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Aus ist’s mit dem Schottenwitz

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Academic year: 2022

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128 IP Mai /Juni 2014

© Henning Kettel

Reiner Luyken | Achiltibuie ist ein win- ziger Ort auf einer Halbinsel im fer- nen Nordwesten Schottlands. Land- einwärts ragen merkwürdig geformte Berge auf. Auf menschenleeren Hoch- ebenen äsen Hirsche. Adler ziehen ihre Kreise. Anderswo ausgestorbene Tauchvögel brüten im Uferwuchs dunkler Moorseen.

Achiltibuie ist mein Zuhause. In der Vorstellung schottischer Romanti- ker lebt hier die Seele der Nation, ein Amalgam aus gälischer Kultur und urwüchsigem Gemeinschaftssinn. Ein Tourist, den es hierher verschlägt, wird kaum merken, dass die Schotten im Herbst die für das Vereinigte Kö- nigreich folgenreichste Entscheidung seit der Abspaltung Irlands 1922 tref- fen. Am 18. September werden wir abstimmen, ob wir weiterhin zu Groß- britannien gehören oder unserer eige- nen Wege gehen wollen.

An der Oberfläche erscheint alles ganz friedlich. Selbst in der Gewaltka- pitale Glasgow gibt es keine Demons- trationen, von Straßenschlachten und Molotow-Cocktails ganz zu schwei- gen. Wie herrlich zivilisiert, wird sich der Besucher denken. Er wundert sich vermutlich nur, wenn er irgend- wo in der Einöde eine russische Flag-

ge anstatt einer schottischen über einem Haus wehen sieht. Hinter dem Haus parkt ein Panzerwagen, ein aus Armeebeständen erworbenes Ge- fährt. Besucher treffen dort auf einen recht unwirschen Mann mit biesti- gem Rottweiler. In der Gegend heißt es, er sei ziemlich plemplem und überdies Engländer. Mit der russi- schen Fahne wolle er gegen allzu viel Unabhängigkeitsstreben demonstrie- ren – auch gegen das der Schotten.

Die Nachbarn überlegen schon, ob sie jetzt aus Trotz die Fahne der Ukraine aufziehen sollen.

Unter der Oberfläche rumort es.

Freundschaften gehen in die Brüche, Nachbarn zerstreiten sich, der sonst so treffsichere schottische Humor weicht Gehässigkeit und Argwohn.

Unter der Oberfläche – das ist im In- ternet. Während des Nordirland- Kriegs fochten Anhänger des katholi- schen FC Celtic und der protestanti- schen Rangers den Kampf zwischen IRA und Unionisten als Stellvertre- terkrieg in Glasgows Fußballstadien aus. Jetzt bekriegen sie sich auf You- Tube und in Blogs mit einer Nieder- tracht und Infamie, die die Propagan- da beider Seiten im Nordirland-Krieg sogar noch übertrifft.

Brief aus … Achiltibuie

Aus ist’s mit dem Schottenwitz

Das Referendum über die Unabhängigkeit zieht schon jetzt tiefe Gräben

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IP Mai /Juni 2014 129 Brief aus … Achiltiduie

Egal, wie es ausgeht:

„Als Volk sind wir für immer gespalten“

So zirkuliert auf YouTube ein mit dunkel-dräuender Musik unterlegtes Video, das den Anhang der Rangers in einem fahnenschwingenden Meer britischer Union Jacks zeigt. Die Ka- mera schwenkt zu Sanitätern, die einen verletzten Fan bergen wollen.

Der Szene folgen eine Warnung, wel- ches Schicksal „Verräter“ erwarte, und der Slogan „Schottisch, nicht britisch“. In diesem Video verun- glimpfen die Härtesten der Rangers- Anhänger den schottischen Minister- präsidenten und Nationalistenführer Alex Salmond als „Omaficker“; sie grölen „Ich wurde unter dem Union Jack geboren“ und pöbeln einen Bri- ten asiatischer Herkunft an, der nicht ihrer Aufforderung folgt, der Queen zu huldigen.

Vielleicht darf man dem extremis- tischen Rand nicht zu viel Aufmerk- samkeit schenken. Die etwas zent- rumsnäheren Cybernats haben eine wichtigere Rolle. Diese Sorte von im Cyberspace verrückt spielenden Nati- onalisten fällt in organisierten Kam- pagnen über Journalisten, Sportler und Prominente her, die für den Fort- bestand Großbritanniens eintreten oder die Politik der Separatisten kri- tisch unter die Lupe nehmen. Als

„wichtigtuerischer Maulaffe“ oder

„antischottischer Scheißer“ abgekan- zelt zu werden, gehört zu den milde- ren Formen ihres Internetmobbings.

Gemäßigte Nationalisten distan- zieren sich von den Cybernats – und verfolgen die nicht minder tückische Strategie, das eigene Volk als eine den südlichen Nachbarn moralisch weit überlegene Wertegemeinschaft darzu- stellen. Wer Sympathie für den Zu- sammenhalt des Königreichs äußert, wird automatisch als Parteigänger des

Londoner Finanzkapitals und der Torys angeschwärzt.

Anhänger des Vereinigten König- reichs befinden sich Umfragen zufolge in der Mehrheit. Vielleicht kein Wun- der – in Fragen des täglichen Lebens lösen sich die Argumente der Natio- nalisten in Wohlgefallen auf. Ob Mi- nisterpräsident Salmond nun behaup- tet, der Rest des

Königreichs werde sich darum reißen, mit seiner neuen Nation eine Wäh- rungsunion einzu-

gehen, ob er die Ölreserven der Nord- see maßlos aufbläht oder ob er seinem Volk weismachen will, die EU sei grenzenlos erpicht auf einen neuen Splitterstaat – Widerspruch derer, die es besser wissen, entlockt ihm nur trotzigen Hohn.

Doch die meisten Anhänger der 300 Jahre alten schottisch-englischen Union vermeiden es mittlerweile, öf- fentlich Stellung zu beziehen. Eine Bekannte erklärt, warum: Sie habe bereits zwei langjährige Freunde ver- loren und sei als gebürtige Englände- rin nach 20 Jahren im Land zum ers- ten Mal Opfer von Fremdenfeindlich- keit geworden. Und ein alter Mann in unserem Dorf sagt salomonisch, es spiele nun gar keine Rolle mehr, wie das Referendum ausgehe: „Als Volk sind wir für immer gespalten.“

Reiner Luyken ist Auslandskorrespon- dent und Kolumnist der Wochenzeitung Die Zeit.

Vom schottischen Hochland aus reist er für seine Reportagen in die Welt.

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