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Der „Boss“ wankt

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Academic year: 2022

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Auf den ersten Blick läuft für den türkischen Präsidenten Recep Tay- yip Erdogan alles nach Plan. Mit ei- nem Verfassungsreferendum im ver- gangenen Jahr und seinem Wahlsieg am 24. Juni 2018 hat der Staatschef ein Präsidialsystem durchgesetzt, das ihm weitreichende Machtbefugnisse gebracht und das Parlament weitge- hend kaltgestellt hat. Heute ergehen viele wichtige Entscheidungen nicht mehr durch Beschlüsse der Regie- rung oder der Volksvertretung, son- dern durch Präsidialerlasse.

Oft genug kommen wichtige Wei- chenstellungen wie aus heiterem Himmel. So ordnete Erdogan kürz- lich die Abschaffung des Wechsels von Sommer- und Winterzeit an – eine öffentliche Diskussion darüber gab es nicht. Auch die Anordnung, wonach Mietverträge und geschäftli- che Übereinkommen nur noch in tür- kischer Lira – und nicht mehr in Dol- lar oder Euro – abgeschlossen wer- den dürfen, traf das Land ohne jegli- che Vorbereitung oder Ankündigung.

Im Präsidialsystem ist Erdo gan gleichzeitig Staatsoberhaupt, Regie- rungschef, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Vorsitzender der re- gierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Er hat sich selbst zum Aufseher eines milliar- denschweren Fonds ernannt, in dem staatliche Anteile an Unternehmen wie Turkish Airlines verwaltet wer- den. Als Finanzminister hat er seinen Schwiegersohn Berat Albayrak beru- fen, der als möglicher Nachfolger auf- gebaut wird. Da Erdogan in den ver- gangenen Jahren fast alle großen Me- dien auf Regierungslinie gebracht hat, ist der „Boss“ ständig auf allen Kanä- len präsent, während die Opposition kaum noch erwähnt wird.

Die Suche nach den Verantwortli- chen für den versuchten Staatsstreich vom 15. Juli 2016 nutzte Erdogan, um mutmaßliche Gegner aus dem Staats- apparat zu entfernen. Rund 150 000 Beamte, Lehrer, Soldaten oder Poli- zisten wurden entlassen, allein in der Justiz wurden rund 18 000 Rich- Susanne Güsten | Seine Anhänger nennen ihn „Boss“, seine Gegner einen Diktator. Einig sind sich die meisten, dass der türkische Präsident Erdo­

gan fest im Sattel sitzt und beste Chancen hat, das Land bis weit ins nächs­

te Jahrzehnt hinein zu regieren. Doch sein Machtfundament zeigt deutli­

che Risse, die ihm in den kommenden Jahren gefährlich werden können.

Präsident Erdogans Regierungssystem ist instabiler, als es von außen scheint

Der „Boss“ wankt

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Erdogans Tausend- Zimmer-Palast kostet täglich 250 000 Euro

ter und Staatsanwälte durch linien- treue Juristen ersetzt. So konnte Er- dogan politische Gegner wie den frü- heren Vorsitzenden der legalen Kur- denpartei HDP, Selahattin Demirtas, ins Gefängnis werfen lassen.

Und doch kann sich Erdogan sei- ner Sache nicht sicher sein. Trotz

Machtkonzentration und Benachteiligung der Op- position steht die AKP bei den Kommunalwah- len im kommenden März in wichtigen Städten vor schwierigen Aufgaben. Beim letzten Mal verweigerten insbesondere junge Wähler in den Großstädten der Regie- rungspartei die Gefolgschaft.

Verunsicherung statt Stabilität Ausgerechnet Erdogans Totalitäts- anspruch, der dem Land eigentlich Stabilität und rasche Entscheidun- gen ohne Parlamentsgerangel brin- gen sollte, sorgt für Verunsicherung.

Die Ankündigung des Präsidenten, künftig mehr Einfluss auf die Zins- politik der Zentralbank nehmen zu wollen, und die Skepsis von Anlegern gegenüber seiner Gutsherrenpolitik, die sich etwa in der Ernennung sei- nes Schwiegersohns zum Finanzmi- nister niederschlug, ließen den Kurs der türkischen Lira seit Jahresbeginn um 40 Prozent abstürzen. Die Infla- tionsrate hat inzwischen fast 25 Pro- zent erreicht, den höchsten Stand, seit Erdogan 2003 an die Macht kam. Fast täglich gehen Unternehmen pleite. Zu- letzt geriet die pünktliche Eröffnung des neuen Istanbuler Großflughafens, eines der wichtigsten Prestigeprojekte des Präsidenten, ins Wanken.

Die Opposition in Ankara wirft Erdogan vor, mitten in der Wirt- schaftskrise der Prunksucht zu frö-

nen. So hat er sich von dem befreun- deten Emirat Katar einen Präsiden- ten-Jet im Wert von rund einer hal- ben Milliarde Dollar „schenken“

lassen. Über etwaige Gegenleistungen schweigt sich die Regierung aus. Der türkische Rechnungshof enthüllte jüngst, dass Erdogans Tausend-Zim- mer-Palast der Staatskasse tägliche Kosten von umgerechnet 250 000 Euro verursacht.

Die Gleichschaltung der meisten Medien sorgt dafür, dass die Regie- rung peinliche oder schlechte Nach- richten entweder unter der Decke halten oder die Schuld dafür ande- ren zuschieben kann. Erste Proteste wie die Arbeiterdemonstrationen auf der Baustelle des neuen Istanbuler Flughafens werden von den Sicher- heitskräften niedergeschlagen. Doch über kurz oder lang könnte sich die schlechte Wirtschaftslage zu einer ernsten Gefahr für Erdogan entwi- ckeln. Seine Macht beruht zu einem guten Teil darauf, dass es den Türken in seiner Regierungszeit wirtschaft- lich besser ging als vorher.

In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ist in der Türkei eine neue Mittelschicht entstanden, deren Mitglieder sich aufgrund sicherer Ar- beitsplätze und steigender Einkünfte einen im Land noch nie dagewese- nen Wohlstand leisten können: Au- tos, Eigenheime, Ferienreisen. Rut- schen diese Bevölkerungskreise nun erneut in die Armut ab, wird Erdo gan das an der Wahlurne zu spüren be- kommen. Auch das Bündnis des Prä- sidenten mit mächtigen Unterneh- mern, die von Staatsaufträgen profi- tieren und dafür – unter anderem mit den zu ihren Konglomeraten gehören- den Medien – die Erdogan-Regierung stützen, könnte ins Wanken geraten.

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Das Problem für Erdogan liegt darin, dass strukturelle Reformen, die von vielen Experten zur Beruhi- gung internationaler Investoren ge- fordert werden, dem Machtanspruch des Präsidenten zuwiderlaufen wür- den. Das betrifft die Forderung nach unabhängigen Gerichten ebenso wie eine stärkere Absicherung der Zen- tralbank gegen politische Einfluss- nahme. Kurzfristige Lösungen wie die 15-Milliarden-Dollar-Hilfe aus Katar reichen nicht aus, um die tie- ferliegenden Probleme des Landes zu lösen.

Auch innenpolitisch ist Erdogan keineswegs so stark, wie es vielen westlichen Beobachtern häufig vor- kommt. Obwohl das Parlament im neuen Präsidialsystem viele Rechte zur Kontrolle der Regierung verloren hat, ist die Volksvertretung nach wie vor wichtig. So können die Abgeord- neten Dekrete des Präsidenten über- stimmen und durch eigene Entschei- dungen ersetzen. Da die AKP keine

eigene Mehrheit im Plenum hat, ist sie auf die Unterstützung durch die rechtsgerichtete Partei der Nationa- len Bewegung (MHP) angewiesen.

AKP und MHP hatten für die Wahl am 24. Juni ein Bündnis mit einer ge- meinsamen Liste geschlossen, das sie auch bei den Kommunalwahlen auf- rechterhalten wollen.

Doch die Vorstellungen der beiden Parteien sind keinesfalls deckungs- gleich. Die Vergabe von aussichtsrei- chen Listenplätzen an MHP-Politiker sorgt in der wesentlich größeren AKP für Unmut. Zudem treibt die MHP ei- gene Projekte voran, die bei der An- hängerschaft der AKP nicht immer gut ankommen. So fordert die MHP eine Generalamnestie für nichtpoli- tische Straftäter, mit deren Hilfe sie unter anderem Alaattin Cakici, einen rechtsradikalen Mafioso, aus dem Gefängnis befreien will. AKP-Politi- ker befürchten, dass die Freilassung Tausender verurteilter Straftäter vie- le Wähler verärgern könnte.

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Die Beziehungen zu den USA wanken von Krise zu Krise

Diplomatische Schwäche

In den Außenbeziehungen offenbart das System Erdogan ebenfalls Schwä- chen. Der Präsident setzt in seiner Di- plomatie auf direkte persönliche Kon- takte zu ausländischen Spitzenpoliti- kern, während die Bedeutung der Di- plomaten im Außenamt von Ankara abnimmt. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Beziehungen zu den USA und Russland.

Nachdem Erdogan anfänglich gro- ße Hoffnungen in Donald Trump ge- setzt hatte, ist die Zuversicht inzwi- schen einer Krisenstim- mung gewichen. Trump wirft der türkischen Füh- rung vor, den in der Tür- kei inhaftierten US-Missi- onar Andrew Brun son als politische Geisel benutzen zu wollen:

Erdogan hatte vorgeschlagen, Brun- son gegen den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gü- len auszutauschen, der von der Tür- kei für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht wird.

Trump lehnt das ab und hat Sank- tionen gegen die Türkei verhängt, de- nen im November weitere Strafmaß- nahmen folgen könnten: Erdogan hat mehrfach öffentlich klargemacht, dass er sich nicht den geplanten US-Sankti- onen gegen die Ölindustrie des Nach- barn Iran anschließen will. Sollte die Türkei auch weiterhin Öl und Gas aus dem Iran einführen, könnte sie in den Bannstrahl Washingtons geraten.

Während die Beziehungen der Türkei zu den USA von einer Kri- se zur nächsten wanken, ist das Ver- hältnis zu Russland enger denn je.

Mit keinem anderen ausländischen Staatschef hat Erdogan in den ver- gangenen zwei Jahren so häufig per- sönlich gesprochen wie mit Wladimir

Putin. Bei den fast 15 Begegnungen ging es meistens um den Konflikt in Syrien, in dem beide Länder stark en- gagiert sind. Zuletzt trafen Erdogan und Putin im September eine Abma- chung, die einen Großangriff der von Putin unterstützten syrischen Regie- rung auf die von Rebellen gehaltene Provinz Idlib an der Grenze zur Tür- kei verhindern sollte.

Die Zusammenarbeit funktio- niert, obwohl Türken und Russen in Syrien sehr unterschiedliche Zie- le verfolgen. Während Putin den sy- rischen Präsidenten Baschar al-Assad im Amt halten will, strebt Erdogan zumindest offiziell die Ablösung des syrischen Staatschefs an. Der Erfolg der türkisch-russischen Kooperation weist auf eine weitere Schwäche des Systems Erdogan hin: Ankara kommt mit Moskau deshalb so blendend aus, weil die Zusammenarbeit in Syrien den Vorstellungen Putins entspricht – die Türkei ist von Russland abhängig.

Denn ohne grünes Licht aus dem Kreml, dessen Luftwaffe den Luftraum im Westen Syriens be- herrscht, wären die grenzüberschrei- tenden Aktionen der türkischen Ar- mee in Syrien seit 2016 – in Dscha- rablus, Afrin und in Idlib – nicht möglich. Doch auch in einem größe- ren politischen Zusammenhang wird die Umarmung durch Russland im- mer enger. So will Ankara trotz aller Proteste der NATO-Partner ein rus- sisches Raketenabwehrsystem kau- fen. Außerdem baut Russland das erste türkische Atomkraftwerk und ist der wichtigste Energielieferant für die Türkei. Die in Europa und den USA häufig als Gefahr beschwo- rene Abwendung der Türkei von ih- rer Bindung an den Westen ist in vol- lem Gange.

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Für die Zukunft hat die Konzen- tration aller innen- wie außenpo- litischer Entscheidungsbefugnisse auf Erdogan mehrere weitreichende Folgen. Rolle und Einspruchsmög- lichkeiten von Ministerien, Zent- ralbank oder Parlament nehmen ab, die Entscheidungsbefugnisse von Erdogan- Vertrauten nehmen zu. Aus- ländische Gesprächspartner müssen sich darauf gefasst machen, dass Ent- scheidungsprozesse in der Türkei immer weniger transparent werden.

Schon jetzt seien die Vorgänge im Präsidentenpalast wie ein schwarzes Loch, sagt ein europäischer Diplo- mat. Diese Entwicklung wird sich in dem Maße verstärken, in dem Erdog- an weitere Macht auf sich vereinigt.

Wachsende Unberechenbarkeit Deshalb ist eine wachsende Unbere- chenbarkeit der türkischen Politik zu erwarten. Erdogan ist ein Pragmatiker der Macht, bei dem rasche Richtungs- wechsel zur Normalität gehören. So findet der türkische Präsident nichts dabei, in Zeiten der wachsenden Not durch die Wirtschaftskrise seine Be- ziehungen zu jenen Spitzenpolitikern in Europa zu verbessern, denen er vor Kurzem noch „Nazi- Methoden“ vor- geworfen hatte. Inhaftierte Ausländer kommen frei, wenn es für die Politik des Präsidenten hilfreich erscheint.

Europa sollte nicht den Fehler be- gehen, in solchen Zugeständnissen eine neue Hinwendung zum Rechts- staat zu sehen, warnt der Oppositi- onspolitiker und Parlamentsvizeprä- sident Mithat Sancar. Im Gegenteil:

Die Inhaftierung und Freilassung von Menschen je nach politischer Schwer- punktsetzung offenbare „das ganze Ausmaß der Willkürherrschaft“ in der Türkei, sagt Sancar.

Die Einwirkungsmöglichkeiten Deutschlands und anderer EU-Staa- ten sind begrenzt. Zwar braucht Er- dogan derzeit das Wohlwollen der Eu- ropäer, um die Folgen der

Wirtschaftskrise so gut es geht aufzufangen. Doch der Stillstand im türki- schen EU-Prozess, für den beide Seiten verantwort-

lich sind, nimmt Brüssel die Mög- lichkeit, mit der Drohung von Kon- sequenzen in Ankara politische Zu- geständnisse zu erwirken: Wenn oh- nehin nichts vorangeht, zieht dieses Argument nicht mehr.

Allenfalls in konkreten Einzel- fällen wie der Inhaftierung von Bun- desbürgern kann Berlin wirkungs- voll Druck erzeugen. Das zeigte sich, als die Deckelung der Hermes-Bürg- schaften für die Türkei-Geschäf- te und der deutsche Widerstand ge- gen einen Ausbau der Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei zur Freilassung des Berliner Menschenrechtlers Peter Steudtner und des Journalisten De- niz Yücel führten. Die Möglichkeit, Erdogans Regierung zu grundsätz- licheren Reformen zum Beispiel im Justizbereich zu bewegen, ist Deut- schen und anderen Europäern ver- schlossen. Sie werden sich mit der Unberechenbarkeit des Systems Er- dogan zurechtfinden müssen.

Die Abwendung der Türkei vom Westen ist in vollem Gange

Susanne Güsten berichtet als Journalis- tin aus Istanbul.

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