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Vom Zauber des Privaten

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Academic year: 2022

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Was wir verlieren, wenn wir alles offenbaren

Bearbeitet von Martin Simons

1. Auflage 2009. Buch. 180 S. Hardcover ISBN 978 3 593 38853 3

Format (B x L): 14 x 21,5 cm

Weitere Fachgebiete > Medien, Kommunikation, Politik > Medienwissenschaften >

Medien & Gesellschaft, Medienwirkungsforschung Zu Inhaltsverzeichnis

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sogenannter Prominenter und pseudo­therapeutische Fern­

sehshows fördern schamloses Verhalten. Nach und nach formt sich so eine neue kulturelle Realität mit neuen sozialen Kon­

ventionen. Selbstentblößungen jeder Art sind inzwischen ge­

sellschaftlich weithin akzeptiert. Ich finde das erstaunlich; und dieses Erstaunen hat sicherlich diesen Versuch über die Scham­

losigkeit mit motiviert.

Der Charme der Schamlosen

Ich kannte O. erst wenige Wochen, als unsere erste gemeinsame Einladung anstand. Ein Abendessen mit fünfzehn Gästen bei Freunden von O., nennen wir sie Max und Violetta. Ahnenfor­

scher sind es gewohnt, die Generationenspanne nach dem durchschnittlichen Altersabstand der Kinder zu ihren Eltern zu bemessen, woraus sich ergibt, dass in etwa alle 25 Jahre eine neue Generation antritt. O. und mich trennen keine zehn Jahre.

Und wenn auch Violetta erst Anfang Zwanzig und damit noch etwas jünger ist als O., befand ich mich während des Abends durchaus in Gesellschaft meiner Altersklasse. Nur erlebte ich zu meiner Verwunderung im Umgang der Gäste untereinander ei­

ne Offenheit, Herzlichkeit, ja Zärtlichkeit, die mir völlig neu und fremd war, aber ungemein erfrischend und beneidenswert er­

schien. Jede berührte jeden und umgekehrt; ein leichter, unver­

bindlicher Austausch von intimen Gesten, von innigen Umar­

mungen, zarten Küssen auf Wangen und Münder. Freundinnen bekannten ihren Freunden – und es waren keine Drogen im Spiel –, sie zu lieben und meinten damit schlicht, sich von Her­

zen gern zu haben, zumindest im Augenblick. Es herrschte eine

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Atmosphäre schwellenloser Nähe, wie ich sie so nicht einmal im südlichen Ausland erlebt hatte, wo der Umgang im Allgemeinen besonders offen und herzlich ist. Vor allem das Verhältnis zwi­

schen Frauen und Männern schien mir an diesem Abend auf eine frappierende Weise frei und unbeschwert. Ganz anders als die Geschlechterbeziehungen am Anfang meiner Studenten­

zeit, an die ich mich erinnerte, in denen – jedenfalls im Vergleich zu dieser graziösen Unbekümmertheit – Ziererei, Unbeholfen­

heit und Krampf vorherrschten. Ein Mädchen, das nicht die ei­

gene Freundin war, küsste man nicht ohne weiteres auf den Mund. Über seine sexuellen Freuden und Frustrationen sprach man nicht in großer Runde am Esstisch. Und Ich liebe dich sagte man nur nach reiflicher Überlegung oder aus Überschwang während des Geschlechtsverkehrs. Angenehm betrunken lager­

te ich gegen Mitternacht mit drei Frauen um die Zwanzig auf einem Doppelbett und hörte vergnügt ihren Gesprächen zu. Ich verstand, dass sie die Nacht für jung ansahen und es an der Zeit wäre, sich im Internet über weitere Vergnügungsmöglichkeiten aufzuklären. Dazu besuchten sie abwechselnd ihre Profile auf facebook und MySpace. Die eigentliche Recherche geriet dabei sehr schnell in den Hintergrund. Bei S. hatte sich ein Bekannter eines facebook­Freundes mit der Bitte um Aufnahme in ihren Freundeskreis gemeldet. Diesem Ansinnen kam S. gerne nach, war der Fremde ihr doch schon letzten Samstag in einem Club angenehm aufgefallen. Freilich schloss sich nun die Frage an, inwieweit ihm auch Zugang zu intimeren Fotos gewährt werden könne. Die Mädchen baten mich um Rat und zeigten mir durch­

aus gekonnt gemachte Bilder, auf denen S. in Unterwäsche, zum Teil ohne BH, beim Frühstück, im Bett, bei der Pediküre auf ei­

nem Sofa zu sehen war. Ich fand, dass es hier nichts zu verbergen

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gab, und S. gab die Bilder auf ihrem Profil zur Ansicht frei. Der neue Freund lud nun seinerseits zur Besichtigung seines Foto­

albums ein und die Mädchen amüsierten sich prächtig. Sie kom­

mentierten, was sie sahen, korrespondierten nebenher mit ande­

ren Freunden – nach und nach wurde ich in ihre privaten Verhält­

nisse eingeweiht. Der gerade aktuelle Stand ihrer jeweiligen Lie­

besbeziehung wurde ebenso über die Profile kommuniziert wie mögliche sich anbahnende Affären. Dazu gab es auch von den anderen freizügige Fotos zu sehen, die ich mir natürlich ebenfalls gerne ansah, die mich aber später auf dem Heimweg mit O. in ihrer schamlos berechnenden Ausgestelltheit deprimierten.

Überhaupt erfasste mich beim allmählichen Ausnüchtern eine schwer fassbare Traurigkeit darüber, dass O.s Freunde, die ich sehr mochte, ihre Intimsphäre veröffentlichten. Ich dachte, wer seine Intimität verliert, der hat alles verloren, und wer freiwillig darauf verzichtet, der ahnt nicht einmal, was ein Mensch ist. O., die über Internetforen rein gar nichts weiß, fand diese Ansicht übertrieben. Ich stimmte zu. Doch mein Unbehagen blieb.

Merkwürdige Nähe

Es wuchs sogar noch an, als sich der Kontakt zu Violetta und Max in der folgenden Zeit intensivierte. Schon nach wenigen ge­

meinsam verbrachten Abenden bekam ich Anrufe von Violetta, bei denen sie mir meistens nichts anderes mitteilen wollte als ihre Freude über O. und mich als Paar, und die sie verlässlich mit einem Ich habe dich lieb beendete. Ich habe, wie jedermann, nichts dagegen, gemocht zu werden. Doch Violettas herzliche Sympathiebekundungen verursachten bei mir Schauer der Ver­

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wunderung und anschließend eine Gänsehaut. Sie kamen zu früh, klangen routiniert, tönten falsch und laut. Ihr Abschieds­

gruß war zu dick aufgetragen, zu inhaltsschwer. Ich habe dich lieb bedeutet mehr als Ich mag dich und ist eine Vorstufe zu Ich liebe dich – einem der gewichtigsten Sätze überhaupt. Es ist et­

was, das man nicht einfach so dahin sagen sollte – und wenn auch nur aus dem Grund, dass sich Worte (und die sie begleiten­

den Empfindungen) abnutzen, wenn man sie allzu gewohn­

heitsmäßig gebraucht.

Doch Violetta war so unbedarft, sie schien von Gefühlen überflutet, dass ich ihr ihren Überschwang nicht weiter übel nahm. Außerdem gewöhnt man sich überraschend leicht da­

ran, von einer jungen attraktiven Frau zumindest verbal ins Herz geschlossen zu werden. Merkwürdiger war für mich das Verhalten ihres Freundes Max, der in mir den von ihm seit je vermissten älteren Bruder zu sehen schien. Anders konnte ich mir seine Anhänglichkeit jedenfalls anfangs nicht erklären.

Doch bald fand ich heraus, dass er tatsächlich kaum jünger war als ich, er sich als ein mehr oder weniger professioneller DJ bloß deutlich jugendlicher gab und kleidete. Ich begriff, dass sein Verhalten mir gegenüber nichts Außerordentliches für ihn war, sondern er mich einfach behandelte wie jeden, den er zu seinem Freundeskreis zählte: wahnwitzig herzlich und zu­

vorkommend. Bat ich ihn per E­Mail, mich plus ein paar Be­

kannte – aber nur, falls es nicht zu viel verlangt sei – auf die Gästeliste einer Party zu setzen, bei der er auflegen sollte, schrieb er zurück: Mein Lieber, du weißt doch: für Dich alles, immer. Wenn ich ihn traf, begrüßte er mich mit Umarmungen, Küssen und einem Strahlen im Gesicht, als könnte er sich auf der ganzen Welt niemanden denken, den er gerade lieber träfe.

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Er schickte O. und mir Karten aus Städten, in denen er von Clubs gebucht wurde, und brachte uns von diesen Reisen klei­

ne Geschenke mit, ein Notizbuch etwa für mich, für O. ein Hals­

tuch oder einen Lippenstift. Violetta und er luden regelmäßig zu Abendessen, Partys, zum Picknicken im Park. Sie waren at­

traktiv, lebendig, sympathisch. Ihr Freundeskreis war groß und auf eine für eine Großstadt typische Weise interessant (aber nicht aufregend, dazu war er zu konventionell). Er bestand überwiegend aus Bar­, Club­ und Agenturbetreibern, Musi­

kern, Malern, Modeleuten, Journalisten und Fotografen. Plötz­

lich stand ich auf so ziemlich jeder zweiten Gästeliste der Stadt.

Ich konnte, falls ich das wollte, in Restaurants essen, in Bars trinken, ohne zu bezahlen. Das war natürlich angenehm. Lei­

der wurde mir dafür die Bekanntschaft zu Max und Violetta allmählich unangenehm. Denn tatsächlich fühlte ich mich weder Violetta noch Max auch nur einen Augenblick nah. Un­

ser äußerer Umgang war vom ersten Augenblick an derart eng und herzlich, dass die Möglichkeit, sich eigentlich eher fremd und gleichgültig zu sein, nie eine wirkliche Option gewesen war. Es stand mit der ersten Begegnung gleich selbstverständ­

lich fest, dass wir uns herzlich mochten. Es gab zwischen uns nie die Distanz, die es doch braucht, um zu beurteilen, ob man jemand näher kommen und ihn schließlich zum Freund ha­

ben will. Schon bald war mir klar, dass ich vor allem an Max vieles ablehnte (und ich vermutete, es müsste umgekehrt ganz ähnlich sein). Aber es ist schwer, kritisch zu sein, wenn man immerzu als bester Freund behandelt wird. So blieb mir nichts übrig, als die beiden möglichst höflich zu meiden. Unsere merkwürdige Nähe beschämte mich.

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Fremd in der eigenen Haut

Dabei war es nicht unbedingt das Verlangen, authentisch zu sein, dass mich auf Abstand rücken ließ. Nicht der Drang nach Eigentlichkeit, den ein braver Adornoianer darin wittern könn­

te, dass mir die offenbar nicht ganz echte Innigkeit mit Violetta und Max peinlich wurde. Denn ich war von gewissen urbanen Milieus solche Art inflationärer, unernster Herzlichkeit inzwi­

schen schon gewöhnt. Ich hatte gelernt, dass man auch mit oberflächlichen Menschen auf eine oberflächliche Weise herzli­

che Beziehungen unterhalten kann. Dass solche Begegnungen zum Beispiel bei einem Abendessen ein Vergnügen und – wenn man sich nur in seinen Kreisen immer wieder trifft – noch mehr bedeuten können, eine Art von Freundschaft. Ich hatte mit Vio­

letta und Max nicht wegen ihrer Oberflächlichkeit ein Problem, sondern weil sie mich in eine emotionale Nähe sperrten, die mir mehr abverlangte, als ich zu geben bereit und in der Lage war.

Violetta und Max übertrieben. Ihre Herzlichkeit war ohne Au­

genzwinkern. Ich hatte nie das Gefühl, ihnen sei bewusst, dass unsere scheinbare Intimität nur eine Kulisse war, vor der wir zu unserem Vergnügen gesellschaftliches Theater spielten. Sie meinten es, trotz der grundsätzlichen Unbekümmertheit mit der sie allem und jedem begegneten, auf eine verquere Weise ernst. Ich begann, ihre Verzweiflung zu ahnen. Sie waren ständig vor sich selber auf der Flucht, getrieben von der Fremde, die in ihnen nistete. Sie kannten nicht das Gefühl, in der eigenen Haut beheimatet zu sein und suchten diesen Mangel zu kompensie­

ren, indem sie möglichst die ganze Welt als Freund gewannen.

Sie glichen Ertrinkenden, die sich an Menschen wie an Schiffs­

planken klammerten. Die vermeintliche Leichtigkeit, mit der sie

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das Leben nahmen, legte sich mir als eine Bleiweste über die Schultern.

Allein, nicht einsam

Es ist aber auch möglich, dass Max und Violetta sozusagen in meinem toten Winkel liegen und ich sie voller Unverständnis falsch beurteile. Denn tatsächlich sind sie und ich in vielerlei Hinsicht so verschieden, wie es ein Fisch und ein Vogel sind.

Während die beiden seit frühster Jugend in Cliquen eingebun­

den und ihre Identitäten zu einem nicht unwesentlichen Teil von der Identität der jeweiligen Gruppe bestimmt sind, war ich bis ans Ende meiner zwanziger Jahre nicht unbedingt ein Ein­

zelgänger – ich hatte meistens eine Freundin und einzelne gute Freunde –, aber doch sehr auf die Entdeckung und Eroberung meines eigenen inneren Kontinents besonnen. Es war mir eine Selbstverständlichkeit, die meiste Zeit allein zu sein, auch allein zu verreisen, selbst wenn ich liiert war. Mit Freunden traf ich mich in der Regel nicht in größerer Runde, sondern von Ange­

sicht zu Angesicht. Es ging mir weniger darum, gemeinsam Zeit zu verbringen, als mich mit anderen auszutauschen, über Ideen, Einstellungen, Erfahrungen. Ansonsten genoss ich es, für mich zu sein, tagzuträumen, herumzuspazieren, viel zu lesen. Soweit ich mich an meine zwanziger Jahre erinnere, fühlte ich mich nie mit mir selbst, sondern höchstens unter Menschen einsam, die mich befremdeten. Irgendwann verlor aber dieses Abseits­für­

mich­Bleiben seinen Reiz, ich empfand mich nicht mehr als ein unentdecktes Land, sondern als halbwegs vermessen und kar­

tiert. Ich begann, mich immer stärker für andere zu interessie­

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ren und entdeckte spät, aber nicht zu spät, was allgemein eigent­

lich ganz selbstverständlich war: dass gemeinsam erlebte Mo­

mente und die Freude von Freunden aneinander ein Wert an sich und vielleicht das Schönste im Leben überhaupt sind.

Lektionen in Oberflächlichkeit: Julie

Ich schreibe von mir nicht, weil ich denke, dass meine Entwick­

lung ungewöhnlich oder besonders interessant wäre. Sondern um den Standpunkt zu markieren, der die Perspektive dieses Buchs prägt. Viele Jahre habe ich mit einer intensiven Innen­

schau verbracht, um mich dann recht abrupt in ein Umfeld zu begeben, in dem Äußerlichkeiten jeder Form, sozial und mate­

riell, den Umgang und das Denken dominieren. Hatte ich vor­

her nicht einmal einen Anrufbeantworter besessen und mich aus Desinteresse und Ignoranz allen vernetzenden Kommuni­

kationstechniken verweigert, bewegte ich mich plötzlich zu meiner nicht geringen Verwunderung unter Menschen, denen ein Leben ohne Handy, Blackberry, später das iPhone geradezu als Zumutung eines barbarischen Zeitalters erschienen wäre.

Wesentlich für diesen Milieuwechsel war die Bekanntschaft mit einer Person, die hier Julie heißen soll, durch die ich eine mir bis dahin ganz fremde Lebensweise entdeckte.

Als ich Julie zum ersten Mal begegnete, war eine solche Ent­

wicklung jedoch nicht abzusehen. Ich hielt sie für verrückt und zweifelte, ob ich den neuen Bekannten, der mich auf ihr Fest mitgenommen hatte, tatsächlich noch näher kennen lernen mochte. Ich wusste, dass die beiden für viele Jahre ein Paar ge­

wesen und erst seit kurzem in freundschaftlichem Einverneh­

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