Übergänge im Bildungssystem Kein Kind darf verloren gehen
Dr. habil. Kai Maaz Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
1. Bildungskonferenz in Bottrop
22. September 2010
Ausgangspunkt
• Schule und Berufsausbildung – Erfolg bleibt eine Frage der Herkunft
(Leven, Quenzel & Hurrelmann, 2010 (Shell-Jugendstudie))
• "Das Thema Bildungsgerechtigkeit wird im Vordergrund der Arbeit der
Regierungskoalition stehen. Kein Kind darf
verloren gehen. Bildung ist ein Bürgerrecht
und wir wissen, dass wir dabei noch nicht
gut genug sind."
(Bundesministerin Schavan)Gliederung
• Übergang in die Grundschule
• Übergang in die Sekundarstufe I
– Diskussion um die Verlängerung der Grundschulzeit – Identifikation von sozialen Ungleichheiten beim
Übergang nach der Grundschule
• Übergänge in Ausbildung von Hauptschulabsolventen
• Übergang ins Studium
Übergang in die Grundschule
Übergang in die Grundschule
• Vergleichsweise wenige Studien
Reguläre Einschulung; 79%
Vorgezogene Einschulung;
4 % Verspätete Einschulung; 17
%
• Ca. ein Drittel bis zur Hälfte der Kinder haben
Übergangsprobleme
(Griebel & Niesel, 2004)Übergang in die Grundschule
• Wie kann der Übergang den Kindern erleichtert werden?
– Strukturelle Verzahnung von Elementar- und Primarbereich
– Spezielle Kooperationsmaßnahmen in der Phase des Übergangs
– Curriculare Abstimmungen zwischen beiden Bildungsbereichen
– Aus- und Fortbildung des jeweiligen
Fachpersonals
(Roßbach, 2008)Übergang in die Sekundarstufe I
Realschule Gymnasium
Hauptschule
???
Erklärungsmodelle - Werterwartungstheorien
• Beispiel: Theorie rationaler Bildungsentscheidungen
(Eriksson & Jonsson, 1996)
9
U = PB – C Nettonutzen =
Erfolgswahrscheinlichkeit x Bildungsrendite ‐ Kosten
Annahme:
Systematische Variation zwischen den Schichten in diesen drei Komponenten erklärt soziale
Ungleichheiten beim Übergang
Diskussion um die Verlängerung der Grundschulzeit
Der Streit um die sechsjährige Grundschule
Hintergrund der Auseinandersetzung
– Forderung nach längerem gemeinsamen Lernen
– Aufteilung auf die Schulformen im Alter von 10 Jahren zu früh – Soziale und leistungsbezogene Ungleichheiten bei der
Schulformzuweisung; zu viele Fehlplatzierungen
Der Streit um die sechsjährige Grundschule
– Sonderfall Berlin: Frühübergang nach Klasse 4 auf „grundständige“
Gymnasien mit spezifischen Bildungsprogrammen (altsprachlich, billingual, sport- und musikbetont, „Schnellläufer“-Züge)
– ca. 8 Prozent wechseln vorzeitig, hohe Nachfrage, hohe Aufnahmekriterien
– Motivation zum vorzeitigen Wechsel verbindet sich auch mit Hoffnung zur besseren Förderungen in den „Kernfächern“ (z.B. Mathematik und Deutsch)
– Kritiker der sechsjährigen Grundschule: leistungsstarke Schüler werden dort nicht angemessen gefördert!
– Vergleich der Leistungsentwicklung in der 5. und 6. Jahrgangsstufe an der Grundschule und den grundständigen Gymnasien in den Bereichen Mathematik und Lesen
Deskriptive Ergebnisse
Grunds chule Grunds tändige s
Gym nas ium
50 75 100 125 150
Klas s e 4 Klas s e 5 Klas s e 6
Leseverständnis
Grunds chule Grunds tändige s
Gym nas ium
50 75 100 125 150
Klas s e 4 Klas s e 5 Klas s e 6
Mathematik
Lehmann et al., 2009
Note Deutsch Note Mathematik
Note Sachkunde Note Musik Note Sport Lesefähigkeit Mathematikleistung Kognitive Grundfähigkeiten Leseinteresse Sozialer Status (HISEI) Bildung der Eltern: Ohne Abschluss(0/1) Haupt-o. Realschule ohne Berufsabschl.(0/1)
Hauptschule und Lehre (0/1) Realschule und Lehre (0/1) Realschule und Fachschule(0/1) (Fach-) Abitur ohne Hochschule (0/1)
(Fach-)Hochschulabschluss (0/1) Buchbestand Bildungsgüter Migrationsstatus (0/1) Geschlecht (0=männlich; 1=weiblich Anzahl grundständiger Gymnasien im Bezirk
vor Matching nach Matching
0.0 0.5 1.0 1.5
Standardisierter Mittelwertsabstand *
*Polung der Mittelwertsunterschiede: positive Werte indizieren günstigere Werte für Gymnasiasten Baumert et al., 2009
Multivariate Ergebnisse
116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136
Lesefähigkeit (Ende Klasse 6) Mathematikleistung (Ende Klasse 6) Grundschüler Gymnasiasten
Leistungen in Lesen und Mathematik am Ende der sechsten Klasse von Gymnasiasten und „statistischen Zwillingen“ an Grundschulen
Baumert et al., 2009
Identifikation von sozialen Ungleichheiten
beim Übergang nach der Grundschule
Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungsungleichheit
Ressourcen der sozialen Herkunft Ökonomisches Kapital
Kulturelles Kapital Soziales Kapital
Bildungsübergang Soziale Ungleichheit
Theoretisches Erklärungsmodell
nach Boudon (1974)
Ressourcen der sozialen Herkunft Ökonomisches Kapital
Kulturelles Kapital Soziales Kapital
Bildungsübergang Soziale Ungleichheit Sekundäre
Herkunftseffekte Bildungsentscheidung
Kosten- und Nutzenkalkulation
Primäre
Herkunftseffekte Schulische Performanz
Definition von primären und sekundären Herkunftseffekten
• Herkunftseffekte können bereits vor dem
Übergang entstehen und weitertransportiert werden:
– Benotung
– Empfehlungsvergabe – Übergang
• Herkunftseffekte können
– primärer Natur sein, wenn sie über die objektive Leistung verlaufen.
– sekundärer Natur sein, wenn sie an der objektiven Leistung vorbei verlaufen.
Schülerbeurteilung Schülerverhalten
Strukturmodell der Herkunftseffekte
reduziertes Modell
Sozialer Hintergrund
Objektive Schulleistungen
Übergang Noten Empfehlung
Sekundäre HerkunftseffektePrimäre Herkunftseffekte
Schülerbeurteilungen Schülerverhalten
Primäre und sekundäre Herkunftseffekte der Leistungsbeurteilung
SES
NOTE TEST
EMPF ÜBER
0 10 20 30 40 50 60 70 80
Leistungsbeurteilung Laufbahnbeurteilung Übergangsverhalten
Prozent
Primärer Effekt Sekundärer Effekt
Maaz & Nagy, 2009
Primäre und sekundäre Herkunftseffekte der Laufbahnbeurteilung
SES
NOTE TEST
EMPF ÜBER
0 10 20 30 40 50 60 70 80
Leistungsbeurteilung Laufbahnbeurteilung Übergangsverhalten
Prozent
Primärer Effekt Sekundärer Effekt
Maaz & Nagy, 2009
Primäre und sekundäre Herkunftseffekte des Übergangsverhaltens
SES
NOTE TEST
EMPF ÜBER
0 10 20 30 40 50 60 70 80
Leistungsbeurteilung Laufbahnbeurteilung Übergangsverhalten
Prozent
Primärer Effekt Sekundärer Effekt
Maaz & Nagy, 2009
Zerlegung der erklärten Varianz in Sozialschicht, Test- und Urteilskomponenten
Baumert, Maaz & Jonkmann, 2010
Zerlegung der erklärten Varianz in Sozialschicht, Test- und Urteilskomponenten
Baumert, Maaz & Jonkmann, 2010; Maaz & Nagy, 2009
Übergänge in Ausbildung
von Hauptschulabsolventen
Übergangswege von Hauptschulabsolventen
Schule 35 %
Ausbildung 26 %
Ohne Ausbildung/
Arbeit 9 % Berufsvorbereitung
26 % Ende des letzten Pflichtschuljahres
(Reißig, Gaupp & Lex, 2008) Ein halbes Jahr nach Ende des Pflichtschuljahres
Nachmittagsangebote
Freizeit Mathe Deutsch Nawi
•Wer partizipiert an den Nachmittagsangeboten in der Schule?
Migration SES
Leseleistung Nawi-Leistung
Mädchen
- -
-
- -
+ +
+
+ + +
+ positiver Effekt auf die Teilnahme - negativer Effekt auf die Teilnahme
(Hertel et al., 2008)
Angebote im Rahmen des Übergangs
•Spezielle Fächer in der Schule (Arbeitskunde)
•Angebote für Jugendliche, die auf Grund ihrer äußeren Lebensumstände, ihrer Persönlichkeitsstruktur oder Schulleistungen keine Ausbildung gefunden haben
•Arbeitsformen sind:
– Beratung – Vermittlung
– Berufsvorbereitung – Berufsausbildung
– Berufliche Qualifizierung
Angebote im Rahmen des Übergangs
•Breites Spektrum an Kursangeboten mit den Zielen
– Kompetenzbildung, Integration und Partizipation•Positive Ergebnisse
0 0,5 1 1,5 2 2,5 3
Ich bin selbstbewusster und verantwortungsbewusster
geworden.
Ich habe meine sozialen Fähigkeiten verbessert.
Ich kann nun viele Dinge besser planen und
organisieren.
Ich habe viele fachliche Kenntnisse erworben.
Hauptschule Realschule Gymnasium
Übergangswege von Hauptschulabsolventen
Schule 35 %
Ausbildung 26 %
Ohne Ausbildung/
Arbeit 9 % Berufsvorbereitung
26 % Ende des letzten Pflichtschuljahres
(Reißig, Gaupp & Lex, 2008) 42 %
Zwei Jahre nach Ende des Pflichtschuljahres
Ein halbes Jahr nach Ende des Pflichtschuljahres
37 % 5 % 9 %
6 % 85 % 1 % 6 %
9 % 52 % 6 % 15 %
22 % 46 % 4 % 16 %
Schule 22 %
Ausbildung 54 %
BV 4%
Ohne A/A 11 %
Übergang ins Studium
Funktionen des Beruflichen Gymnasiums
Berufliche Gymnasien wollen ...
1. Absolventen mit mittleren Abschlüssen einen speziellen Weg zum Abitur öffnen
und in besonderer Weise auf entsprechende
Studiengänge vorbereiten.
2. Begabungen erfassen,
denen das Gymnasium des allgemeinen Schulwesens nicht gerecht wird.
3. das regionale Bildungsgefälle innerhalb des Landes und das soziale Bildungsgefälle
zwischen den Bevölkerungs- schichten soweit wie möglich beseitigen.
Grundschule
GYM RS HS
Oberstufe an
beruflichen Gymnasien
19,8 % 1,4 % 6,9 % 53,9 % 5,6 % 5,2 %
Grundschule
GYM RS HS
Oberstufe an
allgemeinbildenden Gymnasien
94,0 % 2,5 % 1,6 %
Bildungsbeteiligung in der gymnasialen Oberstufe: Bildungsniveau und Sozioökonomischer Status
40 50 60 70 80
Allgemeinbildendes Gymnasium Berufliches Gymnasium
Mittelwert
0 10 20 30 40 50 60 70
Allgemeinbildendes Gymnasium Berufliches Gymnasium
Schüler aus Akademikerfamilien
Prozent
Sozioökonomischer Status der Eltern (ISEI)
Bildungsqualifikation der Eltern
Differenzierte Oberstufe und Hochschulzugang – schulformabhängige Studienübergangsquoten
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Insgesamt AG BG EG/ArG/SG TG WG
Prozent
Anmerkungen: AG = Allgemeinbildendes Gymnasium, WG = Wirtschaftsgymnasium, TG = Technisches Gymnasium, Arg = Agrarwissenschaftliches Gymnasium, EG = Ernährungswissenschaftliches Gymnasium, SG = Sozialpädagogisches
Gymnasium
Kosten- Nutzenabwägungen als eine Erklärung
sozialschichtabhängiger Bildungsentscheidungen
Theoretisches Erklärungsmodell nach Boudon (1974)
Sekundärer Herkunftseffekt
Primärer
Herkunftseffekt Primärer
Herkunftseffekt
Soziale Herkunft Bildungsübergang
Leistungsmerkmale
Sekundärer Herkunftseffekt
Kosten- und
Nutzenkalkulationen
Herkunftsabhängige Bildungsentscheidungen:
Kosten- und Nutzenabwägungen
Grundannahmen der Werterwartungstheorie
(Boudon, 1974; Esser, 1999)
• Individuen kalkulieren bei der Entscheidungsfindung,
– welche Kosten mit dem Besuch eines Bildungsgangs verbunden sind – welche Erträge sich hieraus ergeben.und
• Es wird aus einem Pool von Möglichkeiten diejenige gewählt,
– die den höchsten Nutzen verspricht und– deren Erfolg am wahrscheinlichsten eintrifft.
Erwartung eines drohenden Statusverlustes bei
Bildungsverzicht
Vermeidung eines sozialen Abstiegs, wenn kein Aufstieg realisiert werden kann
Herkunftsabhängige Bildungsentscheidungen:
Kosten- und Nutzenabwägungen
(Esser, 1999; Becker, 2000)Der Entscheidung zugunsten höherer Bildung eines Schülers ist umso wahrscheinlicher,
• je günstiger die Erfolgswahrscheinlichkeit (p) eingeschätzt wird.
• je ausgeprägter der Wert für die
Wahrscheinlichkeit eines Statusverlustes bei Bildungsverzicht (c) und
• je ausgeprägter das Motiv des Statuserhalts (SV) ist,
• je geringer die Kosten (C) eingeschätzt werden,
• je größer der erwartete Bildungsnutzen (U) eingeschätzt wird,
Erwartete Bildungsrenditen wie Einkommen, Prestige, berufliche Stellung
Wert der erwarteten direkten und indirekten Kosten für eine Bildungsalternative
Erwartungswert für die Realisierung des
Bildungserfolges
Sekundäre Disparitäten des Hochschulzugangs: unterschiedliche Kosten- und Nutzenabwägungen (stand. Regressionskoeffizienten)
M 1 M 2
Kosten- und Nutzenindikatoren
Prädiktoren r
β βSchülerleistung .32 .31 .20
Sozioökonomischer Status (ISEI) .13 .07 n.s.
- Bildungsnutzen .20 .17
- Statusverlust .14 .11
- Wahrscheinlichkeit für Statusverlust .21 .15
- Erfolgswahrscheinlichkeit .29 .11
- Kosten -.14 -.05
Zugang zum Hochschulstudium (hier Studienintention)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
maaz@mpib-berlin.mpg.de