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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich Year: 2014.

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University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2014

Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Interdisziplinäre Tagung vom 10. bis zum 12. Oktober 2013 im Tagungszentrum Boldern, Männedorf bei Zürich)

Benz, Maximilian

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-139335

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Benz, Maximilian (2014). Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Interdisziplinäre Tagung vom 10. bis zum 12. Oktober 2013 im Tagungszentrum Boldern, Männedorf bei Zürich). Zeitschrift für Deutsche Philologie, 133(1):n/a.

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TAGUNGSBERICHT

„Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“. Interdisziplinäre Tagung vom 10. bis zum 12. Oktober 2013 im Tagungszentrum Boldern, Männedorf bei Zürich (Schweiz).

„Gleichzeitigkeit sagt nichts aus.“ Mit diesem Dürrenmatt-Zitat eröffneten die Veranstalterinnen Susanne Köbele und Coralie Rippl (beide Zürich) provokativ die internationale, durch den Schweizerischen Nationalfonds und den Zürcher Universitätsverein geförderte Tagung, deren Ziel es war, die genuin literarische Signifikanz von Gleichzeitigkeit – das Verhältnis von Sukzession und Simulta- neität sowie narrative und performative Strategien und Effekte von Synchroni- sierung – im interdisziplinären Gespräch zu untersuchen. Auf der Basis einer möglichst präzisen Unterscheidung von analytischem Strukturbegriff (Gleich- zeitigkeit auf der Beobachtungsebene) und Objektkategorie (Gleichzeitigkeit auf der Gegenstandsebene) wurde ganz umfassend danach gefragt, wie Texte Gleichzeitigkeit thematisieren und generieren. Da die systematische Perspektive dabei stets an den je spezifischen historischen Fall rückgebunden wurde, stimu- lierte die Fragestellung die Verhandlung von Diskurs-, Gattungs- oder Epo- chenspezifika des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wobei sich allenthalben Aspekte der ‚symbiotischen Konkurrenz geistlich-weltlicher Parallelkulturen‘

(Susanne Köbele) zeigten. Facettenreich und differenziert widerlegte die Ta- gung, deren Beiträge im Folgenden je für sich zusammengefasst werden, Dür- renmatts Aperçu.

I. Heilsgeschichtliche Sukzession und figurale Simultaneität:

Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit

Bernhard Huss (Berlin) eröffnete einen neuen Zugang zu Petrarcas „Trionfi“, die im Zeichen der Laura-Liebe und einer umfassenden, augustinisch fundierten kulturhistorischen Erinnerungsarbeit verschiedene Zeitschichten überblenden und eine Fülle memorialer Textfunktionen evozieren: Die Arbeit des riconoscere und raffigurare dient der Sicherung einer praesens de praeteritis memoria. Tex- tuelle Strategien einer den Leser involvierenden Vergegenwärtigung konnte Huss dabei ebenso ausfindig machen wie paradoxe Effekte von Aufschub und gleichzeitiger Simultaneisierung. Im erzählten (wiedergestalteten) Augenblick der Vision berühren sich zeitliche Progression und aeternitas. So tritt die indi- viduelle Geschichte Petrarcas mit dem erzeugten Kontinuum della storia uni- versale in eine spezifische Spannung. Eben diese Spannung, die Huss über ein ebenendifferenzierendes Modell (erzählendes und erlebendes Ich, Atemporalität einerseits, Hyperrealisierung von Zeit anderseits) rekonstruierte, zeigt sich ins- besondere in der religiös-metaphysischen Simultaneisierung im „Trionfo dell’Eternità“: Im ‚Vorhof‘ der Ewigkeit wird Petrarcas Werk an diese herange- rückt. Die Interpretation literarischer (zeitlogischer) Eigendynamiken überwin-

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Tagungsbericht

det auf diese Weise die unglückliche Alternative einer Ent- oder Re-Theologi- sierung.

Christian Kiening (Zürich) blickte auf die komplexe Zeitlichkeit der Schöpfung und wählte mit Hugo von St. Viktor, Wilhelm von Conches, Thierry von Chartres und Bernardus Silvestris Autoren der Mitte des 12. Jahrhunderts, die an derselben Systemstelle arbeiten. Denn die Suche nach einem literalen Ver- ständnis der „Genesis“ führt zu einer Verschränkung von Rhetorik, Exegese und Hermeneutik, indem exegetischer Kommentar und naturgesetzliche Erklä- rung mit Aspekten von Zeitlichkeit auf der Ebene der Darstellung einhergehen.

In Bernardus’ integumentum, das den Prozess fokussiert, werden zudem kon- zeptuelle und imaginative Komponenten enggeführt: So bedient sich die Dar- stellung etwa in der allegorischen Figur der Noys, die von der Ewigkeit imprä- gniert, doch nicht identisch mit dem Göttlichen ist, des Imaginären, ohne den Anspruch auf Rationalität aufzugeben. Gleichzeitigkeit ist darüber hinaus ein Prinzip der Texturen: In progredierenden und zugleich mäandrierenden Verfah- ren wird die Paradoxie der Zeit selbst, die vom Ewigen herrührt, aber davon unterschieden ist, zur Darstellung gebracht.

Gerhard Regns (München/Köln) Abendvortrag ging vom Purgatorio in Dantes

„Divina Commedia“ aus, von dessen Entstehung in der Zeit in Form eines my- thopoetischen Bibelkommentars erzählt wird. Die endliche, linear ablaufende, tropologische Zeit des Purgatorio kontrastiert mit der Zeitlosigkeit des Paradiso und des Inferno. Während im Paradiso das Temporale in den Hintergrund tritt angesichts eines Spiels, innerhalb dessen sich Bildauflösung und Räumlichkeit bedingen, wird die Zeitlosigkeit des Inferno durch die Ereignishaftigkeit des Gnadengeschenks der Jenseitsreise unterbrochen, die Zeit in die Ewigkeit bringt: In der dialogischen Begegnung von Dante und Höllenbewohnern findet eine momentgebundene Restitution ihrer Menschlichkeit statt, auf die der Jen- seitsreisende mit seiner compassio reagieren kann. Bei allen subtilen, inter- und intratextuell motivierten Entlastungsstrategien führt dies aber nicht zu einer In- fragestellung göttlicher Gerechtigkeit.

Frank Bezner (Berkeley) näherte sich über je ein früh-, hoch- und spätmittelal- terliches Beispiel der Komplexität von Simultaneisierungseffekten in der mittel- lateinischen Literatur; Koeventualität, also die Isochronie von Handlungen, ist in diesen Fällen nicht der wesentliche Punkt. In der karolingischen Dichtung werden vielmehr über eine Vielfalt von imitationes (Karl als Palaemon, David, Aeneas; zugleich literarische Vergil-imitatio) politisches und ästhetisches Pro- gramm im Zeichen der Gleichzeitigkeit verschmolzen; die politisierte Figurali- tät der Dichtung bearbeitet dabei ein Legitimitätsdefizit. Bernardus Silvestris wiederum stellt Erzählung und Prinzipienreflexion simultan dar, verbindet also Kosmogonie und Kosmologie, indem die allegorischen Figuren zugleich kos- mologische Prinzipien sind, die auch für sich beschrieben werden können. Si- multaneität ist dabei zudem ein Element der Darstellung, etwa wenn Begriffe der Beschreibung der hylē bei der Erzählung des Widerstreits der Elemente auf- genommen werden und so die Präsenz der hylē in den vier Elementen darstel-

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len. Schließlich werden bei Bartholomäus Latomus im Zusammenhang mit der Belagerung Triers durch Franz von Sickingen Gleichzeitigkeitseffekte (etwa die Teichoskopie) in einem ansonsten linear erzählten Text zu einem juristischen Argument, das darauf zielt, die Schuld an der Zerstörung des Klosters St. Ma- ximin zu klären: Die Erzählung des Geschehens liefert zugleich den Deutungs- rahmen.

II. ‚Gleichzeitigkeit erzählen‘ in der Perspektive historischer Narratologie:

Nacheinander und Nebeneinander in Zeit und Raum

Uta Störmer-Caysa (Mainz) befragte Texte des frühen Mittelalters in Hinsicht auf „Verlust und Wiedergewinn von Mehrsträngigkeit“. Im „Hildebrandlied“

und dem englischen „Deor“ lässt sich an der Textoberfläche keine Mehrsträn- gigkeit erkennen; während das „Hildebrandlied“ in der Konfrontation der zwei Vergangenheiten von Vater und Sohn das Gelingen einer allgemeinen, aber das Scheitern einer speziellen Synchronisierung vorführt und so rezipientenseitig eine Reflexion über die Grundlagen von Synchronisierung anregt, fordern die beiden Wielandstrophen des „Deor“ mit ihrem inversen Subjekt-Objekt-Ver- hältnis an mehreren Stellen die Annahme von Trennungen von Figuren und Orten: Es handelt sich um eine im plot eingeschriebene Mehrsträngigkeit; suk- zessive erzählte Ereignisse müssen gleichzeitig gedacht werden, ohne dass dies auf der Erzähloberfläche ausgedrückt würde. Im „Waltharius“ findet sich eben- falls eine etwa im plot der Fluchthandlung liegende innere Zweisträngigkeit, die hier aber bewusst abgeschnitten wird; in der Pandaros-Anspielung kann man vielleicht sogar eine bewusste Reflexion auf die Faktur von Mehrsträngigkeit erkennen. Im „Beowulf“ schließlich wird Gleichzeitigkeit mit Fokalisierung in Form einer ‚Kameratechnik‘ verbunden, wenn davon erzählt wird, wie sich Grendel den Schlafenden nähert. Die Sänger im germanisch-sprachigen Raum arbeiten somit mit Simultaneität, ohne Mehrsträngigkeit in der Erzählung zu entfalten.

Cordula Kropik (Jena) arbeitete an Eilharts von Oberge „Tristrant“ heraus, wie durch die parallele Konstruiertheit der Handlungsteile im Zuge der Verdreifa- chung des Tristrant-Lebens ‚strukturelle Gleichzeitigkeit‘ zu Sinnbildungspro- zessen führt. Entscheidend hierfür ist der Dreischritt einer problematischen In- tegration von Herrschaft und Liebe, der potenziellen Lösung dieses Problems durch Separation der beiden Bereiche und des schließlichen Scheiterns im Zei- chen der Reintegration. Unter Rekurs auf Lotmans Raumtheorie lassen sich Cornwall und Karkes als zwei Räume verstehen, die semantischen Ordnungen entsprechen. Tristrant spaltet sein Leben auf in die Teilbereiche von Liebe (Cornwall) und Herrschaft (Karkes). Allerdings ist er die einzige Figur, die zwi- schen beiden Bereichen wechseln kann; durch Kehenis’ Reise nach Cornwall werden die Grenzen zwischen den beiden separierten Bereichen aufgehoben.

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Tagungsbericht

Susanne Reichlin (München) ging von dem literarhistorischen Cliché aus, dass in Wolframs von Eschenbach „Willehalm“ ein einfaches, lineares Erzählen überwunden werde durch zeitliche Konzentration, das ‚analytisch-desultori- sche‘ Verfahren (Thaddaeus Zielinski) und zeitliche Konkretisierung sowie Symmetrisierung. Reichlins close reading zeigte demgegenüber, dass diese Spe- zifik von der Forschung überbetont wird (so ergibt sich gegenüber der „Bataille d’Aliscans“ allein schon durch die Auflösung der Laissen in Reimpaarverse ein Erzählkontinuum) und dass Wolfram Erzähltechniken der chanson de geste auf- nimmt, diese aber im Detail modifiziert; so finden sich auch bei Wolfram Sprünge, die aber ex post synchronisiert werden. Zum anderen gehen ganz grundsätzlich Evokationen von Gleichzeitigkeit nicht in der Simultaneität er- zählter Ereignisse auf, vielmehr treten zur Handlungsebene weitere Referenz- systeme (etwa die Gedanken einer Figur oder die Erzählzeit); schließlich lässt sich Wolframs Innovation als gezielte Einführung verschiedener Synchronisie- rungsmodelle (fokalisierende, optische, enumerative oder motivische Synchro- nisierung) beschreiben, die sich auf verschiedene Referenzsysteme beziehen und denen verschiedene Figuren zugeordnet werden können.

Rabea Kohnen (Bochum) analysierte die Überblendung verschiedener Zeit- schichten im „Orendel“. Indem der Text einerseits auf Datierungen und zeit- liche Angaben Wert legt, andererseits aber die chronologische Ordnung außer Kraft setzt, wird Zeit symbolisch dimensioniert (so wird die Übergabe des Ro- ckes durch Orendel 16 Jahre nach der Passion Christi verortet, seine spätere Frau Bride aber ist die Tochter König Davids, in dessen Schwert eine Reliquie des Hl. Brandan eingelassen ist). Gleichzeitigkeit wird dabei nicht nur auf der Ebene der Handlung oder verschiedener Motive evoziert: Auf erzählerischer Ebene lehnt sich der Text in den Kämpfen um Jerusalem an das Muster der deuterokanonischen Erzählung vom Makkabäeraufstand an, und durch die pa- ratextuelle Rahmung wird auch das Zeitgeschehen um Kaiser Maximilian einbe- zogen.

Jan-Dirk Müller (München) ging in seinem Abendvortrag von der Nichtidenti- tät von memoria und Geschichtsschreibung aus, da die memoria räumlich orga- nisiert ist und visuell funktioniert. Wo sich nun der discours der memoria an- passt, entsteht ‚memoriales Erzählen‘, das ‚Erinnerungstafeln‘ (monumenta) schafft, wobei die Kopräsenz im Raum nicht mit Gleichzeitigkeit gleichgesetzt werden kann. In der Literatur vor 1200 lassen sich Transformationen des me- morialen Erzählens beobachten: Im „Nibelungenlied“ ist memoriales Erzählen auf dem Rückzug, Spuren finden sich aber etwa in Hagens Erzählung von Sieg- frieds Jugendgeschichte (3. Âventiure), in der aus Hagen das Sagengedächtnis spricht, oder in der dysfunktionalen Aufzählung von Etzels Vielvölkerschaft zu Beginn der 22. Âventiure, deren Voraussetzung eine ‚Erinnerungstafel von Et- zels großer Macht‘ ist. In der „Chanson de Roland“ finden sich deutliche Spu- ren memorialen Erzählens, etwa im kunstvollen Arrangement der Nennung der Namen heidnischer und christlicher Krieger, die auf Heldentafeln, die neben- einander gestellt werden können, also auf eine nichtnarrative Ordnungsstruktur

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zurückgehen. Im „Rolandslied“ hingegen lässt sich (ohne dass dies nun die Quellenfrage im Speziellen betreffen würde) die Auflösung memorialen Erzäh- lens beobachten, wobei die Erzählung von Zeit erst mit Blick auf eine vorgän- gige erratische Achronie der Heldentafeln sichtbar wird. Was die Kämpfe etwa betrifft, ersetzt eine narrative Anordnung das politische Arrangement der Erin- nerungstafeln. Damit steht das „Rolandslied“ zwischen den Tafeln der chanson de geste und chronikalischem Erzählen.

Lukas Werner (Wuppertal) systematisierte unter Bezugnahme auf Schelmenro- mane („Lazaril von Tormes“, Grimmelshausens „Simplicissimus“ und Reuters

„Schelmuffsky“) zunächst Formen der Gleichzeitigkeit auf der Ebene der er- zählten Welt und auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung. Was die er- zählte Welt betrifft, kann die Gleichzeitigkeit von Handlungssegmenten explizit durch Temporaladverbien oder implizit durch die Aktionsarten von Verben, durch Motivation oder Komposition hergestellt werden. Auf der Ebene der er- zählerischen Vermittlung entsteht Gleichzeitigkeit durch die Überbrückung der raumzeitlichen Differenz zwischen erzählter Welt und Erzählposition, so durch die Koinzidenz von Erzähltem und Erzählen, durch die Verschränkung von Fi- gurenrede und Erzählerbericht (nachgerade in der erlebten Rede) oder durch Metalepsen sowie mise en abyme-Strukturen. Mit Blick auf die Schelmenro- mane zeigen sich je unterschiedliche Funktionen dieser Formen: Während sie im „Lazaril von Tormes“ (hinsichtlich der Handlungsmotivierung) und im

„Simplicissimus“ (hinsichtlich der Möglichkeit, den Raum aufzufächern) der Ereigniskoordination dienen, bietet Gleichzeitigkeit im „Schelmuffsky“ die Möglichkeit, den Erzählakt als Erzählakt zu reflektieren.

III. Gleichzeitigkeit als Performanzphänomen

Cornelia Herberichs (Stuttgart) beschäftigte sich mit der Komplexität der Zeit- darstellung im „Berliner Weltgerichtsspiel“. Bereits der Auftritt von Johel dem Weyssage zeigt die mehrschichtige Referenzialisierung von Zeit, indem ein Me- dium göttlicher Offenbarung aus der Vergangenheit in der Gegenwart der the- atralen Aufführung spricht und sich explizit (bald, schier) auf die Zukunft be- zieht. Fokussiert man demgegenüber die (Re-)präsentation im Medium des

‚pchs‘ (der Lesehandschrift), so interferiert dieses mit den verschiedenen Zeit- stufen der Handlungsebene: Schließlich erscheinen Bücher, vor allem das Buch des Lebens (Offb 20), als Medien der Vergegenwärtigung von Vergangenheit im Zuge der ‚Rekapitulation‘ des Jüngsten Gerichts. Das „Weltgerichtsspiel“ trans- formiert gerade als Lesehandschrift auf komplexe Weise Zeit, indem je unter- schiedliche Gleichzeitigkeiten und Zusammenhänge mit der umfassenden Heilsgeschichte konfiguriert und koordiniert werden. Das ‚pch‘ erscheint der- art – so lässt sich im Anschluss an Agamben pointieren – als ein Medium ‚ope- rativer Zeit‘.

Henrike Manuwald (Freiburg i. Br.) untersuchte zunächst (implizit-)mehrsträn- giges Erzählen am Beispiel von biblischen Passagen der Passion Christi: Gleich- zeitigkeit ist hier nicht explizit dargestellt, sondern rezipientenseitig zu ‚inferie-

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Tagungsbericht

ren‘. Augustins Überlegungen „De consensu Evangelistarum“ enthalten durch das Ziel der Widerspruchsfreiheit auf der Ebene des sensus historicus das Postu- lat einer kohärenten Zeit- und einer schlüssigen Raumstruktur. Was dies für das mediävale Wiedererzählen der Passion bedeutet, zeigen Heinrichs von Hesler

„Evangelium Nicodemi“ und Bruder Philipps „Marienleben“, die die indirekte Erzählweise der Evangelien beibehalten, gleichzeitig aber versuchen, die Zeit- verhältnisse zu präzisieren. Im Medium des Bildes wiederum bedeutet die Zu- sammenordnung von Figuren keineswegs Gleichzeitigkeit, allerdings lässt sich in der „Karlsruher Passion“ eine Umsetzung ‚zu inferierender Gleichzeitigkeit‘

erkennen: Die bildliche Darstellung von Gleichzeitigkeit hängt somit von den räumlichen Darstellungskonventionen ab. Im Fall der ‚transzendenten Gleich- zeitigkeit‘ des descensus Christi ad inferos wählt das „Marienleben“ die Auf- spaltung in Körper und Seele, wohingegen das „Evangelium Nicodemi“ und die bildlichen Darstellungen in die Sukzession fliehen, ohne Gleichzeitigkeit anzu- deuten.

In ihren abschließenden, die vielfältigen Diskussionen bündelnden Worten wie- sen die Veranstalterinnen jenseits der semantisch-konzeptuellen Differenzen zwischen Gleichzeitigkeit, Gegenwärtigkeit, Simultaneität und Synchronie auf die wichtige Unterscheidung von Zustands- und Prozessbegriffen hin und un- terschieden ‚kompakte Gleichzeitigkeit‘, die an Zeit gebunden ist, von ‚empha- tischer Gleichzeitigkeit‘, die eine Identitätsrelation anzeigt und sich von einer Zeitsemantik im engeren Sinne bereits gelöst hat. Nur in vergleichender Per- spektive zeigen sich die diskurs- und gattungsabhängig verschiedenen narrativen Synchronisierungsmodelle in ihrer historischen Spezifik. Ferner ist Gleichzei- tigkeit nicht dasselbe wie ‚Strukturparallelität‘ oder ‚Kopräsenz‘, und nicht alle Synchronisierungsmodelle gehen auf in Modi der Paradigmatisierung oder Ver- gegenwärtigung. Die Darstellung von Gleichzeitigkeit und die narrative Her- stellung von Gleichzeitigkeit stehen in engem Zusammenhang, dürfen jedoch nicht kurzgeschlossen werden; die textuellen Synchronisierungsmodelle steuern darüber hinaus Raumverhältnisse. In diesem Sinne waren drei Spannungsfelder den Diskussionen der Tagung zu eigen: das zwischen einer systematischen und einer historischen Perspektive, das der Unterscheidung von discourse und his- toire sowie das zwischen räumlichen und zeitlichen Kategorien.

Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

Zürich Maximilian Benz

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