Dr. Markus Eltges
Zum Stand der europäischen Raum- und Stadtentwicklung
– Empirische Befunde
Vortrag auf dem ARL-Kongress 2014
(T)Raumentwicklung in Europa – Brauchen wir eine neue Politik der Umverteilung?
am 26. / 27. Juni 2014 in Karlsruhe
Europa der Vielfalt
Seit dem Jahr 2000 lautet das Motto der Europäischen Union
„In Vielfalt geeint“.
Das Motto bringt zum Ausdruck, dass sich die Europäer in der EU
zusammengeschlossen haben, um sich gemeinsam für Frieden und Wohlstand einzusetzen.
Europa ist daher zuerst eine Wertegemeinschaft.
Was erträgt diese Wertegemeinschaft an Unterschiedlichkeit?
Lebenserwartung in Städten und Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich.
In Griechenland sind die Konsequenzen für die Lebenschancen der Menschen im wahrsten Sinne des Wortes stark eingeschränkt.
Was kann eine europäische Kohäsionspolitik realistisch erreichen und was sind die Zielindikatoren diese Kohäsionspolitik?
Europa der Vielfalt -
auch bei der Länge des Lebens !
Lebenserwartung in Europa
Fast 10 Jahre Unterschied in der Lebenserwartung in Europa
Besonders stark sind die Unterschiede mit bis zu 12 Jahren bei den Männern
Starkes Ost-West-Gefälle –
Entwicklung in Ost-Europa hat in den letzten 50 Jahren nicht mit dem
westlichen Teil Europas mitgehalten – trotz Mitgliedschaft in der EU
Muss eine
„(Werte)Gemeinschaft“ auf Dauer annähernd gleiche Lebenschancen bieten?
Europa der Vielfalt
- Arbeitslosenquote oder wie viele suchen nach neuen Arbeits- und damit Lebenschancen
ALQ Deutschland (10/13): 5,2%
ALQ Griechenland (08/13): 27,3%
ALQ Österreich (10/13): 4,8%
ALQ Spanien (10/13):
26,7%
Spannweite:
22,5 Punkte oder 6 mal höhere Arbeitslosigkeit vom Maximum zum Minimum Wieviel
Disparität hält die
(Werte)Gemein- schaft“ aus?
Entwicklung der Arbeitslosenquoten im Zeichen der Finanzkrise
ALQ Trier (2012) 2,7%
ALQ Tirol (AT) (2012):
4,9%
ALQ Ciudad
Autónoma de Ceuta (ES) (2012): 38,5%
ALQ Attiki (EL) (2012):
25,5%
Entwicklung in den von der Finanzkrise besonders stark betroffenen Staaten
beobachten
Europa der unterschiedlichen Arbeitsmärkte - zwischen Konvergenz und Divergenz
Indikator Variationskoeffizient (VK)
(Standardabweichung / Mittelwert)*100:
Wenn alle Regionen die gleiche
Arbeitslosenquote hätten, wäre VK = 0.
Je größer der Wert, desto größer die Unterschiedlichkeit.
Konvergenzbruch mit der Finanzkrise 2008
Ab 2010 entwickeln sich die Regionen stärker als die Mitgliedstaaten
auseinander die starken Regionen haben sich erholt, die schwachen Regionen bleiben zurück
Konvergenz ist das Ziel !
Bei keinem anderen Indikator kommen die Lebensqualitäten und -chancen besser zum Ausdruck als bei der Arbeitslosenquote.
Auf die Frage „ Sind Sie insgesamt gesehen mit dem Leben, das Sie führen, …?“ gaben 58% der Griechen an, nicht sehr zufrieden oder überhaupt nicht zufrieden zu sein. Portugal und Bulgarien 62%, Rumänien 54%, Spanien 29%, Deutschland 11%, Dänemark und Schweden 3%.
(Quelle: Special Eurobarometer 415, DIE EUROPÄER IM JAHR 2014 Befragung:
März 2014, T1)
Europa der unterschiedlichen staatlichen und privaten Leistungskraft Bruttoinlandsprodukt in € je Einwohner in KKS in 2011
Nord-Est (RO): 7200 € EU28 : 25.100 €
Inner London : 80.400 € Ipeiros (EL): 13.200 €
(2007: 16.100 €)
Extremadura (ES): 16.700
€ (2007: 17.600 €)
Berlin 28.300 €
Spannweite:
ohne Inner London 59.500 € oder 9 mal höheres BIP in € je EW in KKS vom Maximum zum Minimum
Die Spannweite wird kleiner, wenn die Unzulänglichkeiten bei den Raumabgrenzungen – Stichwort
Pendlerverflechtungen – beachtet werden.
Europa der unterschiedlichen Leistungskraft Bruttoinlandsprodukt in € je Einwohner
Starkes West-Ost-Gefälle (EU13 zu EU15)
Starkes Nord-Süd-Gefälle (innerhalb EU15)
Europa der unterschiedlichen Leistungskraft - Bruttoinlandsprodukt je Einwohner
Konvergenzprozesse auf dem Gebiet der EU28
Vor allem getragen durch die Annäherungsprozesse der EU13-Staaten
Nach einer langen Phase der Stagnation in der Konvergenz auf dem Gebiet der EU15 mit der Finanzkrise wieder
Divergenz in der regionalen Entwicklung
Konvergenz ist das Ziel !
Frage: Wie viel Konvergenz ist vor dem Hintergrund unterschiedlicher
Siedlungsstrukturen damit verbundener Ausgestaltungen und Intensitäten räumlich- funktionaler Arbeitsteilungen sowie
finanzieller Ressourcen wirtschafts- und regionalpolitisch leistbar?
Industrie als Schlüssel der wirtschaftlichen Entwicklung
Wettbewerbs- fähige
industrielle Basis – meist auch positive Entwicklung bei der
Industrie- beschäftigung Problem:
Finanzkrisen- länder haben industrielle Basis
verringert
Industriebesatz im Zeitverlauf nach ausgewählten Mitgliedstaaten
Parallelität sektoraler Entwicklungen beachten
Die Antwort: EU2020-Strategie
Sich gebraucht fühlen - Beschäftigung als Ziel
Geschichte der EU- Wachstumsstrategien:
- Jacque Delor II – Paket (1992) - Lissabon-Strategie (März 2000) - EU2020-Strategie (März 2010)
75 % der 20- bis 64-Jährigen sollen in Arbeit stehen – nationale
Zielquoten können hiervon
Abweichen, z.B. Italien 67-69% bis 80% in den Niederlanden oder Dänemark
Frage: wie realistisch ist das Erreichen der gesetzten Ziele?
Forschung und Entwicklung als Zukunftssicherung
3 % des BIP der EU sollen für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden
– nationale Zielquoten können hiervon Abweichen, z.B. Bulgarien 1,5 % bis 4% in Finnland
EU kritisiert das wenig ambitionierte nationale Ziel in Deutschland mit 3%.
Eine Erhöhung würde die nationale
Wettbewerbsfähigkeit noch weiter steigern und damit die nationalen und regionalen Disparitäten in der EU wahrscheinlich erhöhen.
Ist das ein Zielkonflikt?
Bevölkerungsentwicklung als grundlegender Entwicklungsfaktor
Bevölkerungswachstum und -abnahme regional ungleich verteilt – der Osten schrumpft, der Westen wächst
Insbesondere Regionen mit negativem
Wanderungssaldo (Abstimmung mit den Füßen) und negativem natürlichen Saldo
(Sterbeüberschuss) schränken auf Dauer ihre Zukunftsfähigkeit ein
Deutschland ab 2011 hoher positiver Wanderungssaldo insbesondere aus den südeuropäischen EU-Staaten
Veränderungsrate 2010-2060 in %:
Bulgarien -27%, Rumänien -19%, Polen -14%, Deutschland -19%, Frankreich +14%, GB +27%
(Quelle: EUROSTAT, STAT/11/80, 8. Juni 2011)
Fazit
Regionale Unterschiede innerhalb der EU28 nehmen durch die Finanz- und Staatsschuldenkrise zu, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt.
Wachstumsstrategien haben eine lange Tradition, werden aber regelmäßig erneuert.
Raum- und Stadtentwicklungspolitik spielen in diesen Wachstumsstrategien eine untergeordnete Rolle.
Die TA2020 will die Zusammenführung zwischen einer europäischen
Wachstumsstrategie und einer auf regionalen Ausgleich orientierten EU-Strukturpolitik.
Der Wille ist da, die Wirkung ……..
Pro Jahr 46,5 Mrd. € (0,34% des BNE) für die EU-Strukturpolitik – Ausgleichspolitik in Deutschland: Länderfinanzausgleich rund 27 Mrd. € + rund 3 Mrd. € Strukturpolitik + rund 20 Mrd. € aktive Arbeitsmarktpolitik
–> 50 Mrd. € pro Jahr -> Diese Relationen gilt es zu beachten, wenn es um die Wirkungen und Bewertungen der EU-Strukturpolitik geht.
Wir brauchen eine Gerechtigkeitsdebatte –> wie viel Disparität ist mit dem
europäischen Wertesystem vereinbar und was kann eine europäische Struktur- und Regionalpolitik zum Ausgleich regionaler Entwicklungsstände realistisch beitragen?
Was sind die Fragen der Zukunft?
Ein Programm für die ARL?
Europäische Struktur- und Regionalpolitik – nach der Reform ist vor der Reform !
Hat sich das bestehende System bewährt? In welcher Beziehung steht europäische Struktur- und Regionalpolitik zu nationalen Ausgleichspolitiken und -finanzen?
Was war und ist gut an der europäische Struktur- und Regionalpolitik und wo brauchen wir neue Ansätze, z.B. eine Industrieförderpolitik mit starken FuE-Bezügen? Wie viel Zeit muss sich die Politik geben, wenn die industrielle Basis schwach ist?
Ist das Maß 75% unter dem Durchschnitt der EU28 bezogen auf das BIP/KKS je Einwohner das Maß aller Dinge im Rahmen der räumlichen Kohäsion oder an welchen Kriterien sollten wir die EU-Strukturpolitik nach 2020 ausrichten? Auf dem Arbeitsmarkt sind die regionalen
Ungleichheiten bedeutend höher als bei der wirtschaftlichen Leistungskraft.
Wo sind die Ansätze und die Antworten einer Raumentwicklungspolitik? Leitbilder und Monitoring der Raumentwicklung sind Kernkompetenzen. Was kann und will dieser Politikbereich darüber hinaus realistisch leisten?
Welche Rolle können und sollen die INTERREG-Programme spielen – Entwicklung
makroregionaler Strategien auf Basis einer Analyse der räumlich-funktionalen Arbeitsteilung innerhalb der Kooperationsräume?