichnis ... 319
Register ... 343
Vorwort
Der Versuch, dem inhaltlichen Gehalt des Begriffs der sozialen Gerechtig- keit auf die Spur zu kommen, ist ein Wagnis. Große Hoffnungen verbinden sich mit diesem Begriff. Kaum ein anderer Begriff ruft so danach, in den jeweiligen Lebenskontexten praktische Gestalt zu gewinnen wie der Be-
griff der Gerechtigkeit.
In einer Situation, in der die weltweiten Gegensätze zwischen arm und reich noch immer zunehmen, in der zahlreiche Menschen, besonders in Ostdeutschland und in Osteuropa ihre Arbeit verloren haben und in die Armut abgerutscht sind, ist die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aktueller denn je. Damit diese Forderung Nachdruck bekommt, muß präzisiert werden, was mit dem Begriff der Gerechtigkeit eigentlich ge- meint ist. Wenn meine Arbeit zu dieser Präzisierung auch nur einen kleinen Beitrag leisten könnte, hätte sie ihren Sinn schon erfüllt.
Die Arbeit wurde im Februar 1992 von der Heidelberger Theologischen Fakultät als Dissertation angenommen. Biographisch bündeln sich darin Erfahrungen in der politischen Arbeit und verschiedene Formen der per- sönlichen Begegnung mit dem Problem der Armut, zuletzt im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit in der Kontakt- und Begegnungsstätte für Wohnungslose in Heidelberg, sowie der Versuch, solche Erfahrungen im Lichte des christlichen Glaubens zu verstehen und theologisch zu reflek- tieren.
Die Arbeit wäre ohne vielfältige institutionelle und persönliche Unter- stützung nicht zustandegekommen. Das Evangelische Studienwerk Vil- ligst hat mich durch mein ganzes Studium hindurch begleitet und mir einen Studienaufenthalt an der Pacific School of Religion in Berkeley/Kaliforni- en ermöglicht, der den Grundstein für das spätere Dissertationsthema gelegt hat. Für diese Förderung sowie für das von mir anfangs in Anspruch genommene Promotionsstipendium sage ich herzlichen Dank. Mein Dank gilt auch der bayrischen Landeskirche, die mir einen großzügigen Druck- kostenzuschuß gewährt hat, sowie der VG Wort, die ebenfalls einen Teil der Druckkosten übernommen hat. Herrn Manfred Weber vom Chr. Kaiser Verlag danke ich für Hilfsbereitschaft und Verläßlichkeit bei der Druckle- gung.
Nur wenige wichtige Gesprächspartner können hier ausdrücklich ge-
nannt werden. Prof. Karen Lebacqz in Berkeley hat mir geholfen, meinen
Blick für die jeweiligen Profile philosophischer Gerechtigkeitstheorien zu
schärfen. An mehreren Punkten hat mich der Austausch mit meinem
Bruder Christoph Strohm bei der Arbeit vorangebracht. Vielfältige Anre- gungen habe ich von den Villigster Jahrestagungen der Arbeitsgemein- schaft ökumenische Forschung und aus den Diskussionen im Heidelberger Sozialethischen Kolloquium mitgenommen. Die Diskussion einer ersten Fassung des Kapitels über die Option für die Armen im Doktorandenkollo- quium hat wertvolle Hinweise für die Überarbeitung ergeben. Prof. Adolf Martin Ritter und Prof. Christian Link haben das Dissertations-Expose begutachtet. Prof. Michael Welker hat im Promotionsverfahren das Zweit- gutachten verfaßt. Ihnen allen danke ich herzlich für wichtige und weiter- führende Anregungen.
Ganz besonders wichtig für das Gelingen der Arbeit war die kontinuier- liche Unterstützung und Begleitung durch Prof. Wolfgang Huber. Von Anfang an hat er das Arbeitsvorhaben gefördert und ermutigt. Zu Zwi- schenergebnissen hat er immer rasch kritisch-ermutigende Rückmeldling gegeben. Zu Beginn und am Ende der Erarbeitung hat er ausführliche Gutachten verfaßt. Für klärende Gespräche hat die Zeit nie gefehlt. Weit über die damit verbundenen inhaltlichen Impulse hinaus hat die Tätigkeit als sein Assistent durch den alltäglichen theologischen und persönlichen Austausch soviel Spaß gemacht, daß das auch den Fortgang der Arbeit an der Dissertation beflügelt hat. Für all dies sage ich von Herzen Dank.
Dieser Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Heidelberger Ethik, in deren Kreis ich mich sehr wohl gefühlt habe.
Das Buch ist meinen Eltern gewidmet. Darin drückt sich mehr aus als ein Dank für alle Förderung und Zuwendung. Die charakteristische Ver- bindung von Verläßlichkeit und Fairneß, die ich von ihnen erfahren habe, hat in der vorliegenden Arbeit unübersehbare inhaltliche Spuren hinterlas- sen.
Der große Anteil, den meine Frau, Deborah Bedford-Strohm, am Gelin- gen dieser Arbeit hat, ist nur schwer in Worte zu fassen. Sie hat mich immer bei der Arbeit ermutigt. Sie hat mir an kritischen Punkten zugehört und die richtigen Fragen gestellt. Das gemeinsame Lebensglück hat Kraft gegeben. Wenige Wochen nach Abschluß des Promotionsverfahrens wur- de unser Sohn Jonas geboren. Er zeigt mir jeden Tag, daß Bücher, ge- schriebene oder gelesene, das Leben bereichern, aber nie das Leben sein können.
Heidelberg, im Oktober 1992
A. Einleitung
1. Das Problem
„ ... was ist eigentlich soziale Gerechtigkeit?"
1-mit dieser einfachen Frage hat Martin Honecker auf ein Problem hingewiesen, das für die theologi- sche Ethik von zentraler Bedeutung ist. Ob wir in dem Begriff der
„Gerechtigkeit" mit Honecker „die Programmformel unserer Zeit"
2ent- decken oder ob wir ihm lediglich „heute Hochkonjunktur"
3bescheinigen wollen, ist von untergeordneter Bedeutung. In jedem Falle läßt sich eine Häufigkeit und Dringlichkeit bei der Verwendung dieses Ausdrucks beob- achten, die in auffälligem Mißverhältnis zur Klarheit des damit Bezeich- neten steht. Je häufiger er gebraucht wird- so scheint es-, desto unklarer wird seine Bedeutung.
4Dies gilt für den Begriff der „Gerechtigkeit" selbst ebenso wie für seine Verbindung mit dem Adjektiv „sozial", die im 19.
Jahrhundert aufkommt und schon bei den italienischen Philosophen und Theologen Luigi Taparelli (1840)
5undAntonio Graf von Rosmini-Serbati (1848)
6zu beobachten ist.
7Mit guten Gründen hat Martin Honecker die 1 Honecker, Rechtfertigung und Gerechtigkeit in der Perspektive evangelischer Theologie, 41.
2 Ebd.
3 Baumann, „Gottes Gerechtigkeit" - Verheißung und Herausforderung für diese Welt, 9.
4 Rolf Baumanns Analyse des Wortes „Gerechtigkeit" im heutigen Sprachgebrauch anhand zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften belegt dies eindrucksvoll (Baumann, a.a.0. 23-33). Vgl. dazu auch die Auflistung zahlreicher möglicher und in der Literatur auch vertretener Gerechtigkeitsprinzipien bei Norden, Einkommensgerech- tigkeit, 11-16. Nordens Studie gibt interessante Einblicke in die in öffentlichen Debatten wie im Alltagsleben vertretenen Vorstellungen von Einkommensgerechtig- keit.
5 In seinem Werk „Saggio teoretico di diritto naturale appogiato sul fato", das 1845 als „Versuch eines auf Erfahrung begründeten Naturrechts" in deutscher Fassung erschien (Vonlanthen, Idee und Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit, 15).
6 In seinem Werk ,,Progetto di constitutione secondo la giustizia sociale", einer christlichen Muster-Staatsverfassung, in der die „soziale Gerechtigkeit" das richtungs- weisende Prinzip sein sollte (Höffner, Die soziale Gerechtigkeit und die überlieferte abendländische Gerechtigkeitslehre, 35).
7 Vgl. Honecker, Rechtfertigung und Gerechtigkeit, 55. Zur Herkunft des Begriffs
der „sozialen Gerechtigkeit" vgl. auch Schmitz, „Gerechtigkeit". Moraltheologische
Erwägungen zu einem strapazierten Begriff, 568f, sowie Putz, Christentum und
Menschenrechte, 168-171.
These vertreten, es gebe innerhalb der evangelischen Theologie keine einheitliche Gerechtigkeitslehre, die man für verbindlich halten könne.
8Die Notwendigkeit, hier zu tragfähigeren Einsichten zu kommen, liegt auf der Hand. In der ökumenischen Bewegung hat der Begriff der „Ge- rechtigkeit" im letzten Jahrzehnt eine besondere Bedeutung gewonnen.
Neben „Frieden" und „Bewahrung der Schöpfung" wurde er zu einem Leitbegriff für die Zukunftsherausforderungen der Christenheit und der Menschheit überhaupt. Die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich weltweit fordert täglich ihre Opfer. Aber auch zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen im Innern zahlreicher Länder ist ein unverändert hohes oder sogar noch wachsendes Maß an Ungleichheit zu beobachten, das gerade in den Kirchen auf wachsenden Widerspruch stößt. In der Forderung nach Gerechtigkeit verschafft sich dieser Wider- spruch seinen deutlichen Ausdruck.
In den Dokumenten der ökumenischen Versammlungen im Rahmen des konziliaren Prozesses erhält der Begriff der Gerechtigkeit deswegen eine ganz bestimmte Stoßrichtung. _)'la,ch der Erklärung von Stuttgart liegt in der Verantwortung fi.ir soziale (}~r_echtigkeit die Verpflichtung ,,zur Liebe und zur Solidarität vor allem gegenüber allen benachteiligten und unter- drückten Menschen und Völkern", die „Anerkennung gleicher Rechte für alle Menschen, die unbedingte Achtung ihrer personalen Würde und die Befriedigung ihrer existentiellen Grundbedürfnisse."
9;Das Schlußdoku- ment von Basel sieht als herausragendes Kennzeichen der alttestamentli- chen Forderung nach Gerechtigkeit die „Sorge und Fürsorge für die Armen und die Fremdlinge". Dies - so das Dokument - ist die Tradition, in der ,,Jesus selbst seine messianische Berufung als Verpflichtung zur Befreiung aller, der Armen, Leidenden und Unterdrückten, verstanden und gelebt hat."
10In ganz ähnlichem Sinne bekräftigt auch die ökumenische Weltver- sammlung von Seoul, „daß Gott auf der Seite der Armen steht".
11Diese wenigen Auszüge aus Dokumenten des konziliaren Prozesses zeigen: In der ökumenischen Bewegung zeichnet sich ein Konsens in der Grundrichtung des Gerechtigkeitsverständnisses ab. Gerechtigkeit wird von der Gleichheit aller Menschen her verstanden und beinhaltet eine besondere Option für die schwächsten Glieder der Gesellschaft.
8 Honecker, Rechtfertigung und Gerechtigkeit, 57. Vgl. auch Hauerwas, Should Christians Talk So Much About Justice?, 14: „ ... there simply is no generally accepted
~hristian