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Archiv "Stammzellforschung: Das Argument des Sokrates" (01.02.2002)

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D

as Denken des modernen Men- schen ist geprägt von den Abläufen der Technik. In der Rationalität der Technik ist das Verhältnis von Mittel und Ziel für alle klar. Gut ist ein techni- sches Mittel, wenn es effizient ist. Gut ist eine Druckmaschine, wenn sie schnell und kostengünstig Papier bedruckt, und besser ist ihr Nachfolgemodell, wenn es diese Effizienz zu erhöhen vermag. Kein technisches Mittel hat einen Wert in sich, sondern es definiert sich allein über sei- ne funktionale Brauchbarkeit.

Die Allgegenwart technischer und wirtschaftlicher Rationalität der Gegen- wart stellt eine Herausforderung für das philosophische Nachdenken über menschliches Handeln dar, das Ethik genannt wird. Auch menschliches Han- deln kennt Ziele ebenso wie Mittel zum Ziel. Die Frage drängt sich auf: Ist es nicht auch in der Ethik so, dass mit der Festlegung eines Zieles die Auswahl der Mittel nur noch eine Frage der Zweck- mäßigkeit darstellt? Wenn ein Ziel gut ist – kann es dann überhaupt noch ein anderes Kriterium für das Gutsein der Mittel geben als die Effizienz?

Das umfassende Gut-Sein

Um die Bedeutung der Thematik zu be- greifen, empfiehlt es sich, einen Blick auf den berühmtesten Justizmord der Ge- schichte zu werfen, der im Jahr 399 v. Chr.

stattfand. Sein prominentes Opfer: der griechische Philosoph Sokrates. Der tra- gische Urteilsspruch gegen ihn beruhte auf vielerlei Gründen, zu denen das allge- meine Klima weltanschaulicher Unsi- cherheit und eine gewisse Unbeholfen- heit der attischen Gesetze gehörten. Ori- entierungslos war Athen nach der Nie- derlage im Peloponnesischen Krieg vor

allem dadurch geworden, dass seine öf- fentliche Moral zu einer gesellschaftli- chen Konvention degeneriert war. Einen sichtbaren Beleg dafür bot die überragen- de Stelle der Sophisten, die Rhetorik und Manipulation an die Stelle objektiver Wahrheit gesetzt hatten. Durch sein kom- promissloses, ja herausforderndes Ver- halten gegen deren These von der bloßen Konventionalität der Moral galt Sokrates als unerhörter Provokateur. Sokrates wagte es, die scheinbar gesellschaftlich allgemein akzeptierte und gut legitimier- te Polis-Sittlichkeit der Athener freimütig im Namen allgemeingültiger Wahrheiten und Werte infrage zu stellen. Dies brach- te ihm den Tod ein.

Früh hat man er- kannt, dass der Tod des Sokrates mehr ist als einer der vielen bedau- erlichen Justizirrtümer der Geschichte. Er ist ein bis heute gültiges Paradigma für eine

Grundentscheidung in der Beurteilung sittlichen Handelns. Platon hat dies in seinem Dialog „Kriton“ zum Ausdruck zu bringen versucht. Dieser Dialog zwi- schen dem gleichnamigen Freund des Sokrates und dem Meister spielt in des- sen Gefängniszelle, morgens vor Son- nenaufgang, zwei Tage vor der Hinrich- tung. Im letzten möglichen Augenblick sucht Kriton seinen Freund auf, um ihn zur Flucht ins Ausland zu überreden; al- les Notwendige dafür hat er schon in die Wege geleitet. Doch Sokrates lehnt ab.

In den unterschiedlichen Argumenta- tionen des Kriton und des Sokrates an- gesichts des Problems „Fliehen oder bleiben?“ begegnen uns zwei grundsätz- liche, konträre Sichtweisen für die Beur- teilung menschlichen Verhaltens. Kriton argumentiert ganz vom übergeordneten (guten) Zweck her, der die Flucht als

Mittel zu solchem Zweck rechtfertigen soll. Man würde heute sagen: Kriton ar- gumentiert „teleologisch“ oder „verant- wortungsethisch“. Auf einen anderen Standpunkt stellt sich Sokrates. Für ihn zählt nur die Frage, ob die Handlung selbst, die zur Debatte steht, also die Flucht, als solche gerecht ist. Für ihn gilt das unumstößliche Axiom: Man darf auf keine Weise Unrecht tun. Kein überge- ordneter guter Zweck kann zur Legiti- mation eines Verhaltens dienen, das in sich betrachtet schlecht und ungerecht ist. Denn, so gibt der Philosoph seinem Freund Kriton zu bedenken: „Man soll nicht einfach dem Leben den größten Wert beimessen, sondern dem Recht- Leben“1. Darum entscheidet sich Sokra- tes dafür, den Geset- zen nicht zu entflie- hen und lieber den Tod zu erleiden, als ein Unrecht zu tun.

Sokrates ist zutiefst davon überzeugt, dass es in einer Entschei- dungssituation für den Handelnden allemal besser ist, „Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun“. Nicht ein Pragmatismus, der alles in Kauf nimmt, um seine Ziele und Interessen durchzu- setzen, ist das höchste Gut für den Men- schen, sondern das umfassendere Gut- Sein der Seele. Die moralische Integrität einer menschlichen Handlung wird also durch das Erleiden eines Unrechts nicht beeinträchtigt, wohl aber durch jedes Unrechttun – auch wenn es scheinbar nur den Bereich der Mittel betrifft. Das Un- rechttun ist nicht nur deshalb schlecht, wenn der Handelnde sich dadurch an ei- ner anderen Person vergeht, sondern es ist abzulehnen, weil der Handelnde sich selbst, sofern er ein zur Sittlichkeit be- fähigtes Wesen ist, damit schädigt. Diese Sittlichkeit orientiert sich an Handlungs- T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 5½½½½1. Februar 2002 AA271

Stammzellforschung

Das Argument des Sokrates

oder: Die Frage nach dem therapeutischen Gebrauch menschlicher embryonaler Stammzellen

* Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld ist Lehrbeauftrag- ter für Bioethik und Mitglied der Ethikkommission an der Charité, Humboldt-Universität, zu Berlin.

Kein übergeordneter guter Zweck kann zur Legitimation eines

Verhaltens dienen, das in sich betrachtet schlecht und ungerecht ist.

1Platon, Kriton, 47 d–48 b (Stuttgart 1998), S. 46.

Alfred Sonnenfeld*

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normen, die absolut und allgemein gel- ten, ohne dass übergeordnete Zwecke diese Geltung relativieren könnten. Dar- um gibt es konkrete Handlungsforderun- gen und -verbote, die sich jeglicher Ab- wägung entziehen.

Solche Verbotsnormen zeigen Gren- zen menschlichen Handelns an, die nicht überschritten werden dürfen. Ebenfalls wie für Sokrates sind für Aristoteles2ab- solute Handlungsverbote menschliche Handlungen, die immer gelten. Weil sie objektiv schlecht sind, das heißt: sie sind unter allen Umständen sittlich verdor- ben, deshalb sollen sie immer und für je- den Fall unterlassen werden. Das gilt auch dann, wenn solche Handlungen durch hinzukommende, gut gemeinte Absichten beeinflusst werden. Die mo- ralische Identität der absoluten Hand- lungsverbote kann durch keine dazu- kommende Absicht oder Folgenab- schätzung neu beschrieben oder neu de- finiert werden. Sie bleibt resistent ge- genüber allen hinzukommenden, gut ge- meinten Überlegungen.

Tugend der Gerechtigkeit

Absolute Handlungsverbote beziehen sich auf bestimmte Handlungsweisen, die einen konkreten ethischen Kontext ausdrücken, die, wenn sie dennoch be- gangen werden, einen schweren Verstoß gegen eine oder mehrere Tugenden im- plizieren3. Ein absolutes Handlungsver- bot wählen bedeutet, sich gegen eine be- stimmte Tugend zu entscheiden. So wird etwa durch die gezielte Tötung eines Embryos zu Forschungszwecken die Tu- gend der Gerechtigkeit empfindlich ge- troffen. Mit der Entfernung der inneren Zellmasse des Embryos im Blastozy- stenstadium wählt der Arzt den Tod ei- nes Menschen. Dieser Handlungsvoll- zug fällt immer unter die Intention des Tötens und prägt den Willen des Arztes.

Er ist in sich betrachtet ein Akt der Un-

gerechtigkeit, weil er die Entscheidung für den Tod eines unschuldigen Men- schen impliziert.

Die Tugend der Gerechtigkeit bedeu- tet ja vor allem, dass ich den anderen als mir Ebenbürtigen anerkenne. Die golde- ne Regel aber verbietet mir, dass ich dem Nächsten seine Existenz aberkenne:

„Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Dieses Le- bensrecht jeder Person ist die Grenze al- ler Güterabwägungen. Die Folgen einer solchen Handlung führen an erster Stelle zu einer Verformung im Willen des Han- delnden selbst. Sollte sich diese Hand- lung wiederholen, bliebe eine dauernde Verformung des Gewissens nicht aus4.

Um diese Gefahr zu vermeiden, sollte eine bioethische Debatte stattfinden, die nicht fragt, wie sich die Menschen fak- tisch verhalten, sondern wie sie sich ver- halten sollen. Medizinische Ethik zielt nicht darauf ab, ob eine Handlungsweise für richtig gehalten wird, sondern ob sie richtig ist, das heißt also, ob sie tatsäch- lich der menschlichen Würde dient. Das Argument des Sokrates bleibt aktuell. In der bioethischen Debatte geht es im We- sentlichen um dasselbe Problem wie da- mals: Es geht um die Frage nach der Ab- solutheit und Allgemeingültigkeit von Handlungsnormen angesichts von über- geordneten Zielsetzungen, die diese Normen scheinbar relativieren. Und ganz konkret geht es um die Frage, ob der Grundsatz, „dass man niemals die Tötung eines Unschuldigen als Mittel zu einem anderen Zweck anstreben oder wählen darf“5, zu diesen unantastbaren ethischen Grundsätzen zählt.

Das Ziel medizinischer Ethik zu for- mulieren scheint einfach zu sein: Es han- delt sich, so lautet ein überzeugender Vorschlag, um eine „Ethik des Heilens“.

Die Formel klingt überzeugend. Nie- mand wird bezweifeln, dass etwa im Blick auf einen Parkinson-Kranken die Heilung genau dieses Leidens für den Arzt eine ethisch gute Tat ist. Nun aber muss auch über die konkrete Umsetzung des ethischen Leitsatzes nachgedacht werden. Damit steht man vor dem ent- scheidenden Schritt in der aktuellen Stammzelldiskussion.

Beim Umgang mit Embryonen hat man es mit einer Handlung zu tun, die in sich selbst beurteilt werden muss, weil sie ein Objekt betrifft, das stets in sich, in sei-

nem Eigenwert, und niemals bloß als Mit- tel fremder Zwecke zu betrachten ist.

Denn mit der Vereinigung der beiden Vor- kerne von Ei- und Samenzelle ist die gene- tische Identität des neu entstandenen menschlichen Lebens fixiert. Damit ist sei- ne Zugehörigkeit zur menschlichen Spe- zies festgelegt. Seine Sonderstellung liegt im einzigartigen Chromosomensatz be- gründet, der das inhärierende Potenzial ei- ner kontinuierlichen Entwicklung in sich vereint. Somit kommt dem Embryo in vollem Umfang Menschenwürde zu. Jede andere Position würde eine Instrumentali- sierung der Menschenwürde bedeuten.

Die Würde des Menschen

Erst in der ganzheitlichen, Ziel und Mit- tel in ihrem untrennbaren Zusammen- hang berücksichtigenden Betrachtung wird medizinische Ethik ihrem An- spruch gerecht, „Ethik des Heilens“ zu sein. Denn auch der Heilungswille darf den Arzt nicht dazu veranlassen, die ethische Betrachtung einer Handlung am Maßstab einer aspekthaften, am Pa- radigma der Technik ausgerichteten Zweckrationalität vorzunehmen. In der Technik kann das Mittel zur reinen Funktion erklärt werden, ohne dass man den Gesamtprozess falsch einschätzt.

Menschliches Handeln dagegen ist nur dann gut, wenn das gute Ziel auch durch solche Mittel verwirklicht wird, die in sich der Würde des Menschen, den man behandelt, nicht widersprechen. Be- handelt wird aber nicht nur der Patient, sondern auch der ungeborene Mensch, dessen Körpermaterial man benutzen will. Therapeutisches Handeln ist wie je- des Handeln nur dann „gut“ im umfas- senden Sinne, wenn darin der Mensch in jedem Stadium seiner Existenz davor ge- schützt wird, zum bloßen Mittel erklärt und damit als Person negiert zu werden.

Nur wenn der Arzt in diesem größeren Sinne „gut“ handeln will, tut er etwas, das ihn selbst erfüllen kann.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 271–272 [Heft 5].

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld Universitätsklinikum Charité

Ethik-Kommission des Virchow-Klinikums. Lehrgebäude Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin

T H E M E N D E R Z E I T

A

A272 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 5½½½½1. Februar 2002

2Aristoteles, Nikomachische Ethik, II, 61107 a 9–18.

3Vgl.: Rhonheimer M: Die Perspektiven der Moral. Philo- sophische Grundlagen der Tugendethik (Berlin 2001), S. 303–321.

4Vgl.: Sonnenfeld A: Selbstverwirklichung oder Selbst- vernichtung. Gewissen und ethisches Handeln im ärztli- chen Beruf, in: Dtsch Arztebl, 1990; 87: A 1507–1515 [Heft 19].

5Vgl.: Röm, 3,8, in abgewandelter From: „Man darf nie etwas Schlechtes tun, um ein Gut zu erwirken.“

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