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Archiv "Die Kinder sind nicht vergessen" (03.07.1998)

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er VW-Bus des Roten Kreu- zes rumpelt auf der Ausfall- straße an einer Neubausied- lung vorbei. Kleine Paläste mit extra- vaganten Erkern oder aufwendigen Dachkonstruktionen zeigen, daß hier

„Bauherren“ 200 000 Dollar und mehr für ihr Zuhause aufbringen.

Überall im weiteren Umkreis der weißrussischen Hauptstadt Minsk blüht Wohlstand auf.

Je weiter sich jedoch der Bus mit der niedersächsischen Delegation von Minsk entfernt, desto seltener inve- stieren die Neureichen. In Paritschi, rund 150 Kilometer südöstlich der Hauptstadt, stehen vor allem armseli- ge Holzhäuser an Straßen aus festge- fahrener Erde, in denen sich mehr Pferdehufe als Autoreifen abzeich- nen. Hier steht die Zeit still

– nach wie vor bestimmt das Lenin-Denkmal das Bild der Ortsmitte.

Leben im

verseuchten Gebiet

„Den schlimmsten Schlag nach dem Desaster haben die Kinder abbekom- men“, sagt Prof. Dr. med.

Heyo Eckel, als der Bus vor dem Gebietskrankenhaus hält. Der Präsident der Ärz- tekammer Niedersachsen ist seit kurzem Kuratori- umsvorsitzender der Lan- desstiftung „Kinder von Tschernobyl“. Drei Ärzte, darunter auch der Ärzte- kammerpräsident des Saar- landes, Prof. Dr. med. Franz Carl Loch, der Geschäfts- führer der Stiftung sowie ei- ne Dolmetscherin sind fünf Tage lang unterwegs, um in ausgesuchten Krankenhäu- sern neue Ultraschallgeräte aufzustellen und um zu kon- trollieren, wie die seit 1993 verteilten 86 Apparate ge- pflegt und genutzt werden.

Das Gebietskrankenhaus in Pa- ritschi mit 400 Betten, davon 20 für Kinder, soll rund 10 000 Einwohner der Umgebung medizinisch versor- gen; alle leben im „verschmutzten Ge- biet“. 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags gingen nach der Explo- sion im Block 4 des Tschernobyl-Re- aktors auf Weißrußland nieder. Cäsi- um 137 und Strontium 90 belasten noch heute die Böden. In manchen Gebieten darf niemand mehr wohnen.

Trotzdem werden die Äcker ange- baut, die Kartoffeln und das Gemüse

gegessen oder auf Märkten verkauft.

Vor allem bei Kindern stellen die Ärz- te seit 1986 immer häufiger Schilddrü- senkrebs fest.

Resignation angesichts des Mangels

Das Pflegepersonal im Kranken- haus von Paritschi hat meist nicht ein- mal genug Verbandszeug, um alltägli- che Verletzungen der Bauern zu ver- sorgen. Dem Eingang fehlt die Tür, Flure werden kaum be- leuchtet, haben den letzen Anstrich vor weit mehr als zehn Jahren bekommen. Es riecht muffig. Entsprechend resigniert erscheint der Chefarzt.

Ultraschallgeräte ha- ben die Behörden Weißruß- lands bisher fast ausschließ- lich den wenigen zentralen Krankenhäusern der Groß- städte Minsk oder Gomel zugedacht. Medizinische Versorgung von Kindern heißt deshalb in den wei- ten weißrussischen Ebenen, daß die Ärzte mit Finger- spitzengefühl beispielsweise Gewebeknoten diagnosti- zieren müssen. Deshalb

„verschenkt“ die Landes- stiftung robuste Siemens- Ultraschallgeräte. Zunächst erhält ein Krankenhaus das Instrument probeweise für zwei Jahre. Das Gel kann bei einer Kontaktorganisa- tion in Minsk geordert wer- den, die die Meldung nach Hannover faxt. Als Ge- genleistung sollen die Ärz- te Befundstatistiken nach Deutschland liefern. Wenn A-1723 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 27, 3. Juli 1998 (31)

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Die Kinder sind nicht vergessen

Zweimal im Jahr reist eine Delegation der Landesstiftung Niedersachsen nach Weißrußland, um

Krankenhäusern Ultraschallgeräte zur Verfügung zu stellen.

D

Tschernobyl

Die Delegation aus Niedersachsen überprüft die bestimmungsgemäße Anwen- dung eines gespendeten Ultraschallgerätes.

(2)

alles in Ordnung ist, geht das Gerät nach zwei Jahren ins Eigentum der Klinik über.

Der Chefarzt in Paritschi zeigt mehr Mißmut als Aufgeschlossenheit.

Zu viele Delegationen hat er in den vergangenen Jahren bewirtet und dann abreisen sehen. Wenn über- haupt, ließen die Gäste Verbrauchs- materialien, gängige Medikamente oder einen Videorecorder

fürs Kinderzimmer da. Wie- dergekommen ist nach Pa- ritschi offenbar kaum je- mand.

Warum auch? Die Ver- waltung schlägt sich vor al- lem damit herum, Bettwä- sche zu besorgen und Brennstoff für die langen kalten Monate; Essen, vor allem Kartoffeln, die sich als resistent gegen Strahlenver- seuchung gezeigt haben, er- bittet das Personal bei den Bauern ringsum. Für die Gäste haben die Weißrus- sen allerdings reichlich auf- getischt: Schnittchen, Ge- müse, Wodka.

Wiedergekommen ist kaum jemand

Acht Ultraschallgeräte will die Stiftung auf dieser Reise vergeben. In Paritschi ist die Not spürbar. Delega- tionsleiter Eckel fragt, ob es

oft zu Mißbildungen bei Kindern kommt. „Nur drei Prozent der Neuge- borenen sind gesund“, antwortet der Chefarzt. Eltern und Kinder kämen aus dem Tschernobyl-Gebiet. Ähnli- che Antworten bekommen die Deut- schen in den nächsten Tagen häufig zu hören. Von Herz-Kreislauf-Erkran- kungen auch bei Kindern ist die Rede, von Darm- und Lungenkrebs, Anämi- en, Bronchitis und Allergien.

Nach einer dreiviertel Stunde kommt der Moment der Entschei- dung für Paritschi. Die Delegation ist sich uneins. Zu wenige Kinderbetten, ein zu niedriges Versorgungsniveau.

„Hier ein Ultraschallgerät hinzustel- len hieße einen Mercedes in den Ur- wald bringen“, bemerkt einer der Ärzte in der Delegation. Dann der

Beschluß: „Dieses Krankenhaus steht jetzt auf der Liste der dringend Be- dürftigen. Wir lassen Ihnen Esberitox hier.“ Eckel lädt den Chefarzt und mindestens einen Kollegen noch im Herbst zu einer Ultraschall-Schulung nach Minsk ein. Beim nächsten Be- such 1999 sei dann wahrscheinlich auch das Krankenhaus in Paritschi dran.

Erst jetzt, als sich die Delegation verabschieden will, geschieht das nicht mehr Erwartete. Ob er in der Zwischenzeit nicht wenigstens Anti- biotika und Schmerzmittel besorgen könne, fragt der weißrussische Chef- arzt. Eckel nickt, sein Geschäftsführer hat es notiert. Wieder zuhause wird man versuchen, alle möglichen, vor al- lem persönliche Kontakte dafür zu nutzen.

Spenden werden auf Probe vergeben

Niemand in Deutschland gäbe auch nur noch einen Pfennig, wenn Delegationen wie diese nicht sicher- stellten, daß die gespendeten Geräte

von verantwortungsvollen und gut ausgebildeten Ärzten genutzt wer- den. Der Spendenfluß droht ohnehin dünner zu werden. Die Stiftung hat ihre „Attraktion“ verloren. Hiltrud Schröder arbeitet nach der Trennung vom SPD-Kanzlerkandidaten Ger- hard Schröder wieder für den eige- nen Lebensunterhalt. Zeit für das Ehrenamt fehlt ihr. Um passenden

„Promi-Ersatz“ wird in der Landesstiftung derzeit ge- rungen.

Hilfe eröffnet neue Perspektiven

Was den weißrussi- schen Ärzten die humanitä- re Hilfe aus Niedersachsen wert ist, läßt sich bei den je- weils knapp zweistündigen Besuchen oft nur erahnen.

Manchmal genügt aber der Blick ins Gesicht eines Arz- tes, damit sich die Dele- gation sicher fühlt, daß ih- re 50 000-DM-Investionen nicht nur ein Hoffnungswert sind.

Beispiel Mosyr: Der Arzt, der für die Bedienung des Ultraschallgerätes in Frage kommt, zeigt sich während der üblichen Be- grüßung und Stiftungsvor- stellung abweisend und in sich gekehrt. Fragen beant- wortet er einsilbig. Das zer- furchte Gesicht bleibt angestrengt – bis zum entscheidenden Augenblick.

Eben ist das Ja-Wort verkündet wor- den. Da beginnt er zu begreifen, schluckt, strahlt. Der deutschen De- legation reicht dies als Bestätigung.

Daß er für sein Ultraschallgerät ein extra gesichertes Zimmer räumen und den Apparat dort strengstens gegen Diebstahl hüten wird, steht außer Zweifel. Der Einladung zur Schulung nach Minsk folgt er ge- wiß. Zwei Stationen weiter, in Bra- gin, fließen nach der Verkündung im Chefzimmer sogar Tränen. Neue Chancen für Kinder und eine un- erwartete Perspektive für Ärzte, die oft nur noch die Wahl zwischen kleiner Hoffnung und Resignation

haben. Ralf Münchow

A-1724 (32) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 27, 3. Juli 1998

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Der kleine Junge befindet sich zur Beobachtung im Krankenhaus. Er leidet seit seiner Geburt an Gesundheitsstörungen, die mit dem Reaktorunfall in Verbindung

gebracht werden. Fotos: Ralf Münchow

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