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Archiv "Legasthenie: Neuere Aspekte der Forschung und ihre Anwendung in der Therapie" (10.10.1984)

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Chemonukleolyse

Operationsindikation Band- scheibenrezidive oder Band- scheibenvorfälle in anderer Hö- he und Versager der Chemo- nukleolyse. Die Argumentation mit einer gewissen Letalität und Morbidität der Operation als ei- ne Indikation für die Injektions- therapie ist nicht stichhaltig. Al- te Statistiken besagen nicht viel. So ist die moderne Opera- tion unter dem Mikroskop ge- webs-, struktur- und statikscho- nend und in der Hand des Er- fahrenen weitgehend risikolos.

Im Augenblick ist vor jeder überschwenglichen Propagie- rung des Verfahrens der Che- monukleolyse und der Präpara- te sowie einer Anwendung auf breiter Front abzuraten, nicht zuletzt wegen der diffizilen In- jektionstechnik, welche beson- dere Erfahrung und technische Einrichtungen erfordert. Die kli- nische Anwendung des Verfah- rens sollte beschränkt bleiben und kritisch vorgenommen wer- den. Die bisherigen Frühergeb- nisse sprechen für einen de- kompressiven Effekt der Che- monukleolyse. Bestimmte Richtlinien für die Indikation und Kontraindikation zeichnen sich ab. Die Chemonukleolyse

ist keine Alternative zur Opera- tion, sondern eine Erweiterung der therapeutischen Möglich- keiten mit vermutlicher Ein- schränkung der Operationsindi- kation.

Professor Dr. med. Dr. h. c.

Hans-Werner Pia

Direktor der Neurochirur- gischen Universitätsklinik Justus-Liebig-Universität Klinikstraße 29, 6300 Gießen Professor Dr. med.

Gerhard Exner, Leiter der Orthopädischen Klinik Philipps-Universität Marburg Robert-Koch-Straße 8 3550 Marburg/Lahn

Alternativpräparat zum Chymopa- pain anbietet, werden diejenigen Patienten, bei denen der kutane Allergietest eine Überempfind- lichkeit auf Chymopapain zeigt, einem „offenen" Eingriff (interla- minäre Fensterung oder Hemila- minektomie) unterzogen. Sollten die Probleme der Anwendung von Kollagenase ausgeräumt werden können, könnte diese Substanz als Alternative zum Chymopapain bei der „selektiven Chemonukleo- lyse" injiziert werden.

5. Eigene Erfahrungen

Eigene Erfahrungen bestehen bei 320 Patienten, die in der Zeit vom 1. 2. 1983 bis 25. 5. 1984 an der Neurochirurgischen Klinik des Universitätsklinikums Steglitz der Freien Universität Berlin wegen eines lumbalen Bandscheibenvor- falles einer Chemonukleolyse mit Chymopapain unterzogen wur- den.

Erste Ergebnisse wurden ander- orts veröffentlicht (5). Die katam- nestische Beobachtung sieht rou- tinemäßige ambulante Kontrollun- tersuchungen nach 1, 3 und 6 Mo- naten vor. Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf den nach 6 Monaten abgeschlossenen Beobachtungen bei den ersten 100 Patienten.

Die mittlere stationäre Aufent- haltsdauer der Patienten betrug 7 Tage. Von den ersten 100 Patien- ten mußten bis zum Januar 1984

(Gesamtbeobachtungszeitraum bis zu 12 Monaten) 24 (24 Prozent) nachoperiert werden. Die Nach- operation erfolgte zwischen 2 Ta- gen und 7 1 /2 Monaten nach der Chemonukleolyse (von den ersten 242 Patienten wurden bis zum Februar 1984 50 nachoperiert [20,6 Prozent] ).

Bei insgesamt 61 der ersten 100 Patienten konnte eine Abschluß- kontrolluntersuchung nach 6 Mo- naten durchgeführt werden (24 waren „offen" operiert worden und die restlichen 15 waren mit nem verengten Wirbelkanal.

Der mediale Bandscheibenvor- fall mit Kaudalähmung und ebenso der laterale Vorfall mit kompletter sensomotorischer Wurzellähmung bedürfen der sofortigen Operation.

Indikation und Kontraindikation der kausalen Therapie im Ein- zelfall verlangen ein Höchstmaß an klinischer und neuroradiolo- gischer Erfahrung zur Diagnose und Differentialdiagnose des je- weiligen mono- oder biradikulä- ren Beschwerde- und Krank- heitsbildes. Ob die Chemonu- kleolyse die Operation in den indizierten Fällen verdrängen oder gar ersetzen wird, läßt sich bei den bisher kurzen Ver- laufsbeobachtungen nicht über- sehen. Langzeitverläufe nach mindestens fünf Jahren, besser noch längere, bleiben abzuwar- ten. Gegenüber der Chemonu- kleolyse deckt die Operation die jeweilige Ursache der Kom- pression zuverlässig auf und beseitigt sie kausal. Kompres- sionen und Schädigungen wer- den im wesentlichen durch den Bandscheibenvorfall in seinen verschiedenen Formen hervor- gerufen: Vorfall in Höhe des Zwischenwirbelspaltes, se- questrierter Vorfall unter dem intakten hinteren Längsband mit kranialem oder kaudalem, lateralem oder medialem Vor- treten und Vorfall mit freiem Sequester oder freien Seque- stern im Wirbelkanal bei Riß des hinteren Längsbandes.

Nicht selten sind andere Verän- derungen allein verantwortlich oder zusätzlich beteiligt: Epidu- rale vaskuläre Anomalien mit Varizen und Angiomen, Adhä- sionen und Narben bei chroni- schem Verlauf, knöcherne Ver- änderungen bei alten Men- schen, Anomalien der Hüllen des Kaudasackes und der Wur- zeln und gelegentlich einmal ein Tumor. Hinzu kommen als

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 41 vom 10. Oktober 1984 (53) 2969

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Indikationen und Kontraindikationen zur Chemonukleolyse

Indikationen Kontraindikationen

Monoradikuläres Irritations- bzw. Kompressionssyndrom

— segmentale

Sensibilitätsstörungen

— leichte bis mittelschwere segmentale Paresen

— Muskeleigenreflex- Differenzen

— Ischialgie

stärker als Lumbalgie

— Lasögue'sches Zeichen bei weniger als 45° positiv

— mit der klinischen

Symptomatik korrelierender radiologischer Befund

— konsequente konservative Therapie erfolglos

— Trauma

— Rentenbegehren

— Psychogenese

— Schwangerschaft

— Voroperation im erkrankten Segment

— Verdacht auf spinalen Tumor

— Rasche Symptomprogre- dienz, z. B. Cauda equina Syndrom

Spinalkanalstenose

— Verdacht auf

Bandscheibensequester

— Spinale Fehlbildung

— Segmentale Instabilität

— Sphinkterstörungen

— Myelographischer Stop

— Chymopapainallergie Tabelle 2

Chemonukleolyse

unbekanntem Wohnsitz verzogen oder telefonisch und über den Hausarzt nicht erreichbar). Bei 57 (93,4 Prozent) der 61 nachunter- suchten Patienten hatte sich die Lumbalgie durch die Chemonu- kleolyse gebessert, bei 60 (98,4 Prozent) war die Ischiaigle ver- schwunden oder ebenfalls deut- lich gebessert.

Die überwiegende Mehrzahl der nachuntersuchten Patienten (56 von 61 entsprechend 93,3 Pro- zent) war bei der Nachuntersu- chung 6 Monate nach der Chemo- nukleolyse mit Chymopapain wie- der arbeitsfähig. Von den 24 nach- operierten Patienten hatten 12 ei- nen sequestrierten Bandschei- benvorfall, 7 eine große Protru- sion. Zehn dieser 19 Patienten zeigten zusätzlich eine ossäre Wurzelkompression, während bei den 5 verbleibenden Fällen aus- schließlich eine ossäre Einengung vorlag.

Diese Ziffern verdeutlichen, daß die „Versagerquote" nicht auf ei- ne „fehlerhafte" Enzymaktivität zurückzuführen ist, sondern die derzeitige Unfähigkeit ausdrückt, trotz modernster diagnostischer

Methoden eine knöcherne Wur- zelkompression bzw. einen be- reits sequestrierten Bandschei- benvorfall als solchen zu diagno- stizieren und somit von der Che- monukleolyse auszuschließen.

Zusammenfassung

Die enzymatische Auflösung des lumbalen Bandscheibenvorfalls ist eine Alternative zum „offenen"

operativen Vorgehen. Die Indika- tion zur Chemonukleolyse ist grundsätzlich unter dem gleichen Gesichtspunkt wie zu einer Ope- ration zu stellen.

Es gilt also, daß man niemanden einer Chemonukleolyse unterzie- hen sollte, den man nicht auch be- denkenlos „offen" operieren wür- de. Das impliziert jedoch, daß die primäre Durchführung einer offe- nen Bandscheibenoperation ohne den vorherigen Versuch einer Chemonukleolyse — bei gegebe- ner Indikation — den Patienten um eine 70- bis 80prozentige Chance bringt, Heilung unter Umgehung eines offenen Eingriffes zu erzie- len. Die Erfahrungen zeigen, daß die große Gefahr dieser Therapie-

form in ihrer leichtfertigen An- wendung liegt. Die Chemonukleo- lyse ersetzt weder die konservati- ve Therapie noch ist sie als letzte Zuflucht bei der Behandlung un- klarer chronisch rezidivierender Rückenschmerzen zu akzeptie- ren!

Die exakte Indikationsstellung hat als Grundlage die von McCulloch (19) erarbeiteten Kriterien. Trotz der Einfachheit ihrer Durchfüh- rung ist die Chemonukleolyse als operativer Eingriff zu betrachten.

Sie ist nicht ambulant durchzufüh- ren. Sie gehört in die Hand der mit paravertebralen Injektionen Ver- trauten, vorzugsweise des opera- tiv Tätigen, der in der Lage ist, bei Versagen der Methode den Pa- tienten persönlich zu operieren.

Während Indikation und auch die Punktionstechnik standardisiert sind, ist die Diskussion über die in Frage kommenden Enzympräpa- rate noch im Gange. Die größten Erfahrungen bestehen mit Chy- mopapainpräparaten, womit welt- weit bisher über 60 000 Patienten behandelt wurden. Unsere Erfah- rungen mit der Kollagenase wa- ren bislang nicht ermutigend (5, 17, 18).

Literatur im Sonderdruck, zu beziehen über die Verfasser.

Anschrift für die Verfasser:

Professor Dr. med. Mario Brock Neurochirurgische Klinik Universitätsklinikum Steg I itz der Freien Universität Berlin Hindenburgdamm 30 1000 Berlin 45 2970 (54) Heft 41 vom 10. Oktober 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Legasthenie:

Neuere Aspekte der Forschung und ihre Anwendung in der Therapie

Joest Martinius

Aus dem Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Direktor: Professor Dr. med. Joest Martinius) der Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Diskussion über die Legasthenie und der mit ihr zusammen- hängenden Probleme ist nach wie vor aktuell und kontrovers.

Vielfach wird sogar die Existenz dieser Störung geleugnet, was sich natürlich auch in einer mangelnden Förderung der von ihr betroffenen Kinder äußern muß. Derartige Auffassungen, die vor- wiegend aus dem schulischen Bildungsbereich kommen, stehen in eklatantem Gegensatz zu ärztlichen Erfahrungen mit legasthe- nen Kindern, die (bei sonst guter Begabung) in eine fortgesetzte Versagenssituation geraten mit der Gefahr des Abgleitens in eine depressive Entwicklung, eine generelle Entmutigungshaltung oder gar ein dissoziales und delinquentes Verhalten.

ÜBERSICHTSAUFSATZ

Hundert Jahre nach ihrer Be- schreibung durch den Braun- schweiger Schularzt Berkhan 1885, siebzig Jahre nach Einfüh- rung des Begriffes „Legasthenie"

durch Ranschburg und lange nach der allgemeinen Verbreitung der Erkenntnis, daß die Legasthe- nie eine häufige Störung ist, herrscht immer noch Unklarheit über ihre Ursachen und Erschei- nungsformen sowie über den wirksamsten Weg zu ihrer Be- handlung. Nach wie vor passiert es, daß die Diagnose erst in der dritten oder vierten Jahrgangsstu- fe der Grundschule gestellt wird und die betroffenen Kinder als dumm, lernunwillig oder „verhal- tensgestört" angesehen werden, obwohl sie bei Eintritt in die Schu- le nicht weniger intelligent und willens waren als die Mehrzahl ih- rer Mitschüler, die inzwischen Le- sen und Schreiben gelernt haben.

Selbst dann, wenn die Leg- asthenie erkannt wird, erhalten bei weitem nicht alle als legasthen diagnostizierten Kinder die Förde-

rung, die sie brauchten. Es be- steht genügend Anlaß, mit der Si- tuation unzufrieden zu sein, um so mehr, als die Gründe dafür durchaus nicht unbekannt sind.

Sie sind teils in den Unklarheiten und Fragen zu suchen, die das Problem „Legasthenie" vom Ver- ständnis her bietet, teils liegen sie aber auch in den Vorurteilen de- rer, die sich, jeder aus seinem Blickwinkel, von Berufs wegen mit den betroffenen Kindern zu befassen haben: Pädagogen, Psy- chologen, Ärzte.

Das legasthene Kind zwischen

Meinungen und Institutionen 11> Bildungsbereich

Der Bildungsbereich sieht die Legasthenie vornehmlich als ein pädagogisches Problem, das, un- abhängig von den Ursachen, durch intensiven Unterricht zu be- heben ist. Um die Mühe einer dif-

ferenzierten Diagnostik und Be- handlung zu umgehen, wurde im Bildungsbereich auf Empfehlung der Kultusministerkonferenz 1978") die Legasthenie pauschal in „Besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens" umbenannt.

Die entsprechenden Empfehlun- gen für Fördermaßnahmen ließen den Standpunkt erkennen, als sei die Problemgruppe mit der allge- meinen Definition adäquat be- schrieben und als seien aus ihr al- le erforderlichen Maßnahmen durch den Pädagogen ableit- und durchführbar.

Hierin liegt ein verhängnisvoller Irrtum. Denn die in der Regelschu- le vorgesehenen Fördermaßnah- men, die spät einsetzen und oft nur fragmentarisch durchgeführt werden, helfen allenfalls einem Teil der Kinder, die „Schwierig- keiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens" haben, kaum oder gar nicht aber Kindern, die an einer speziellen Lese- Rechtschreib-Schwäche (Leg- asthenie) leiden.

Wenn nicht Eltern von sich aus die Initiative ergreifen und außerhalb der Schule nach Hilfe suchen, ver- harren Kinder mit der spezifi- schen Störung in einer fortgesetz- ten Versagenssituation, mit allen nachteiligen Konsequenzen für ihre seelische Entwicklung.

II> Psychologie

Die Psychologie hat in Jahrzehn- ten ein umfangreiches Wissen über kognitive Funktionsschwä- chen in der visuellen und/oder au- ditiven Wahrnehmung, über Diffe- renzierungs- und Gedächtnis- schwächen bei Legasthenikern

") Erlaß der Kultusministerkonferenz zur „För- derung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens" vom 20. 4. 1978.

Auszüge aus der Stellungnahme des Vor- stands der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu diesem Erlaß sind im Anschluß an den Beitrag von Professor Martinius wiedergegeben. MWR

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 41 vom 10. Oktober 1984 (57) 2971

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Legasthenie

angesammelt, sich neuerdings aber der Prozeßanalyse von Lese- störungen zugewendet (Schee- rer-Neumann 1977), da diese zum Verständnis der Störung am mei- sten beiträgt. Hierfür wurden zu- nächst Funktionsmodelle des un- gestörten Leseprozesses erarbei-

tet, der dem Lesen eine Folge von

Einzeloperationen zugrundelegt:

Segmentierung einzelner Worte, phonetische und semantische Ko- dierung. Die experimental-psy- chologische Übertragung auf Leg- astheniker hat bereits gezeigt, daß Funktionsschwächen, z. B.

des Differenzierungs- oder Erin- nerungsvermögens ("Speicher- schwäche"), an den einzelnen Schritten dieser Prozeßfolge zum Tragen kommen, wobei das indivi- duelle legasthene Kind in quanti- tativ und qualitativ unterschied- licher Weise betroffen ist.

Insgesamt weisen neuere Ergeb- nisse die Legasthenie als eine be- sondere Form der Sprachstörung aus, die hypothetisch zwischen ei- nem phonologischen Defizit und einem spezifischen Defekt in der sprach lieh-motorischen Prog ram- mierung liegt (Frith 1981).

~ Medizinische Sicht

Ärzte, fast ausnahmslos Kinder- und Jugendpsychiater, haben sich seit jeher mit den Ursachen der Legasthenie befaßt. Nicht eine Ur- sache, sondern mehrere mög- liche, die einzeln oder in Kombi- nation wirksam sein können, ha- ben sich belegen lassen:

I> Zerebrale Entwicklungsstörun-

gen als Folge frühkindlicher Hirn- schäden, als Anlagestörung oder als ein Zusammentreffen beider.

Erbfaktoren sind nach Wein- schenk (1965) in 70 Prozent der Fälle beteiligt. Soziokulturellen Einflüssen wurde vorübergehend starke Bedeutung beigemessen;

sie treten nach neueren Erkennt- nissen hinter der Bedeutung pri- mär neurologischer und neuro- psychologischer, d. h. zerebraler Funktionsstörungen zurück.

I> Die frühe Vermutung (Orton

1937), daß vor allem linkshemi- sphärische Funktionen betroffen

sind, hat sich nur teilweise bestä-

tigen lassen. Immerhin sind Hand- und Ohrpräferenz bei vielen Leg- asthenikern nicht altersentspre- chend ausgebildet ( Gutezeit 1982), wobei auch diese Befunde belegen, daß Legastheniker keine homogene Gruppe sind (Kiicpera 1982).

Durch den Einsatz moderner neu- rophysiologischer Techniken wur- de es möglich, bei Legastheni- kern die Hirnaktivität während des Leseprozesses zu untersuchen. Im Vergleich der hirnelektrischen Aktivität (EEG) von Legastheni- kern mit der gesunder Kinder fan- den sich Abweichungen der inter- hemisphärischen Synchronisation (Martinius 1972) sowie der Aktivi- tät einzelner Hirnareale (Duffy und Mitarbeiter 1980). Das überra- schende Ergebnis letzterer Unter- suchung waren Auffälligkeiten nicht nur im linkshemisphäri- schen, sondern auch im Frontal- bereich. Dem fügen sich verein- zelte neurohistopathologische Berichte über regionale zelluläre Dystopien an, die bei Legastheni- kern gefunden wurden.

~ Epidemiologische Untersuchungen

ln epidemiologischen Untersu- chungen (Rutter und Mitarbeiter 1976, England) wurde die auf das Entwicklungsalter bezogene Prä- valenz der Legasthenie dokumen- tiert. Danach haben etwa 7 Pro- zent aller Kinder der 2. und 3.

Grundschulklassen Schwierig- keiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens, von denen etwa die Hälfteaufgrund einer all- gemeinen Entwicklu ngsverzöge- rung das Symptom zeigt und die übrigen an einer mehr oder weni- ger schwer ausgeprägten spezifi- schen Lese-Rechtschreib-Schwä- che (Legasthenie) leiden. Die Zah- len sind auf deutsche Verhältnisse übertragbar und verdeutlichen, daß sich hinter dem Symptom ver- 2972 (58) Heft 41 vom 10. Oktober 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

schiedene Störungsbilder mit je- weils unterschiedlichen Konse- quenzen für Behandlung und Pro- gnose verbergen.

Nach Mattis (1975) zeigen etwa 60 Prozent der Kinder mit speziel- ler Lese-Rechtschreib-Schwäche Wortfindungsstörungen, 10 Pro- zent sprachmotorische (Artikula- tions-) Störungen, 5 Prozent visu- ell-räumliche Wahrnehmungsstö- rungen und mehr als 20 Prozent Defizite im Bilden phonemischer Reihenfolgen.

Definition und

Diagnose der Legasthenie Die spezielle Lese-Rechtschreib- schwäche (Legasthenie) ist von allgemeinen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens zu unterschei- den. Bei letzteren sind die visuel- len, auditiven und integrativen Funktionen vorhanden, nur der Entwicklungs- und Lernprozeß verzögert. Kinder mit dieser Pro- blematik entstammen überzufällig häufig sozio-ökonomisch benach- teiligten Familien.

Bei der speziellen Lese-Recht- schreibschwäche hingegen liegt eine Teilleistungsschwäche im sprachlichen Bereich vor, im Sin- ne eines Defizits isolierter Funk- tionen. Sie bedingt phänomenolo- gisch eine Leistungsstörung, die sich signifikant vom Gesamtlei- stungsvermögen abhebt. Der iso- lierte Funktionsausfall ist nicht einheitlich und an seiner pau- schalen Konsequenz, der schwa- chen Lese- und Rechtschreiblei- stung, nicht diagnostizierbar.

~ Mit Lese- und Rechtschreib- tests sowie der Feststellung einer wenigstens durchschnittlichen Gesamtintelligenz ist die Diagno- se nicht zu stellen.

Entsprechend der Komplexität der am Leseprozeß beteiligten Funktionen und der Verschieden- heit bekannter Defizite im Sprach- bereich und in der visuell-räum-

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Iichen Orientierung, die wiederum einzeln oder in Kombination auf- treten können, ist für die therapie- relevante Diagnosestellung die Untersuchung dieser Funktionen und ihres individuellen Beteiligt- seins am Leselernprozeß die un- abdingbare Voraussetzung.

Neben der Feststellung der allge- meinen Intelligenz sind Lautdis- krimination und -Identifikation, das Lauteverbinden sowie Gram- matik, Wortschatz und Satzbau zu untersuchen, sodann das visuell- räumliche Orientierungsvermö- gen und motorische Funktionen, vor allem die an der Artikulation beteiligten. Die weitverbreitete Durchführung von Lesetests und Testdiktaten liefert wertvolle, vor- wiegend qualitative Informationen über Lesestrategien, z. B. die sy- stematische Vorwegnahme be- kannter Buchstaben, die Bevorzu- gung großer Buchstaben und die bei Legasthenikern häufig anzu- treffenden Ratetechniken. Hierbei wird oft rasch deutlich, daß die einfachste Voraussetzung für Le- sen und Schreiben, die Fähig- keit, Wortuntergliederungen (Gra- phem, Phonem) zu unterschei- den, fundamental gestört ist und für das betroffene Kind den Um- gang mit Schriftsprache buch- stäblich zur Qual werden läßt. Le- se- und Schreibstörung korrelie- ren miteinander. Im Entwicklungs- verlauf kommt es jedoch vor, daß sich die Lesestörung bei Fortbe- stehen der Schreibschwäche ver- ringert bzw. weitgehend ver- schwindet.

~ Begleitstörungen

Daß die Legasthenie nicht selten von anderen Störungssymptomen begleitet wird, ist für Eitern, Leh- rer sowie Kinder- und Jugendpsychiater kein Geheim- nis; denn solche Begleitstörun- gen liegen meistens im Verhal- tensbereich. Sie können Aus- druck einer die Legasthenie pri- mär begleitenden Störung sein, ebenso aber auch Zeichen der Reaktion von Kind und Familie auf

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

den anhaltenden Mißerfolg. Zu nennen sind psychomotorische Unruhe, Konzentrationssschwä- che und leichte Erregbarkeit im Sinne eines hyperkinetischen Syndroms, depressive Erschei- nungsbilder, Ängste, Enuresis u. a. m., deren Pathogenese es je- weils zu klären gilt. Es wird gern übersehen, daß dies nur durch ei- nen mit allen Aspekten des Pro- blems vertrauten Arzt, am ehesten durch einen Kinder- und Jugend- psychiater geschehen kann.

Behandlung des Symptoms Lese-Rechtschreib-Schwäche Entsprechend der sehr unter- schiedlichen Schwere der Ausprä- gung, der unterschiedlichen Ätio- logie und der differenzierbaren Teilfunktionen, die defizitär sein können, ist das Symptom "Le- se-Rechtsch reib-Schwäche" mal leichter, häufig nur teilweise und gelegentlich kaum durch Behand- lung behebbar. Kinder mit einem allgemeinen Rückstand der Lese- Rechtschreib-Fähigkeit (Entwick- lungsverzögerung), bei denen die neuropsychologischen Grund- funktionen für das Lesenlernen jedoch vorhanden sind, können von den schulischen Programmen profitieren und den Rückstand in- nerhalb von 1 bis 2 Jahren aufho- len. Das Problem ist nur leider auch hier, daß der Rückstand häu- fig erst spät erkannt wird, sekun- däre psychische Fehlentwicklun- gen einem raschen Heilerfolg im Wege stehen und die schulische Förderung entsprechend den Be- stimmungen nicht mehr für einen ausreichenden Zeitraum gewährt wird.

Behandlung der spezifischen Lese-Rechtschreib-Schwäche Für Kinder mit spezifischer Lese- Rechtschreib-Schwäche sind, vor allem wenn die Störung stärker ausgeprägt ist, die schulischen Förderprogramme zeitlich und in- haltlich unzulänglich. Grund- schullehrer sind für die Vermitt-

Legasthenie

lung von Lernprozessen, die die optische und akustische Sprach- wahrnehmung, das Sprachverste- hen und sprechmotorische Vor- gänge der Sprachreproduktion beim Lesen bewerkstelligen sol- len, einschließlich der Förderung spezifischer Gedächtnisleistun- gen und anderer kognitiver Funk- tionen, nicht ausgebildet.

Es führt deshalb kein Weg herum, um die zusätzliche außerschuli- sche, gegebenenfalls klinikschuli- sche Förderung, die ein intensi- ves Programm zu beinhalten hat und nicht etwa darin bestehen

kann, die Kinder vor ein automati-

siertes Lesegerät zu setzen. Sorgfältig erprobte Programme existieren, so z. B. das von Gu- tezeit (1980) vorgestellte. Es baut auf der Silbe als Verarbeitungs- einheit auf, berücksichtigt aber auch andere Gliederungsaspekte, so daß der Wortaufbau "Buchsta- be für Buchstabe miterlebt wird"

und ein Worterkennen· in syntheti- sierender Weise stattfinden kann. Auswendiglernen und Ratetechni- ken können so ausgeschlossen werden. Wichtig ist die Verknüp- fung der Übungen mit attraktiven Ausgleichsaktivitäten und, wo nö- tig, mit Psychotherapie. Die Rea- lisierung gelingt am ehesten in Kleingrupen in individualisierter Kombination von Gruppen- und Einzelstunden. Eine Koordinie- rung mit der Schule ist Vorausset- zung.

Medikamentöse Behandlung Wiederholt ist von unterschied- lichen Substanzen behauptet worden, sie besäßen eine phar- makologische Wirksamkeit bei der Legasthenie. Eindeutige Bele- ge für eine spezifische Wirkung auf die der Legasthenie zugrun- deliegenden zentralen Wahrneh- mungsstörungen stehen jedoch aus. Hingegen ist eine unspezi- fisch günstige Wirkung von Psy- chopharmaka bei jenen Kindern belegt, die unter zusätzlichen, die Konzentrationsfähigkeit beein- Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 41 vom 10. Oktober 1984 (61) 2973

(6)

Legasthenie

trächtigenden Störungen leiden, so z. B. von Stimulantien oder Neuroleptika bei Vorliegen einer stärker ausgeprägten psychomo- torischen Unruhe.

Die Prognose

Wenn die Legasthenie ein aus- schließlich an die Entwicklung gebundenes Problem darstellte, müßte das Problem mit Errei- chen der Pubertät verschwun- den sein, vorausgesetzt, es wer- den nicht gravierende Erzie- hungs- und Unterrichtsfehler gemacht. Ganz offensichtlich ist aber die Schwäche bei vielen Betroffenen mit dem Ende der Grund- und Hauptschuljahre nicht überwunden, eine besor- gniserregende Erkenntnis, für die sich die Öffentlichkeit neuer- dings zu interessieren beginnt.

Erwachsene Legastheniker ver- bergen ihr Problem schamhaft, suchen berufliche und soziale

„Verstecke", scheuen die beruf- liche Weiterbildung.

Die Wissenschaft hat sich mit der Fragestellung „Was wird aus Legasthenikern" durchaus be- faßt. Bis zum Anfang der siebzi- ger Jahre wurden ausgewählte Populationen untersucht. Was unseren geographischen Be- reich betrifft, so hat Weinschenk (1965) frühzeitig darauf auf- merksam gemacht, daß Leg- astheniker überzufällig häufig in Sonderschulen für Lernbehin- derte anzutreffen sind und/oder den Weg in die Dissozialität und Kriminalität gehen. Kinder- und Jugendpsychiater begegnen sol- chen Schicksalen nicht selten in ihrer Tätigkeit als forensische Gutachter.

Ein differenzierteres Bild ist auf- grund neuerer longitudinal an- gelegter und epidemiologisch repräsentativer Untersuchun- gen entstanden. Cockburn (1973) machte bei zweimaliger Untersuchung einer großen Gruppe von Legasthenikern die Feststellung, daß vom 8. bis zum

11. Schuljahr bei fortlaufendem Besuch der Regelschule nur 10 Prozent eine altersgemäße, nor- male Lesefähigkeit erreichen.

30 Prozent bei Nachuntersu- chungen im unteren Grenzbe- reich, 60 Prozent blieben leg- asthen. Weitere, ähnlich ange- legte Untersuchungen zeigten, daß die Möglichkeit, das Pro- blem loszuwerden, mit dem Äl- terwerden rasch abnimmt.

Viele der extrem Lese-Recht- schreib-Schwachen, die nach Schätzungen ungefähr 1 Pro- zent der Gesamtbevölkerung ausmachen, bleiben was sie sind: Legastheniker. Für sie be- deuten die Schuljahre ein un- entrinnbares Dauertrauma.

Darüber, was inner- und außer- schulische Bemühungen zu lei- sten vermögen, gibt es wider- sprüchliche Befunde. Das wenig- ste, was gesagt werden kann ist, daß Übungen, die nicht auf das ganz individuelle Störungsmuster ausgerichtet sind, wirkungslos bleiben. Ob beim Erwachsenen noch Verbesserungen zu erzielen sind, müssen die mancherorts un- ternommenen Versuche noch zei- gen. Fest steht jedenfalls, daß Aussichten auf Heilung und we- sentliche Besserung mit dem Zeit- punkt des Beginns einer spezifi- schen Therapie korrelieren, je frü- her der Beginn, je positiver die Korrelation. Ermutigend ist in die- sem Zusammenhang die Erfah- rung mit Kindern im Vorschulal- ter, bei denen sich aus Testbefun- den eine Gefährdung für eine spätere Legasthenie ableiten ließ.

Wenn bereits zu diesem Zeitpunkt eine Behandlung begonnen wur- de, war die Lesefähigkeit in der ersten Grundschulklasse signifi- kant besser als die einer Kontroll- gruppe. Prävention sollte und kann hier ihren Ansatz finden.

Es bleibt festzuhalten, daß die derzeitige Versorgung legasthe- ner Kinder den neueren wissen- schaftlichen Erkenntnissen kaum Rechnung trägt. Solange ganz of- fensichtliche Möglichkeiten zu

Frühdiagnose, Prävention, Be- handlung oder doch wenigstens zum Schutz von Legasthenikern nicht erkannt und genutzt wer- den, bleiben Legastheniker Stief- kinder unserer Gesellschaft. Hun- dert Jahre haben viele Erkenntnis- se, jedoch nicht den entsprechen- den Erfolg gebracht.

Literatur

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Aufl. Huber-Verlag, Bern u. Stuttgart (1965)

Anschrift des Verfassers:

Professor

Dr. med. Joest Martinius Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität München Heckscher-Klinik

Heckscherstraße 4 8000 München 40 2976 (64) Heft 41 vom 10. Oktober 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

Referenzen

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— mit einer hochgereinigten Strep- tokinase (SK) der Behringwerke die ersten Thrombolysen am Menschen mitteilen (1), die individuell unterschiedliche Resistenz gegen die-

Die Autoren der Universität von Rochester konnten sechs Kriterien erarbeiten, die eine günstige Pro- gnose des Blutungsereignisses voraussagen ließen, nämlich Alter unter 75