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Archiv "Unterschätzte Suizidraten durch unterschiedliche Erfassung in Gesundheitsämtern" (05.05.2006)

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ach Angaben der Weltgesund- heitsorganisation (WHO) ist der Suizid weltweit eine der drei Haupttodesursachen in der Altersgrup- pe von 15 bis 34 Jahre. In der Regel ist der Suizid Folge einer psychischen Er- krankung. Mehr Männer als Frauen be- gehen einen Suizid, und die Rate steigt mit zunehmendem Alter an. Soziale In- stabilität und Armut sind nach Befun- den in verschiedenen Ländern – auch in Deutschland – bedeutende Risikofak- toren für suizidales Verhalten (1). Die Suizidrate ist deshalb Teil der regel- mäßigen Gesundheitsberichterstattung des Bundes und vieler Länder.

Dem Statistischen Bundesamt zufol- ge war die absolute Zahl erfasster Suizi- de in Deutschland im Zeitraum 1999 bis 2003 gleich bleibend (11 157 beziehungs- weise 11 150). Entsprechend änderte

sich der relative Anteil kaum von 13,2 Suiziden/100 000 Einwohner im Jahr 1999 auf 13,5 Suizide/100 000 im Jahr 2003 (2). Im Vergleich übersteigt die Zahl der Suizide seit Jahren beispiels- weise die Zahl der durch Verkehrsunfäl- le getöteten Personen in Deutschland (7 986 im Jahr 1999 und 6 606 im Jahr 2003) um fast das Zweifache (2).

In Deutschland umfasst die Todes- ursachenstatistik alle im Berichtsjahr Gestorbenen ohne die Totgeborenen, die nachträglich beurkundeten Kriegs- sterbefälle und die gerichtlichen To- deserklärungen. Sie stützt sich auf den

Leichenschauschein, der von dem den Tod feststellenden Arzt ausgefüllt wird, sowie auf die Sterbefallzählkarte, die der Standesbeamte aufgrund der Todesfal- lanzeige erstellt. Die Eintragungen zur Todesursache im Leichenschauschein werden gemäß den Regeln der WHO signiert und unterliegen in Deutschland der Gesetzgebungskompetenz der Bun- desländer (3). Nachdem der den Toten- schein ausstellende Arzt den nichtver- traulichen und den vertraulichen Teil des Totenscheines ausgefüllt hat, werden die Kopien für das Standesamt und die Friedhofsverwaltung getrennt und ent- sprechend weitergeleitet (nichtvertrauli- cher Teil). Das Gesundheitsamt des Ster- beortes erhält die Kopien des vertrauli- chen Teils. Es leitet eine Kopie an das Gesundheitsamt des Wohnortes und ei- ne Kopie an das Landesamt für Daten-

Unterschätzte Suizidraten durch unterschiedliche Erfassung

in Gesundheitsämtern

Mechtild M.T. Vennemann1 Klaus Berger1 Dirk Richter2 Bernhard T. Baune3

Zusammenfassung

Einleitung: Suizide sind ein wichtiger Indikator der Gesundheitsberichterstattung des Bundes und der Länder. Suizidraten variieren jedoch in allen Bundesländern auch kleinräumig erheb- lich. Ihre valide Kodierung im Rahmen der To- desursachenstatistik erfordert die Zusammen- führung von Informationen aus multiplen Da- tenquellen der Gesundheitsämter und gegebe- nenfalls von Polizei, Staatsanwaltschaft und Rechtsmedizin. Der Einfluss von Vollständig- keit und Qualität dieser Informationen auf die entsprechende Suizidrate ist unbekannt.

Methoden: Die Autoren untersuchten in fünf Gemeinden in Nordrhein-Westfalen alle Toten- scheine der Jahre 2002 und 2003 auf erfasste Suizide und verglichen diese mit den offiziellen Suizidraten aus dem Landesinstitut für öffentli- che Gesundheit (LÖGD). Ziel war es herauszu- finden, ob die Datenvollständigkeit und -qua- lität die erfassten Raten beeinflussen.

Ergebnisse: In den Jahren 1998 bis 2002 sank die offizielle Rate der Suizide in NRW von 9,41 auf 8,44 pro 100 000 und die Rate der unklaren Todesfälle stieg von 22,6 auf 27,1. Bei Durch- sicht der Todesbescheinigungen der fünf Ge- meinden wurden insgesamt 44 undokumen- tierte Suizide entdeckt und damit insgesamt ei-

ne Unterschätzung der Suizidrate von elf Pro- zent ermittelt. In drei von fünf Gesundheitsäm- tern wurden vorhandene oder im Prinzip ver- fügbare Zusatzinformationen zum Totenschein für die Suiziderfassung nicht genutzt.

Schlussfolgerung: Das Management des Toten- scheins im Gesundheitsamt beeinflusst die lo- kale Suizidrate erheblich. In der Mehrheit der Gesundheitsämter führt die Nichtberücksichti- gung aktuell vorhandener oder potenziell ver- fügbarer Informationen zu einer systemati- schen Unterschätzung der Suizidraten.

Schlüsselwörter: Suizid, Todesursache, Leichen- schau, Prävention, Gesundheitsberichterstattung

Summary

The mechanisms of suicide underreporting in North Rhine-Westphalia

Introduction: Suicide statistics represent an im- portant health indicator for any country, but suicide rates are often underestimated. Suicide rates in Germany for the year 2002 varied con- siderably among communities in Germany's largest state of North Rhine-Westphalia. The degree of underreporting and the reason for the marked differences in suicide rates is poor- ly understood.

Methods: We examined all death certificates for a documented suicide in five communities for the years 2002 and 2003 and compared these findings with the official suicide rates reported by the state health statistics.

Results: Between 1998 and 2002 the state's sui- cide rates decreased from 9.41 to 8.44 per 100,000, but the rate of deaths of unknown cause increased from 22.57 to 27.12. We found 44 documented but unassessed suicides among all death certificates of the five communities examined. This yields an overall underreport- ing of 11 per cent of all suicides. All available data sources were only used in two of five local health departments, despite being actually or potentially available in all offices.

Conclusion: Failure to consider all available in- formation led to incomplete suicide assess- ment in two of five local health departments.

Death certificate management at a local level contributed to variations in local suicide rates.

Since change in suicide rates is often used as an outcome measure of community based in- tervention programs, state-wide standardiza- tion in the management of death certificates is needed.

Key words: suicide, cause of death, autopsy, prevention, health report

1Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin (Direktor:

Prof. Dr. med. Ulrich Keil), Universität Münster

2Westfälische Klinik Münster (Direktor: Prof. Dr. med.

Thomas Reker), Münster

3Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Direktor:

Prof. Dr. med. Volker Arolt), Universitätsklinikum Münster

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verarbeitung und Statistik (LDS) weiter.

In dieser Kopie sind Name, Geburtsort, der zuletzt behandelnde Hausarzt/das Krankenhaus, die Epikrise und der Na- me des Arztes, der den Totenschein aus- gestellt hat, geschwärzt.

In Nordrhein-Westfalen (NRW) muss bei Verdacht auf einen Suizid der den Totenschein ausstellenden Arzt auf dem Totenschein entweder unklare oder un- natürliche Todesart ankreuzen und die Polizei informieren. Notärzte haben die Möglichkeit, einen vorläufigen Toten- schein auszustellen, wenn sie den To- ten nicht vorher kannten und deshalb keine qualifizierte Aussage zur Todes- ursache machen können (3). Der end- gültige Totenschein kann in diesem Fall vom Rechtsmediziner oder vom Haus- arzt ausgestellt werden. Anhand der To- desursache auf dem Totenschein wird die Todesursachenstatistik des Landes Nordrhein-Westfalens durch das Lan- desamt für Statistik (LDS) erstellt.

Im aktuellen internationalen Klassifi- kationssystem Version 10 (ICD-10) wird der Suizid als Tod durch vorsätzliche Selbstbeschädigung definiert (ICD-10:

X60-X84). Darüber hinaus werden im ICD-10-System die Kategorien „sonsti- ger Tod unbekannter Ursache“ (ICD10:

R96), „Tod ohne Anwesenheit anderer Personen“ (ICD10: R98) und „sonstige ungenau oder nicht näher bezeichnete Todesursachen“ (ICD10: R99) klassifi-

ziert, die sich als „Tod unklarer Ursache“

zusammenfassen lassen.

Ausgehend von den Zahlen der durch das Landesamt für den öffentli- chen Gesundheitsdienst (LÖGD) für NRW erstellten Todesursachenstatistik untersuchten die Autoren, ob sich durch Verwertung aller auf einem Toten- schein vorhandener Informationen zu- sätzliche Suizide, die bislang nicht als solche klassifiziert worden waren, fest- stellen ließen. Ziel war es herauszufin- den, ob sich durch Änderung organisa- torischer Abläufe in einer Gemeinde oder durch bessere Nutzung vorhande- ner Informationen die Erfassung von Suiziden erhöhen ließ.

Methoden

Auswahl der Städte und Datenerhebung

In fünf benachbarten Gemeinden in NRW sichteten die Autoren alle Toten- scheine aus den Jahren 2002 bis 2004.

Eingeschlossen in diese Untersuchung wurden vier Städte und ein Landkreis.

Die fünf Gemeinden spiegeln das Spek- trum der Suizidhäufigkeit in NRW wi- der und entsprechen dem oberen, mitt- leren und unteren Drittel der Suizid- häufigkeit in NRW. Ihre offiziellen Sui- zidhäufigkeiten unterschieden sich um

den Faktor 2,5. Alle kontaktierten Ge- sundheitsämter waren bereit, an der Studie mitzuwirken. Die Anonymität der Städtenamen wurde vereinbart.

Alle Totenscheine in den Gesund- heitsämtern dieser fünf Gemeinden wurden für die Jahre 2002 bis 2004 ge- sichtet und anhand aller auf dem Toten- schein genannten Hinweise hinsichtlich einer möglichen Selbsttötung beurteilt.

Sämtliche Informationen, die im ver- traulichen und im nichtvertraulichen Teil dokumentiert waren, wurden im Ent- scheidungsprozess verwendet. Ebenso wurden zusätzliche Informationen, wie angeheftete Notizen oder beigelegte Obduktionsergebnisse in die Diagnose miteinbezogen. Danach wurde Ge- schlecht, Alter und Art der Selbsttötung dokumentiert. Personenbezogene Da- ten wurden nicht erhoben. In die Zäh- lung gingen nur sichere Suizide ein. Dro- gentote wurden ausgeschlossen, weil nicht mit Sicherheit hätte entschieden werden können, ob ein Unfall oder eine Überdosis mit Selbsttötungsabsicht vor- lag. Ebenso wurden alle verdächtigen Autounfälle und Tote ausgeschlossen, die in Gewässern gefunden wurden, da ebenfalls nicht mit Sicherheit auf Unfall oder Suizid hätte geschlossen werden können. Entsprechend des üblichen me- thodischen Vorgehens des LÖGD wur- den die Ergebnisse altersstandardisiert in Hinblick auf die europäische Bevölke- rung aufbereitet. Durch diese Standardi- sierung werden mögliche Alterseinflüsse auf die Suizidraten beseitigt.

Statistische Auswertung

Um die Fragestellung zu überprüfen, ob die offiziellen Suizidstatistiken von der erhobenen Suizidrate abweichen, vergli- chen die Autoren die Ergebnisse mit der offiziellen Statistik des Landesamtes für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (LÖGD) aus den Jahren 2002 und 2003.

Für 2004 liegen noch keine Zahlen aus dem Landesamt für Statistik (LDS) vor.

Darüber hinaus analysierten die Au- toren die Verteilung der Suizide bezüg- lich Alter (Aufteilung in Tertilen: < 40 Jahre, 40 bis 59 Jahre,60 Jahre), Ge- schlecht und Art der Selbsttötung (wie Erhängen, Todessprung, Überfahren mit Schienenfahrzeug, Tabletten).

Prozentualer Anteil der Todesarten von Suizidfällen in den untersuchten Gemeinden A bis E Grafik 1

(3)

Ergebnisse

In den fünf in die Untersuchung einbe- zogenen Gemeinden wurden 45 000 To- tenscheine geprüft. Für die Jahre 2002 und 2003 konnten darunter 383 sichere Suizide dokumentiert werden.

In allen Gemeinden war die überwie- gende Mehrheit der Suizidenten Män- ner, ihr Anteil variierte zwischen 61 (n = 39) und 71 Prozent (n = 60). Auch der Anteil Älterer (über 60 Jahre) ist in allen Gemeinden sehr ähnlich und be- trägt 40 (n = 34) bis 46 Prozent (n = 69) aller Suizide.

Die Haupttötungsart war das Erhän- gen sowohl bei Männern (54 Prozent, n = 137) als auch bei Frauen (38 Prozent, n = 48). Die zweithäufigste Todesart der Suizidenten war eine Tablettenintoxika- tion (Männer 12 Prozent; Frauen 21 Pro- zent), gefolgt von Todessprung (Männer 10 Prozent; Frauen 18 Prozent) und Tod durch Sprung vor einen fahrenden Zug (Männer 8 Prozent; Frauen 5 Prozent).

Im Gesundheitsamt der Stadt A wur- den für den Zeitraum 2002 bis 2003 zu- sätzlich zu den offiziellen Statistiken 5 Prozent Totenscheine mit sicheren Suizi- den identifiziert (Grafik 1). In der Stadt C wurden für die zwei Jahre zusätzlich 7 Totenscheine ermittelt, aus deren Infor- mationen ein Suizid sicher abgeleitet werden konnte. Hieraus ergibt sich eine Unterschätzung von 20 Prozent. In dem Landkreis E wurden in den Jahren 2002 und 2003 insgesamt 14 Totenscheine nicht als Suizide gemeldet (16 Prozent Unterschätzung). In der Stadt D wurden 17 Suizide nicht ans Landesamt für Da- tenverarbeitung und Statistik gemeldet, woraus eine Unterschätzung von 27 Pro- zent resultiert. Die offizielle Statistik für die Stadt B wies einen Totenschein mehr auf als in dieser Untersuchung dokumen- tiert werden konnte, was einer Über- schätzung durch die offizielle Statistik von 2 Prozent entspricht. Basierend auf den fünf Gemeinden betrug die durch- schnittliche Unterschätzung der offiziel- len Suizidstatistiken 11 Prozent.

InGrafik 2ist der Anteil der unent- deckten Suizide an den offiziellen Suizid- zahlen pro Gemeinde aufgelistet. Der re- lative Anteil an unentdeckten Suiziden ist am höchsten in der Stadt D (27 Prozent), gefolgt von C (20 Prozent), dem Land- kreis E (16 Prozent) und A (5 Prozent).

Die Abbildung zeigt einen Toten- schein aus einer der fünf Gemeinden, der ohne weitere Korrektur ans LDS weiter- geleitet wurde. Aus diesem Totenschein geht hervor, dass die unmittelbare Todes- ursache sowie die ursächlichen Grundlei- den nicht ausgefüllt waren. Der den To- tenschein ausstellende Arzt hat aber aus- führlich in der Epikrise die Strangulation sowie die Auffindezeit notiert. Da aber die Epikrise zum vertraulichen Teil des Totenscheines gehört, wird diese ge- schwärzt. Somit erhält das LDS diese In- formation nicht, sondern lediglich vier leere Zeilen zum Kodieren nach ICD 10.

Diskussion

Ein Vergleich der Suizidraten (ICD-10:

X60-X84) mit den Raten unklarer Todes- ursachen (ICD10:R96,98,99) pro 100 000 Einwohner am Beispiel des bevölke- rungsreichsten Bundeslandes Nordrhein- Westfalen für die Jahre 1998 bis 2002 zeigt eine inverse Beziehung zwischen diesen beiden Parametern (Tabelle 1): Je höher die Verhältniszahl (Tabelle 1, rechte Spal-

te)zwischen den beiden Raten ist, desto mehr unklare Todesfälle entfallen auf ei- nen registrierten Suizid.

Diese Ergebnisse weisen auf eine be- merkenswerte Tendenz hin, wonach eine vergleichsweise niedrige Suizidrate mit einer relativ hohen Rate an unklaren To- desfällen und umgekehrt einherzugehen scheint (4). Die Autoren gingen dieser Beobachtung nach und untersuchten, ob die tatsächliche Suizidrate aufgrund me- thodischer Mängel bei der Dokumentati- on von Suiziden im Rahmen der offiziel- len Todesursachenstatistik in fünf Ge- meinden in NRW systematisch unter- schätzt wurde (Tabelle 2). Dabei wurde ein nachträgliches Verifizieren der Toten- scheine unter Verwendung aller auf dem Totenschein verfügbarer Informationen in den einzelnen Gemeinden vorgenom- men und untersucht, ob sich die Suizidra- ten hinsichtlich Alter, Geschlecht und Art der Selbsttötung unterscheiden.

Im Ergebnis zeigte sich eine systema- tische Unterschätzung der offiziellen To- desursachenstatistik in den untersuchten Städten im Mittel um 11 Prozent. Wenn diese Art der Unterschätzung in ganz Nordrhein-Westfalen ähnlich sein sollte, wären nach Extrapolation dieser Ergeb- nisse für das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 2003 etwa 200 Suizide offiziell zu wenig gemeldet worden.

Durch die Untersuchung überprüften die Autoren die sonst übliche Auswer- tung der Totenscheine in den Gesund- heitsämtern,die die Grundlage für die of- fiziellen Mortalitätsstatistiken darstellt.

Mit der hier dargestellten Methode konnte man sicherstellen, dass alle Infor- mationen auf den Totenscheinen zur Ent- scheidung darüber, ob ein Suizid vorgele- gen hat, genutzt wurden. Die umfangrei- che Nutzung der Totenscheininformation (Anhänge, Informationen unter der Sek- Prozentuale Abweichung der offiziellen Suizid-

raten (LÖGD) von den gefundenen für die Jahre 2002 und 2003 in den Gemeinden A bis E

Grafik 2

´ Tabelle 1 ´

Standardisierte Suizidrate und Rate unklarer Todesfälle in Nordrhein- Westfalen pro 100 000 Einwohner zwischen 1998 und 2002

Jahr Suizidrate/ Rate unklarer Todesfälle Verhältnis der Raten 100 000 Einwohner pro 100 000 Einwohner unklare Todesfälle vs. Suizide

2002 8,44 27,12 3,21

2001 8,34 30,14 3,61

2000 8,34 28,93 3,47

1999 8,49 24,67 2,90

1998 9,41 22,57 2,40

(4)

tion „Epikrise“ auf dem Totenschein) bil- det im Gegensatz zur offiziellen Zählwei- se der eingetragenen Todesursachen, die sich auf die Sektion „Todesursachen“ auf dem Totenschein beschränkt, die Mög- lichkeit einer vollständigeren Erfassung der Suizide. Die bisherige verbreitete Zählweise ist verantwortlich für die sy- stematische Unterschätzung der Suizid- raten in NRW. Durch die Untersuchung konnten die Autoren die Richtigkeit der Diagnose auf dem Totenschein nicht ve- rifizieren. Ebenso wenig konnte die Richtigkeit der Kodierung der verschie- denen Einträge durch das Landesamt für Statistik (LDS) abgeschätzt werden.

Die Autoren hatten sich auf die Hand- habung der Totenscheine in den Gesund- heitsämtern beschränkt. In den Gesund- heitsämtern A und B werden alle Toten- scheine zurückgehalten, bei denen eine polizeiliche Untersuchung noch nicht ab- geschlossen ist oder ein Obduktionser- gebnis noch aussteht. Erst wenn diese In- formationen vorliegen und dadurch eine eindeutige Diagnose beziehungsweise Todesursache festgelegt werden konnte, wird diese nachgetragen (beispielsweise

„Suizid durch Strangulation laut Krimi- nalkommissar Mustermann, Anruf am 1. 1. 2003“).Anschließend wird in diesem Gesundheitsamt die Kopie an das LDS weitergeleitet. Im Gesundheitsamt der Stadt C hingegen wurden diese Ergebnis- se nur von der Kriminalpolizei nach- gereicht, Obduktionsergebnisse werden nicht gewertet, weil diese erst am Ende eines Jahres dem Gesundheitsamt zur Verfügung stehen.Allerdings werden die

Ergebnisse der kriminalpolizeilichen Er- mittlung nicht auf dem Totenschein fest- gehalten, sondern separat notiert und an den Totenschein befestigt. In dieser Stadt wird die Kopie an das LDS nicht korri- giert oder ergänzt und somit werden die- se Erkenntnisse nicht ans LDS weiterge- leitet. Da das LDS zwar den vertrauli- chen Teil des Totenscheines erhält, aber die Epikrise darin geschwärzt ist, können bestimmte Informationen aus der Epi- krise, die Aufschluss über die tatsächliche Todesursache geben könnten, nicht ko- diert werden (Abbildung). In den Ge- sundheitsämtern der Stadt D und des Landkreises E wurden ebenfalls Infor- mationen von der Polizei nicht ergänzt.

Die Informationen, die von Kriminal- polizei und Rechtsmedizinern gesammelt werden, wurden in diesen fünf Städten nur von zwei Gesundheitsämtern syste- matisch zusammengestellt und die mögli-

chen Fehldiagnosen auf den Totenschei- nen nachträglich korrigiert.Es wäre wün- schenswert, wenn alle lokalen Informa- tionsquellen (Kriminalpolizei, Staatsan- waltschaft, Obduktionsergebnisse) über einen unklaren Tod an einer Stelle syste- matisch erfasst und analysiert und nach- folgend Todesursachen gegebenenfalls ergänzt oder korrigiert würden.

Andere Gründe für eine systematische Unterschätzung der Suizide könnten dar- in liegen, dass ein Trend zur Diagnosever- schiebung auf den Totenscheinen hin zu

„unklare“ und „unbekannte“ Todesursa- che besteht. Darüber hinaus tragen gerin- ge Obduktionsraten bei unklaren Todes- fällen ebenso wie die Dunkelziffer bei Autounfällen und Drogentoten zur Un- terschätzung der Suizide bei (5, 6).

Die in dieser Untersuchung gezeigte systematische Unterschätzung der Sui- zidraten hat Auswirkungen auf die Be- Abbildung: Beispiel für einen Totenschein mit Hinweisen zur tatsächlichen Todesursache

´ Tabelle 2 ´

Standardisierte Suizidrate und Rate unklarer Todesfälle in fünf Gemeinden in Nordrhein-Westfalen pro 100 000 Einwohner im Jahr 2002

Gemeinde und Suizidrate/ Rate unklarer Todesfälle Verhältnis der Raten Einwohnerzahl 100 000 Einwohner pro 100 000 Einwohner unklare Todesfälle vs. Suizide

Gemeinde A 12 25 2,17

> 500 000

Gemeinde B 12 33 2,75

100 000–500 000

Gemeinde C 5 33 7,07

100 000–500 000

Gemeinde D 8 32 4,23

100 000–500 000

Gemeinde E 6 18 2,95

100 000–500 000

(5)

wertung der offiziellen Todesursa- chenstatistiken. Da Todesursachenstati- stiken als Gesundheitsindikatoren letzt- lich auch Grundlage für politische Ent- scheidungen über Mittelzuweisungen mit dem Ziel der Bekämpfung bestimmter zum Tode führender Krankheiten heran- gezogen werden, hat eine systematische Unterschätzung der Suizidraten erhebli- che politische und gesellschaftliche Be- deutung. Darüber hinaus hat die Deut- sche Gesellschaft für Suizidprävention die Entwicklung eines Nationalen Suizid- präventionsprogramms zur Primär-, Se- kundär- und Tertiärprävention von Suizi- den für Deutschland initiiert (7). Ande- rerseits wird für die Berufspolitik gefor- dert, Fragen der Suizidprävention und Krisenintervention zu einem obligatori- schen Bestandteil der Ausbildungs- und Studienordnungen psychosozialer und medizinischer Berufe zu machen (8, 9).

Diese Untersuchung erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität, das heißt, die Ergebnisse können nicht ohne Weiteres für ganz Nordrhein-Westfalen verallgemeinert werden. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass das lo- kale Totenscheinmanagement und die beschriebene inkomplette Nutzung vor- handener Informationen auch in ande- ren Städten und Regionen zu einer Dis- krepanz zwischen der offiziellen Suizid- rate und den tatsächlichen Suiziden führt. Da Totenscheinanforderungen und Todesursachenkodierung in Deutsch- land Ländersache sind, ist es auch nicht möglich eine Unterschätzung für die Bundesrepublik Deutschland hochzu- rechnen.Allerdings gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die beschriebenen Defizite in der lokalen Informationsver- wertung auf NRW beschränkt sind. Des- halb werfen diese Ergebnisse die Frage auf, in welcher Weise der in den letzten Jahren für Deutschland festgestellte Rückgang der Suizidraten durch eine sy- stematische Unterschätzung beeinflusst wurde. Ferner muss davon ausgegangen werden, dass die in Deutschland festge- stellten Suizidraten für internationale Vergleiche nur eine eingeschränkte Vali- dität aufweisen (10). Ebenfalls bleibt un- klar, ob die positiven Effekte von geziel- ten Suizidpräventionsprojekten (bei- spielsweise Behandlung der Depression) auf die Suizidraten einem tatsächlichen Trend entsprechen (11).

Schlussfolgerungen

Die vorliegende Untersuchung zeigt ei- nen bedeutsamen Anteil undokumen- tierter Suizide, die nicht in die offiziellen Suizidstatistiken einfließen. Wenn Infor- mationen zu ungeklärten Todesfällen sy- stematisch gesammelt, evaluiert und ge- gebenenfalls die Todesursachen auf den Totenscheinen korrigiert würden, könnte eine Quelle systematischer Fehler ausge- schaltet und Raten in unterschiedlichen Städten und Bundesländern besser ver- glichen werden. Die Unterschätzung der Suizidraten kann Auswirkungen auf die Evaluation von Interventionen zur Sui- zidprophylaxe auf Gemeindeebene, aber auch auf gesundheitspolitische Entschei- dungsprozesse ausüben.

Manuskript eingereicht: 26. 10. 2005, revidierte Fassung angenommen: 13. 2. 2006

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(18): A 1222–1226.

Literatur

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3. Madea B, Dettmeyer R: Ärztliche Leichenschau und Todesbescheinigung. Dtsch Arztebl 2003; 101(48):

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4. Schmidtke A, Weinacker B, Fricke S: Epidemiologie von Suizid und Suizidversuch. Nervenheilkunde 1996; 15: 496–506.

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http://www.loegd.nrw.de/ 2005.

10. Huusko R, Hirvonen J: The problem of determining the manner of death as suicide or accident in border- line cases. Z Rechtsmed 1988; 100: 207–13.

11. Hegerl U, Althaus D, Niklewski G, Schmidtke A: Opti- mierte Versorgung depressiver Patienten und Suizid- prävention: Ergebnisse des „Nürnberger Bündnisses gegen Depression“. Dtsch Arztebl 2003; 100(42):

A 2732–7.

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Mechtild M.T. Vennemann, MPH Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin Universitätsklinikum Münster

Domagkstraße 3 48149 Münster

E-Mail: vennemam@uni-muenster.de

Am 12. und 13. Mai findet in Ludwigshafen der 5. Deutsche Kongress für Versorgungsforschung statt. Aus diesem Anlass und aufgrund des regen In- teresses seitens der Versorgungsforscher wiederholen wir unseren Manus- kriptaufruf aus Heft 12. Wir ermutigen Autoren dieser Forschungsrichtung ausdrücklich, wissenschaftliche Originalarbeiten bei der Medizinisch-Wis- senschaftlichen Redaktion des Deutschen Ärzteblattes einzureichen.

Es sollte sich um neue Daten handeln, die für die allgemeine Leserschaft des Deutschen Ärzteblattes von praktischem und klinischem Interesse sind.

Entsprechende Originalarbeiten würden nach einer redaktionellen Voraus- wahl dem obligaten Peer-Review-Verfahren unserer Zeitschrift zugeführt.

Über eine Veröffentlichung würde dann auf der Basis von Gutachten ent- schieden.

Wir bitten die Autoren bei der Manuskripterstellung um die genaue Ein- haltung unserer Autorenhinweise (www.aerzteblatt.de). In diesem Zusam- menhang sei ausdrücklich auf die Umfangsgrenzen der Artikel für den Me- dizinisch-Wissenschaftlichen Teil des Deutschen Ärzteblattes hingewiesen.

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