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23 Erst kommt das Fressen, dann die Moral Geordnete Arbeitsverhältnisse als Voraussetzung, sich mit ethischen Fragen angemessen zu befassen

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Academic year: 2022

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Eine wichtige Grundlage der guten Patientenversorgung ist die angemessene Beschäftigung mit der ethischen Dimension des medizinischen Handelns durch die am Behandlungsprozess Beteiligten. Eine der Bedingungen für das Gelingen dieser ethischen Reflexion im klinischen Alltag kann mit einem bereits in den 1950er-Jahre erdachten und später weiterentwickelten Modell zur Integration von Individuum und Organisation beschrieben werden. Ethische Reflexion kann als menschliches Bedürfnis verstanden werden, das in der Lage ist, intrinsische Motivationskraft zu entfalten. Im Folgenden werden einige An- nahmen, die auf die Maslowsche Theorie der menschlichen Bedürfnisse zurückgehen, in ihrer Bedeutung für das Gelingen ethischer Reflexion im klinischen Alltag erläutert.

23.1 Bedürfnisse motivieren zum Handeln

Mit dem Aufleben der Human-Ressourcen-Ansätze in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde erkannt, dass Menschen auch in Arbeitszusammenhängen von ihren Bedürf- nissen beeinflusst werden, und dass diese Bedürfnisse Menschen zum Handeln mo- tivieren. Solche Bedürfnisse – Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen und Erwartun- gen im Zusammenhang mit der Arbeit – gibt es in allen Arten von Arbeitssituationen, so auch in Kliniken. Die Bedürfnisse der Menschen werden dabei nicht als gleichbe- rechtigt wahrgenommen, sondern können hinsichtlich der Dringlichkeit ihrer Be- friedigung in Gestalt einer Bedürfnispyramide [Maslow 1954] gruppiert werden (s. Abb. 14). Je höher ein Bedürfnis in der Pyramide steht, desto später tritt es in der Entwicklung des Individuums auf, und umso größer ist seine individuelle und sozia- le Gestaltungsbreite.

als Voraussetzung, sich mit ethischen Fragen angemessen zu befassen

Michael Gommel

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23 Erst kommt das Fressen, dann die Moral – Geordnete Arbeitsverhältnisse als Voraussetzung, sich mit ethischen Fragen angemessen zu befassen

Physiologische Bedürfnisse Sicherheitsbedürfnisse

Soziale Bedürfnisse Wertschätzungs- bedürfnisse Selbst- verwirklichungs- bedürfnisse Wachstumsbedürfnisse

Defizitbedürfnisse

Entfaltung der eigenen Persönlichkeit Gestaltsetzende Aktivitäten Streben nach Unabhängigkeit

Wunsch nach Anerkennung und Achtung durch andere Personen, Selbstachtung und Selbstvertrauen

Streben nach Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit, befriedigende soziale Beziehungen

Verlangen nach Schutz vor unvorher- gesehenen Ereignissen des Lebens, die die Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse gefährden können

Elementares Verlangen nach Nahrung, Trinken, Kleidung, Wohnung

Abb. 14 Maslowsche Bedürfnispyramide

Zwei Prinzipien helfen, die Motivation zur Stillung der Bedürfnisse zu verstehen:

„

„ Das Defizitprinzip besagt, dass nur unbefriedigte Bedürfnisse uns zu entsprechen- dem Handeln anregen.

„

„ Das Progressionsprinzip drückt aus, dass menschliches Handeln durch das hierar- chisch niedrigste, unbefriedigte Bedürfnis motiviert wird.

Sobald dieses Bedürfnis durch entsprechendes Handeln befriedigt ist, geht von ihm kein Handlungsanreiz mehr aus. Es wird das nächst höhere unbefriedigte Bedürfnis aktiviert, das wiederum seine intrinsische Motivationskraft entfaltet. Bei den phy- siologischen Bedürfnissen wird dabei nicht die aktuelle Befriedigung eines drängen- den Bedürfnisses (z. B. Hunger) verstanden, sondern die dauernde Sicherstellung der Möglichkeit (z. B. sich mit Nahrungsmitteln versorgen zu können). Die Bedürfnisse, deren Unbefriedigtheit uns Unbehagen bereitet, nennt Maslow Defizitbedürfnisse; sie können vollständig gesättigt werden. Ihre Befriedigung errichtet, sichert und festigt das Selbst im Zustand der Abhängigkeit von äußeren Faktoren.

Die Befriedigung eines Selbstverwirklichungsbedürfnisses hingegen öffnet und erweitert das Individuum und fördert seine Unabhängigkeit, indem es neue Möglichkeiten zur Ausgestaltung von Selbst und Umwelt sucht und erschafft. Diesem Streben nach Selbstverwirklichung und nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ist potenziell keine Grenze gesetzt, was in der Bezeichnung Wachstumsbedürfnisse zum Ausdruck ge- bracht wird.

23.2 Bedürfnisbefriedigung macht wahrnehmungsfähig

Der Wunsch nach Respektierung eigener moralischer Vorstellungen und Werte ist ein hochrangiges Wertschätzungsbedürfnis. Der Wunsch nach Gestaltung der Arbeitsumwelt, die auf solchen Werten und Idealen basiert, kann wie auch die ethi-

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sche Reflexion – verstanden als autonome, kritische Reflexion bestehender eigener und neu erfahrener fremder Wertvorstellungen – als Selbstverwirklichungsbedürfnis interpretiert werden.

Betrachtet man die Motivation zur Befriedigung von Wachstumsbedürfnissen unter Berücksichtigung von Defizit- und Progressionsprinzip, führt dies zu einer interes- santen Erkenntnis: Erst wenn die vorgeordneten Defizitbedürfnisse angemessen be- friedigt sind, besteht für ein Individuum die Möglichkeit, sich überhaupt mit der Befriedigung seiner Wertschätzungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse zu be- schäftigen. Auf die ethische Dimension des klinischen Alltags übertragen, heißt dies: Erst wenn – mindestens – die im Arbeitskontext auftretenden sozialen Bedürf- nisse und Sicherheitsbedürfnisse der Mitarbeitenden angemessen befriedigt sind, entsteht eine Bereitschaft, sich auf das Einbringen eigener Wertvorstellungen und auf ethische Reflexion einzulassen.

Umgekehrt formuliert: Kein Mitarbeiter im Krankenhaus fühlt sich intrinsisch moti- viert, über ethische Fragestellungen des klinischen Alltags zu reflektieren, wenn im Team keine wertschätzende, anerkennende Grundhaltung herrscht, wenn Kommu- nikationsprobleme die sozialen Beziehungen dominieren, oder die berufliche Ent- wicklung im Ungewissen liegt (s. Abb. 15). Die so belasteten Individuen fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf das am niedrigsten liegende Defizit und sind bestenfalls motiviert, dieses zu befriedigen, bevor sie überhaupt aus der Wahrnehmung eines darüber liegenden ungestillten Bedürfnisses Motivationskraft gewinnen können.

Das schadet sowohl den Mitarbeitenden individuell, der Zusammenarbeit im Team und nicht zuletzt auch den Patienten, für deren Bedürfnisse die Sensibilität verloren geht, wenn die eigenen Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Die im Titel ge- nannten geordneten Arbeitsverhältnisse beziehen sich auf genau jene Defizitbedürfnis-

Sicherheitsbedürfnisse Soziale Bedürfnisse

Wertschätzungs- bedürfnisse

Unzureichende Würdigung der Arbeitsleistung ("nicht geschimpft ist ausreichend gelobt")

Ungerechte oder unzureichende Anerkennung - auch finanziell

Mangelnde Achtung der eigenen moralischen Vorstellungen

Keine angemessene Karriereförderung

Nicht ernst genommen oder beteiligt werden, vor allem bei Veränderungen

Arbeitsabläufe, die keine Verlässlichkeit erlauben

Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes

Angst vor Ausgliederung/Outsourcing

Abhängigkeiten in undurchsichtigen Hierarchien

Dominanz impliziter Regeln über die expliziten

Ungewissheit, ob die Kriterien für die Weiter- bildung (z. B. Facharzt) erfüllt werden können

Kommunikationsprobleme im Team

"Blockbildung" Ärzte vs. Pflege o.a.

Unterdrückung der Meta-Kommunikation

Mangelnde Corporate Identity

Ausgrenzung auf Grund von "Andersartigkeit"

Mobbing, Belästigung, Nötigung

Physiologische Bedürfnisse

Krankmachende Arbeitszeiten

Chronische Überlastung

Ungeregelte Pausenzeiten

Abb. 15 Einige Probleme des klinischen Arbeitsalltags, die die Beschäftigung mit medizinethischen

Anliegen gefährden

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23 Erst kommt das Fressen, dann die Moral – Geordnete Arbeitsverhältnisse als Voraussetzung, sich mit ethischen Fragen angemessen zu befassen

se – Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse und weitere Wertschätzungsbedürf- nisse –, die befriedigt sein müssen, damit die Mitarbeiter überhaupt einen Sinn in der Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen im klinischen Alltag sehen können.

Etwas verkürzt mit Brecht gesprochen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

23.3 Nur wertgeschätzte Mitarbeitende können mit Patienten wertschätzend umgehen

Diese Einsicht ist besonders wichtig, wenn klinische Ethikberatung mit dem Ziel implementiert wird oder wurde, bestimmte Aufgaben effizient zu erfüllen, wie sie z. B. die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer vorschlägt [Neitzke 2008]. Geringe Akzeptanz, Nichtinanspruchnahme oder offene Ablehnung von Ethik- beratung oder Gleichgültigkeit ihr gegenüber müssen nicht zwingend auf ein Ver- sagen der Institution während oder nach der Implementierung selbst hinweisen, sondern können ein Anzeichen dafür sein, dass viele Mitarbeiter von ganz anderen Sorgen geplagt werden [Dörries 2008]. Wenn die Mitarbeitenden ihre tägliche Arbeit als Beeinträchtigung ihrer Bedürfnisse oder gar als Wohlfahrtsverlust empfinden, wenn sie von Strukturen innerhalb der Organisation oder Führungspraktiken frust- riert werden und zur inneren Emigration übergehen oder gar in großer Zahl den Arbeitsplatz wechseln, hat die Organisation ein viel größeres Problem als die Imple- mentierung klinischer Ethikberatung: Sie verschwendet Mitarbeiter-Ressourcen und ist nicht zur optimalen Patientenversorgung in der Lage. Hier kann eine systemische Organisationsberatung die Mitarbeiter dabei unterstützen, defizitäre Bedürfnisse zu identifizieren und ihre eigenen Lösungen für deren Befriedigung zu finden.

Erst wenn geordnete Arbeitsverhältnisse herrschen, wird eine allgemein akzep- tierte klinische Ethikberatung wirksam zur Optimierung von klinischen Prozessen und Strukturen beitragen.

Literatur

Dörries A (2008) Ethik im Krankenhaus. In: Dörries A, Neitzke G, Simon A, Vollmann J (Hrsg.) Klinische Ethikbera- tung. Ein Praxisbuch. Kohlhammer, Stuttgart, S. 13–23

Maslow A (1954) Motivation and Personality. New York

Neitzke G (2008) Aufgaben und Modelle von Klinischer Ethikberatung. In: Dörries A, Neitzke G, Simon A, Voll- mann J (Hrsg.) Klinische Ethikberatung. Ein Praxisbuch. Kohlhammer, Stuttgart, 58–75

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Dipl.-Biol. Dr. biol. hum. Michael Gommel

Herr Dr. Gommel arbeitet seit 1995 als Medizinethiker in Aus-, Fort- und Wei- terbildung an Universitäten, Kliniken und Akademien und als Berater für Orga- nisationen im Gesundheitswesen. Seit 2009 hat sich sein Arbeitsschwerpunkt auf die Fortbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Beratung von Forschungseinrichtungen in „guter wissenschaftlicher Praxis“ verlagert.

Er ist ausgebildeter Systemischer Coach und Prozessberater (die Ausbildung ist vom DBVC anerkannt) und hat eine zertifizierte didaktische Qualifikation.

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