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University of Zurich. Von Menschenbildern und Hirnmodellen. Zurich Open Repository and Archive. Koukkou, M. Year: 2008

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University of Zurich

Zurich Open Repository and Archive

Winterthurerstr. 190 CH-8057 Zurich http://www.zora.uzh.ch

Year: 2008

Von Menschenbildern und Hirnmodellen

Koukkou, M

Koukkou, M (2008). Von Menschenbildern und Hirnmodellen. Soziale Medizin, 35(2):56-60.

Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich.

http://www.zora.uzh.ch Originally published at:

Soziale Medizin 2008, 35(2):56-60.

Koukkou, M (2008). Von Menschenbildern und Hirnmodellen. Soziale Medizin, 35(2):56-60.

Postprint available at:

http://www.zora.uzh.ch

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich.

http://www.zora.uzh.ch Originally published at:

Soziale Medizin 2008, 35(2):56-60.

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tagung • doku

Haben die beeindruckenden Erkenntnisse der Hirnforschung das Menschenbild verändert, auf das sich die Psychiatrie beruft?

Ist die Befürchtung berechtigt, dass dadurch der Beziehungsa- spekt und das Biographische in Psychiatrie und Psychotherapie an Bedeutung verlieren? Diesen Fragen geht Martha Koukkou im folgenden Text nach.

von Martha Koukkou**

A

n der Tagung der Schweize- rischen Gesellschaft für So- ziale Gesundheit und Soziale Medizin über «Psychiatrie, Hirnfor- schung und Menschenbilder» am 27.

Oktober letzten Jahres versuchte ich eine Antwort anzubieten auf die im Ta- gungs-Flyer gestellte Frage, wie die be- eindruckende Fülle von Erkenntnissen der neuro-physiologischen und -biolo- gischen Forschung das Menschenbild verändert hat, auf das sich die Psychiatrie beruft. Zusätzlich versuchte ich Stellung zu nehmen zu der vielfach geäusserten Befürchtung, dass diese Erkenntnisse zu einer Vernachlässigung des Subjek- tiven und zu einer Abwertung des Bio- grafischen und des Beziehungsaspekts bei der Arbeit mit Psychiatriepatien- tInnen führen.

Ich wage meine Antwort und Stel- lungnahme auf der Basis einer langjäh- rigen parallelen Arbeit in klinischer Psy- chiatrie und Hirnforschung. Im Bereich

der Hirnforschung war ich immer in Zusammenarbeit mit meinem Ehemann tätig, dem Neurophysiologen Dietrich Lehmann.

Die Ergebnisse dieser interdiszipli- nären Arbeit haben wir in einem inte- grativen Modell der Hirnfunktionen zu- sammengefasst, der Hirnfunktionen, welche die Biografie und damit die sub- jektiv wahrgenommenen Dimensionen des individuellen Verhaltens kreieren (Koukkou & Lehmann 1998, 2006;

Lehmann & Koukkou 2006). Das Mo- dell ist eine Synthese von theoretischen Überlegungen und empirischen Daten aus einem breiten Spektrum der Neuro- und Human-Wissenschaften. Diese Syn- these führte uns zu zwei allgemeinen Folgerungen:

Fehlinterpretationen der Funktionen des Gehirns

1. Es gibt sowohl in den Neurowissen- schaften als auch in den Humanwissen- schaften weit akzeptierte Positionen und wissenschaftstheoretische Annah- men über die menschliche Natur - in anderen Worten über die Menschen- bilder -, welche diejenigen Evolutions- schritte fehlinterpretiert haben, die zum menschlichen Gehirn und seinen Funk- tionen geführt haben. Das heisst, die Funktionen, aus denen das entsteht, was die Menschen psychische oder geistige (mentale) Leistungen genannt haben.

Solche Annahmen entstanden während der historischen Bemühungen des Men- schen, den Sinn des Lebens und die or- ganisierenden Prinzipien des Verhaltens

und Erlebens zu erklären. Sie fanden aus verschiedenen Gründen eine breite Ak- zeptanz, nicht nur in Form kultureller (religiöser/philosophischer) Überle- gungen, sondern auch in Form wissen- schafts-theoretischer Positionen. Diese Positionen führen zu Fehlinterpretation bzw. Missverständnissen der Funkti- onen des menschlichen Gehirns, d.h. der Funktionen des Neocortex, welche als Ergebnisse der erfahrungsabhängigen Neuroplastizität persönliche Bedeu- tungen extrahieren und das autobiogra- fische Gedächtnis kreieren.

Beispiele solcher irrtümlicher Annah- men sind unter anderem das uralte Ge- hirn-Geist ‹Problem›, die Trennung zwi- schen Biologie und Psychologie sowie Gefühl und Verstand, wie auch die Streit- frage, ob die psychosozial erkennbare Dimensionen des individuellen Verhal- tens Resultat der Anlage oder der Erzie- hung sind. Wir sind zur Überzeugung gelangt, dass solche Fehl-Interpretati- onen der Funktionen des Neocortex das Haupthindernis für die absolut notwen- dige Zusammenarbeit zwischen den Neuro- und Human-Wissenchaften sind und damit auch der Grund des gegen- seitigen Misstrauens.

Brücken zwischen Neuro- und Humanwissenschaften

2. Zwischen den meisten Disziplinen, die sich mit komplexen Lebensphäno- menen befassen - von Philosophie, So- ziologie und Psychoanalyse bis zu Mo- lekularbiologie und Genetik - zeichnet sich ein Konsens über Folgendes ab:

Von Menschenbildern und Hirnmodellen

Die Psychiaterin Martha Koukkou an der Soziale Medizin Tagung

«Psychiatrie, Hirnforschung und das Menschenbild»*

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Menschen dar, warum es immer wieder zu psychischen Störungen und psycho- sozialen Problemen kommt, das heisst, zu den vielen Problemen des Menschen mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit seiner Umwelt. Ebenso führt es zu einer Antwort auf die Frage, wie man diese Probleme bewältigen kann.

Ein Überblick über die riesige Literatur der Neuro- und Human-Wissenschaften von der Einführung der Psychopharma- ka bis heute zeigt aber, dass eine Arbeits- hypothese fehlt, welche die Theorien und Daten der verschiedenen Arbeitsgebiete sinnvoll verbinden könnte. Es gibt nicht einmal innerhalb einer dieser Disziplinen a) Die biopsychosoziale Entwicklung

ist ein komplexer und multifaktoriell determinierter Vorgang, untersuchbar von den Molekülen und Genen im Or- ganismus bis zur sozialen und kulturellen Realität mit der das wachsende Indivi- duum interagieren muss.

b) Es gibt enge Verbindungen zwi- schen psychosozial gesunder Entwick- lung und Qualität sozialer Beziehungen.

Das heisst, die Qualität der Interaktion des sich entwickelnden Individuums mit den alterswichtigen Bezugspersonen spielt eine entscheidende Rolle für die Qualität seines momentanen und spä- teren Verhaltens und Erlebens.

c) Weiterhin scheint Übereinstim- mung darüber zu bestehen, dass ein Fort- schritt im Verstehen, wie die verschie- denen Faktoren miteinander interagieren und so die psychosoziale Entwicklung des Individuums motivieren, steuern und beeinflussen, die Anwendung eines weit akzeptierten Disziplin-übergreifenden wissenschaftstheoretischen Rahmens (einer Arbeitshypothese, eines Modells) dieser komplexen und multidetermi- nierten Prozesse voraussetzt. Solch ein Arbeitsmodell könnte als Ausgangs- punkt für einen interdisziplinären Dia- log zwischen den Neuro- und Human- Wissenschaften dienen. Ein derartiger Dialog kann zur Klärung beitragen, ob und wie die Entdeckungen der verschie- denen Disziplinen zu einem tieferen Ver- stehen des menschlichen Verhaltens und Erlebens führen. Dieses Verstehen ist nicht Forschung für die Forschung. Es stellt den einzigen Weg zu einer Antwort auf die selbst gestellte, uralte Frage des

} Die tiefer liegenden Gründe, welche

die interdisziplinäre Zusammenarbeit erschweren, sind in der Entwicklungsgeschichte der

einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen

zu suchen … M. Koukkou

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(z. B. innerhalb der Psychiatrie oder Hirnforschung) eine verbindende und allgemein akzeptierte Arbeitshypothese.

Die Hypothesen werden bis heute mit dichotomen Standpunkten über die menschliche Natur kontrovers debat- tiert. Allerdings fehlt es nicht an Bemü- hungen, Brücken zwischen Theorien und empirischen Daten der Neuro- und Hu- man-Wissenschaften zu schlagen. Unser Modell schlägt solch eine Brücke vor.

Grundannahmen der Theorie lebender Systeme

Wissenschaftstheoretischer Rahmen des Modells sind die Grundannahmen der Theorie der lebenden Systeme wie sie in Psychiatrie und Psychophysiologie ange- wendet werden, um die biopsychosoziale Entwicklung des Individuums zu erfor- schen. Diese Grundannahmen sind:

1. Menschen sind Ganzheiten, wie alle komplexen lebenden Systeme. Sie bestehen aus einem Set von während des Lebens kontinuierlich und dynamisch in- teragierenden und sich dadurch gegen- seitig beeinflussenden Organen (die «in- terne Umgebung» des lebenden Systems).

Sie stehen in einer kontinuierlichen und dynamischen Interaktion sowohl mit der physikalischen als auch gleichzeitig mit der sozialen Umgebung in die sie hinein- geboren werden (d.h. mit ihren externen Realitäten, mit ihren natürlichen Inter- aktionspartnern).

2. In jedem Moment des Lebens setzt das Verhalten die parallelen dynamischen Interaktionen mit der externen und in- ternen Realität voraus und stellt ihre Er- gebnisse dar. Die Daten der Neuro- und Humanwissenschaften, die im Modell integriert sind, zeigen: Menschliches Ver- halten und Erleben ist ein multifaktoriell generiertes und multidimensional mani- festes dynamisches Phänomen; es besteht aus immer koexistierenden Dimensionen, die subjektiv wahrnehmbar, verhaltens- bezogen, und in der Funktionsweise aller Organe messbar sind. Diese immer koe- xistierenden Dimensionen menschlicher Existenz sind die „Produkte“ der Funk- tionen des Nervensystems und insbeson- dere des Gehirns, welche

a) das postnatale Leben als dyna- mische Interaktion zwischen Individuum und externer Realität initiieren und mo- tivieren, und

b) die Lern- und Gedächtnisfunkti- onen (die erfahrungsabhängige Neuro- plastizität) des Neocortex aktivieren, welche die Inhalte der Biografie des In- dividuums kreieren. Die Inhalte der Bio- grafie formen die Charakteristika der normalen oder abnormen, psychosozial erkennbaren Dimensionen des Verhaltens des Individuums. Diese Funktionen wer- den als Wissen-kreierende und Wissen- gesteuerte Information-verarbeitende Hirnprozesse untersucht.

Wie der Mensch geboren wird

Die Daten zeigen weiter Folgendes:

a) Der Mensch wird aktiv und diffe- renzierungsfähig geboren, mit strukturell und funktionell gereiften Eigenschaften des zentralen, peripheren und autonomen Nervensystems. Diese Eigenschaften wer- den als Informations-verabeitende Pro- zesse der Informations-Aufnahme, -Be- wertung und -Beantwortung untersucht.

Die Prozesse stellen einen ununterbro- chenen Kreislauf dar, in dem jeder Schritt den vorherigen voraussetzt und den fol- genden auslöst. Die Prozesse ermöglichen die Initiierung und Erhaltung des post- natalen Lebens als interaktionales Ge- schehen unter dem wichtigen Antrieb des angeborenen Explorationsverhaltens. Ex- plorationsverhalten ist die Grundeigen- schaft eines gesunden, lebensfähigen Säuglings.

b) Das Hirn des gesund geborenen Kindes hat inhärentes Wissen über die Charakteristika der externen und inter- nen Umgebung, welche die Vorausset- zung zur Erhaltung der psychobiolo- gischen Gesundheit sind, und über die Charakteristika, welche zu Störungen des Wohlbefindens führen. Fuster (1995) nennt dieses Wissen “phylogenetisches Gedächtnis”. Dieses angeborene, men- schenspezifische Wissen prädisponiert die sensorischen Systeme (Augen, Oh- ren, Haut, innere Organe etc.) des Neu- geborenen, die Mitteilungen, die von den natürlichen Interaktionspartnern kommen mit Priorität aufzunehmen, ihre Effekte auf die Voraussetzungen für psy- chobiologische Gesundheit (das Wohl- befinden) zu erkennen, und die Lern- und Gedächtnis-Funktionen zu initiieren.

Diese Funktionen kreieren progredient das eigene Wissen, die Biografie des In- dividuums. Mit anderen Worten, die

Rolle der intrinsischen Motivation für Interaktion ist der Erwerb des eigenen Wissens. Dieses Wissen besteht aus den Entdeckungen der Wirkungen der Inter- aktion mit den externen Realitäten auf das psychobiologische Wohlbefinden, und aus der Kreierung von Coping- und Realitäts-Bewältigungs-Strategien. Die- se Strategien zielen primär auf die Auf- rechterhaltung oder Wiederherstellung der psychobiologischen Gesundheit (des Wohlbefindens) in Interaktion mit den sozialen Realitäten und sekundär auf die Vermeidung, Reduzierung, Entfer- nung, Veränderung, Verdrängung der Hindernisse zu diesem Ziel.

Das biografische Gedächtnis

Damit kann gesagt werden, dass es in der menschlichen Natur nicht so etwas gibt wie Hirngebiete oder Neurotrans- mittoren, welche aggressive (egozen- trische, archaische) Instinkte oder Triebe hervorrufen, die sozialisiert wer- den müssen und als natürliche Ursachen für psychische Störungen gelten können (siehe Karli 1991). In diesem Sinn ent- spricht die intrinsische, d. h. angebore- ne Motivation des Menschen auf der Verhaltensebene dem, was als Neugier, als genuine Neigung zum Explorieren, als Spielverhalten untersucht wurde.

Dieses Explorieren geschieht mit jenen Funktionen des Gehirns, welche die Er- fahrungs-abhängige Neuroplastizität, also die Lern- und Gedächtnisfunkti- onen aktivieren, die progredient per- sönliche Bedeutungen extrahieren, d. h.

die Inhalte des autobiografischen Ge- dächtnisses kreieren.

Die Neuroanatomen sagen uns, dass jedes der 10 bis 12 Milliarden Neuronen des Neocortex, mit denen der Mensch geboren wird, durch die Erfahrungs- abhängige Neuroplastizität während der Entwicklung mit mehr als zehntausend anderen Neuronen vernetzt wird. Das autobiografische Gedächtnis wird also durch funktionelle und strukturelle Ver- änderungen im Hirn gebildet, genauer:

im Neocortex als Ergebnis seiner Erfah- rungs-getriebenen neuronalen Plastzi- tät.

Diese Erfahrung-reflektierenden neu- ronalen Netzwerke stellen die corticalen Repräsentationen des erworbenen Wis- sens dar. Ihre Wirkungen sind auf der

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tagung • doku

subjektiven Ebene erkennbar als Wahr- nehmungen, Emotionen, Bedeutungen, Pläne, Entscheidungen, Gedanken usw.

und auf der Verhaltensebene als verbal und/oder non-verbal manifestierte Handlungen.

Fuster (1995) schreibt „Individuelles Wissen ist im Neocortex gespeichert und repräsentiert. Dies impliziert nicht, dass die Gedächtnisfunktion auf diesen Teil des Gehirns beschränkt ist - weit davon entfernt. Wir wissen jetzt, dass die Speicherung von Wissen wesentlich die Intervention bestimmter limbischer und subcorticaler Strukturen erfordert.

Überdies wird normales Verhalten wahrscheinlich in einem grossen Aus- mass von neuronalen Veränderungen bestimmt, die in nicht-corticalen Struk- turen als Ergebnis individueller Erfah- rungen auftreten. Jedoch, was wir üb- licherweise unter Gedächtnis verstehen - also jenes Aggregat persönlicher Er- fahrungen von Ereignissen, Objekten, Namen, Handlungen und Kenntnissen aller Art, ob dem Bewusstsein zugäng- lich oder nicht - wird im Neocortex repräsentiert, speziell in jenem Bereich, den wir üblicherweise als Assoziations- cortex bezeichnen“.

Damit wird der Neocortex als der Ort menschlicher Erfahrungen verstan- den, an dem das individuelle Wissen kreiert wird und der von der Informa- tionsverarbeitung des Gehirns benutzt wird, um die Interaktionen des Indivi- duums mit seinen Realitäten zu orga- nisieren sowie das Verhalten, das aus den Interaktionen entsteht.

Zusammenfassend: Die Hirnfunkti- onen, welche die kontinuierliche Inter- aktion der Menschen mit ihrer phy- sischen und sozialen Umwelt koordi- nieren, kreieren das autobiografische Gedächtnis in Form neuronaler Netz- werke. Die Inhalte des autobiogra- fischen Gedächtnisses formen mit be- wussten und nicht bewussten Informa- tions-verarbeitenden Prozessen alle As- pekte des individuellen Verhaltens (Ge- danken, Emotionen, Entscheidungen, Handlungen usw.) und den Stil der In- teraktionenen des Individuums mit sich selbst und seiner Umwelt.

Menschen sind lebende Systeme, die wissens-(Biografie-) abhängig und wis- sens-gesteuert sind und auf psychobio- logische Gesundheit, Wachstum, Diffe-

renzierung und Autonomie orientiert sind. In diesem Sinne wird das mensch- liche Gehirn als selbst-organisierendes System verstanden, das alle Dimensionen des individuellen Verhaltens und Erle- bens auf der Basis seiner eigenen Bio- grafie kreiert. Baumgartner (1992) sagt das wie folgt: „Im menschlichen Gehirn hat die Natur ein Organ entwickelt, in dem sie das Hauptthema der Evolution, das Lernen, zur eigentlichen Funktion gemacht hat.“

Fazit: Die im Modell integrierten Daten aus den Schul-übergreifend arbeitenden gegenwärtigen Neuro- und Humanwis- senschaften machen deutlich, dass die Charakteristika der psychosozialen Entwicklung des Individuums durch diejenigen Funktionen des Gehirns ent- stehen, welche das autobiografische Ge- dächtnis, also die Biografie kreieren.

Dies sind die Lern- und Gedächtnis- funktionen, die als Erfahrungs-abhän- gige Neuroplastizität untersuchbar sind. Sie extrahieren aus Erfahrungen persönliche Bedeutung und kreieren die Biografie und damit die Charakteristika des individuellen Verhaltens und Erle- bens. Dies sind auch die Hirnfunkti- onen, welche während der Sozialisation des Individuums seine bewusste oder nicht-bewusste Identifikation mit einer religiösen und kulturellen und/ oder - was für unsere Überlegungen wichtig ist - wissenschaftlichen Überzeugung über die menschliche Natur und über die Ent-

stehung der psychischen Probleme ver- ursachen. In diesem Sinne lautet meine Antwort auf die im Tagungs-Flyer for- mulierte Frage: Die Erkenntnisse der Neuro- und Human-Wissenschaften haben mittels der Biografie-kreierenden Funktionen des Gehirns das Menschen- bild nicht nur der Neurowissenschafter sondern auch der Psychiater verändert.

Die Erkenntnisse haben auch die Stel- lung der Psychiatrie als Wissenschaft geändert, dem Kliniker neue Therapie-

möglichkeiten gegeben und die psychi- atrischen Institutionen von Anstalten zu Kliniken gewandelt. Allerdings haben diese Veränderungen nicht nur positive, sondern auch etliche negative Wir- kungen sowohl für die Arbeit des Klini- kers wie auch der Hirnforschung; sie erschweren die nötige interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Hirnforschung. Die negativen Wir- kungen äussern sich in Befürchtungen und Ängsten, die auch im Flyer ange- sprochen sind.

Kombination von Bekanntem und Neuem aus verschiedenen Disziplinen

Die Frage ist, warum: Es ist eine Tatsa- che, dass die Hirnforschung heute alle möglichen Signale des funktionierenden Gehirns untersuchen kann. Weiterhin:

Im heutigen wissenschaftlichen Denken

} Die Entwicklung des gemeinsamen

wissenschaftlichen Vokabulars setzt Vertrautheit mit den während der Entwicklungs- und

Abgrenzungsprozesse formulierten

Grundannahmen und Menschenbildern

der eigenen und der Nachbardisziplinen

voraus. M. Koukkou

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und Handeln wächst die Überzeugung, dass Interdisziplinarität in Klinik und Forschung nötig ist. Es wurde erkannt, dass (a) aus allen wissenschaftlichen Disziplinen ständig neue Erkenntnisse kommen, welche sowohl die physika- lischen und biologischen als auch die sozialen und individuellen Wirklich- keiten betreffen, und dass (b) aus diesen Erkenntnissen disziplinübergreifende Fragestellungen entstehen, die nur in ei- ner Kooperation der Wissenschaften zu erforschen sind. Es wurde also zahl- reichen Wissenschaftern bewusst, dass durch die Kombination von „Be- kanntem“ aus verschiedenen wissen- schaftlichen Disziplinen das gesuchte

„Neue“ entstehen könnte: das Neue, das uns eventuell bei den zahlreichen Dilemmata in der Theorie und Praxis des Lebendigen weiter führen könnte.

Auf der anderen Seite aber benötigt die Kombination des Bekannten mit dem Neuen die Anwendung einer weit ak- zeptierten Arbeitshypothese über die Faktoren, welche das psychisch norma- le oder abnorme Verhalten und Erleben des Individuums beeinflussen. Wie wir gesehen haben, gibt es eine solche Ar- beitshypothese bis heute nicht. Deshalb wird trotz der hohen Aktualität des in- terdisziplinären Denkens und Handelns in Klinik und Forschung vielfach kon- statiert, dass interdisziplinäre For- schungsprogramme wenn nicht ganz scheitern, so doch nur in Teilen erfolg- reich sind. Zahlreiche Bemühungen um interdisziplinäre Zusammenarbeit en- den mit Feststellungen wie „es ist sehr schwierig“ oder „es ist nicht möglich“

oder mit gegenseitigen Anschuldi- gungen, die eine Disziplin würde auf die andere nicht hören, ihre Argumente ab- lehnen oder sie gar grundsätzlich als Disziplin in Frage stellen.

Warum scheitern interdisziplinäre Forschungsprojekte oft?

Das häufige Scheitern von interdiszipli- nären Forschungsprojekten hat dazu geführt, dass immer öfter Publikationen erscheinen, die sich mit den Gründen dieses Phänomens beschäftigen, die Vo- raussetzungen für interdisziplinäre For- schung untersuchen, sie zu definieren versuchen und Vorschläge machen, wie die Voraussetzungen für interdiszipli-

näres Denken und Handeln in Lehre und Forschung der Universitäten sowie in der klinischen Arbeit vermittelt wer- den könnten. Als Hauptgrund für das Scheitern interdisziplinärer Forschungs- projekte werden Missverständnisse ge- nannt, welche von den beteiligten Spe- zialisten als Kommunikationsschwie- rigkeiten beschrieben werden: Kommu- nikationsschwierigkeiten, die den not- wendigen Dialog zwischen Spezialisten erschweren und damit sowohl die Er- kennung der gemeinsamen Fragestel- lungen und Probleme wie auch die kre- ative Kombination der Beiträge der ver- schiedenen Disziplinen verunmög- lichen. Als Gründe für diese Kommuni- kationsschwierigkeiten gelten die unter- schiedlichen Fachsprachen, Theorien und Methoden und die impliziten oder expliziten Menschenbilder, welche in der Entwicklungsgeschichte der ver- schiedenen Disziplinen entstanden sind.

Das heisst, die tiefer liegenden Gründe, welche die interdisziplinäre Zusam- menarbeit erschweren, sind in der Ent- wicklungsgeschichte der einzelnen wis- senschaftlichen Disziplinen zu suchen, im Laufe derer sie ihre Identität und ihr Selbstverständnis durch Abgrenzung von Nachbardisziplinen erreicht haben.

Die Entwicklungs- und Abgrenzungs- prozesse der verschiedenen wissen- schaftlichen Disziplinen führten zu ver- schiedenen Strukturierungen der Reali- täten und damit zu disziplinspezifischen Weltsichten bzw. Menschenbildern, die in der jeweiligen disziplinspezifischen Sprache formuliert wurden.

Diese disziplinspezifischen Wissen- schaftsverständnisse und Weltsichten bzw. Menschenbilder werden während der wissenschaftlichen Sozialisation der Neulinge durch die Bedeutung-extrahie- renden Funktionen des Hirns internali- siert und formen damit das wissenschaft- liche Denken und Handeln der Spezia- listen. Es fehlt deshalb ein in der Aus- bildung erworbenes disziplinunspezi- fisches Wissenschaftsvokabular, ein ge- meinsames wissenschaftliches Sprach- verständnis, um im Dialog die gemein- samen Fragestellungen, Probleme und Arbeitshypothesen zu erkennen und um die Planung der Forschungsprojekte und die Bedeutung der Ergebnisse zu disku- tieren oder zu interpretieren. Damit gilt es, als Voraussetzung für die interdiszi- plinäre Zusammenarbeit und somit auch

als Herausforderung für die Neuro- und Human-Wissenschaften ein gemein- sames, disziplinunspezifisches wissen- schaftliches Vokabular zu entwickeln.

Solch eine Entwicklung setzt intellektu- elle Sicherheit sowohl in der eigenen Disziplin als auch gegenüber anderen Disziplinen voraus. Mit anderen Wor- ten, die Entwicklung des gemeinsamen wissenschaftlichen Vokabulars setzt Ver- trautheit mit den während der Entwick- lungs- und Abgrenzungsprozesse formu- lierten Grundannahmen und Menschen- bildern der eigenen und der Nachbar- disziplinen voraus. Eine solche Vertraut- heit würde die Identifikation vergleich- barer Fragestellungen, Begrifflichkeiten und Forschungsergebnisse erlauben, wel- che im Kontext unterschiedlicher Grun- dannahmen, Fachsprachen und For- schungsmethoden entstanden sind, um sie danach in einer disziplinunspezi- fischen Sprache zu explizieren. Dies ist die Herausforderung für alle Wissen- schaften und besonders für die Bemü- hungen der Human- und Neurowissen- schaften, das Individuum in seiner Ganz- heit zu einer gesunden Entwicklung zu begleiten bzw. ihm bei Dysfunktionen zu helfen.

*Es handelt sich um eine überarbeitete Fas- sung ihres Referats an der Tagung von SGSG und Sozialer Medizin vom 27. Oktober letzten Jahres.

**Prof. Dr. med. Martha Koukkou. Psychiaterin und Neurophysiologin, The KEY Institute for Brain-Mind Research, Psychiatrische Univer- sitätsklinik, Zürich.

Literatur:

Baumgartner, G. (1992). Gehirn und Bewusstsein. Schweizerische Medizinische Wochenschrift 3: 1-14.

Fuster, J.M. (1995). Memory in the Cerebral Cortex. Cambridge, MA: MIT Press.

Karli, P. (1991). Animal and Human Aggression. Oxford: Oxford University Press.

Koukkou, M. & Lehmann, D. (2006) Entstehung und Behandlung psychischer Störungen aus der Sicht integrativer Hirn-Funk- tions-Modelle. Pp. 373-389 in: H. Böker (Ed.) Psychoanalyse und Psychiatrie. Heidelberg: Springer.

Koukkou, M. & Lehmann, D. (1998) Ein systemtheoretisch orientiertes Modell der Funktionen des menschlichen Gehirns, und die Ontogenese des Verhaltens: eine Synthese von Theorien und Daten. Pp. 287-415 in M. Koukkou, M.

Leuzinger-Bohleber & W. Mertens (Eds.): Erinnerung von Wirklichkeiten: Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog, Vol. 1: Bestandsaufnahme [ISBN 3-608-91954-6].

Stuttgart: Cotta / Verlag Internat. Psychoanalyse.

Lehmann, D. & Koukkou, M. (2006) The brain’s experience- dependent plasticity and state-dependent recall and the creation of subjectivity of mental functions. Pp. 219-232 in:

M. Mancia (Ed.): Psychoanalysis and Neuroscience [ISBN:

88-470-0334-2]. Milano: Springer.

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