Neue Ansätze in der Behandlung der Binge-Eating-Störung
(BES)
Dienstagmittag Fortbildung Psychosomatik Basel
Prof. Dr. Simone Munsch
Klinische Psychologie und Psychotherapie Departement für Psychologie
Universität Fribourg
Essstörungen sind relevant
Swami et al., 2010; Fischer, Munsch et al., 2012; Kurz et al., 2014; Schnyder et al., 2012; Schuck, Munsch &
Schneider, 2018; Widmer et al., 208; Marzilli et al., 2018; Santomauro et al., 2021.
§ Schweiz: >50% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen (youth, 14-24 Jahre) fühlen sich zu „dick“, >30% führen Diäten durch
§ Häufigste Essstörungen: Binge-Eating Störung (BES) und loss of control eating (LOC): 3.6-4.6% in der Allgemeinbevölkerung, 30% bei Erwachsenen mit Übergewicht und Adipositas; häufig
kombiniert mit bulimischem Verhalten
§ Assoziiert mit interpersonalen Problemen , Körperunzufriedenheit, Angst, depressiven Symptomen, Störungen mit Substanzabhängigkeit, Suizidalität, geringe Lebensqualität, Gewichtsanstieg, Chronizität (ca.
8 Jahre)
Relevanz von Essanfallsstörungen:
«obesogenic environment» x Erreichbarkeit des Schönheitsideals
= Dissonanz
Phänomenologie der BES
Erscheinungsbild BES
Essanfälle mit Kontrollverlust
Kein regelmässiges
Kompensationsverhalten
Oft assoziiert mit Übergewicht/ Adipositas
«diet-first» vs «binge-first»
Wyssen & Munsch (2018). Lehrbuch der Verhaltenstherapie.
Hohe Komorbidität mit ADHS, Angst- und Depressiven Störungen (Lebenszeitprävalenz bis zu 50%) Oft chaotisches
Essverhalten ausserhalb der Essanfälle
Subjektive, objektive, protrahierte Essanfälle
Starke Scham- und Schuldgefühle
Hoher Leidensdruck durch ständige Körper- und Gewichtssorgen
Fluktuierender, chronischer Verlauf
Klassifikation und
Diagnose der BES
DSM-5
§ Referenzwerk für
wissenschaftliche Arbeit
§ Ermöglicht
«Forschungsdiagnosen»
§ Berücksichtigt
dimensionale Aspekte
ICD-11
§ Kriterien sind weniger klar operationalisiert -> mehr Interpretationsspielraum (globale Anwendung)
§ Verwendet prototypische
Beschreibungen
Wyssen und Munsch, 2022.
Betroffene essen mehr, als die meisten Menschen in einer vergleichbaren Zeit und unter vergleichbaren Umständen
Betroffene essen mehr oder anders als für sie üblich
Dimensionaler Ansatz im DSM-5 Teilremittiert / vollremittiert
Schweregrad: leicht: 1-3 Essanfälle (EA), mittel: 4-7 EA, schwer: 8- 13 EA, extrem: 14 oder mehr EA
Loss of control eating, LOC
Goldschmidt et al., 2008; Shomaker et al., 2010a, 2010b; Shomaker et al., 2010b.; Bravender et al., 2010, Herpertz- Dahlmann, 2015; Sonneville et al., 2013; Munsch et al., 2017.)
§ Eine Episode mit unkontrolliertem Essen / Monat während der letzten 3 Monate
§ Häufig bei Jugendlichen (doppelt so viele weibliche
Jugendliche betroffen), chronisch fluktuierender Verlauf über 8- 10 Jahre
§ Subjektiver Kontrollverlust über die Nahrungszufuhr (unabhängig von Quantität der Nahrungszufuhr)
§ Vergleichbare psychische Beeinträchtigung wie bei BES oder
Bulimia Nervosa
Diagnose der Binge-Eating-Störung im Kindes- und Jugendalter
§ DSM-5: Diagnose der BES
- Lockerung der Kriterien bezüglich Frequenz / Dauer der Essanfälle
- Subjektive Essanfälle werden analog objektiven gewichtet
§ ICD-11: Andere Näher Bezeichnete Fütter- oder Essstörung (6B8Y)
- Kriterien der Frequenz / Dauer nicht erfüllt
Kurzversion EDE-Q8
(Kliem, S., Mößle, T., Zenger, M., Strauß, B., Brähler, E., & Hilbert, A. (2016). The eating disorder examination-questionnaire 8 : A brief measure of eating disorder psychopathology (EDE-Q8). International Journal of Eating Disorders, 49(6), 613-616.
https://doi.org/10.1002/eat.22487; https://docplayer.org/24385400-Eating-disorder- examination.html)
§
Schnelles Erfassen von Kernmerkmalen von Essstörungen bei Jugendlichen und Erwachsenen
§
Kriterien nach DSM-5 für AN, BN und BES
§
Überwiegend gute Kennwerte zur Validität und Reliabilität
§
Dauer ca. 3 Minuten
§
Häufigkeits- und Intensitätsratings (Skalen von 0 bis 6)
Item Bezeichnung Skala
1 Gezügeltes Essverhalten Restraint
2 Vermeidung von Nahrungsmitteln Restraint
3 Beschäftigung mit Nahrungsmitteln, Essen oder Kalorien Eating Concern
4 Gefühl, dick zu sein Shape Concern
5 Wunschabzunehmen Weight Concern
6 Schuldgefühle aufgrund des Essens Eating Concern
7 Unzufriedenheit mit dem Gewicht Weight Concern
8 Unbehagen beim Betrachten des Körpers Shape Concern
Ätiologie
Negatives Körper- konzept
Negativer Affekt Diätieren und Desinhibition
Essstörung- spathologie Sozio-
kulturelle Faktoren
2-Faktoren Modell gestörten Essverhaltens (Stice, 2001)
Ansatzpunkte der Therapie
Integratives Modell gestörten Essverhaltens
Soziokulturelle Faktoren:
Körperideal
Umgebungsfaktoren:
Missbrauch, „Parenting“
Biologische Faktoren:
Pubertät, Geschlecht, BMI, Epi-/Genetik Stressreaktivität
Moderator
Kognitive Faktoren
Moderator Emotions- und Impulsregulation
Stice et al. (2011), Munsch (2014), Culbert et al. (2015), Stice et al. (2017).
Internalisierung Kognitive Verzerrung
Negativer Affekt Diätieren/
Kontrollverlust
Essstörungs- pathologie
Behandlungsziele: KVT-E + Training in interpersonaler
Emotionsregulation
Körper- unzufriedenheit
Dysfunktionale (interpersonale) Emotionsregulation, erhöhte
Impulsivität
Behandlung regelmässiger Essanfälle
Behandlungswirksamkeit bei BES
§ Psychotherapie (KVT, IPT) = Behandlung der Wahl
§ Face to face KVT-E mit 16 bzw. 8 Sitzungen
-
Dropout: 14-35%
-
Hohe Effekte bez. Reduktion von EA; Cohen’s d=0.8
-
hohe kurz- und langfristige (4-6 J.) Abstinenz (definiert als 30 Tage keine EA):
96, bzw. 90%
§ Email-basierte Behandlung
-
Dropout Rate (9.1%), kurz-, langfristige EA-Abstinenz: 15%, 47%
Munsch et al., 2007; Tanofsky-Kraff et al., 2010; Munsch et al., 2012; Fischer, et al., 2014; DeBar et al., 2013; Safer, Lock, & Couturier, 2007; NICE, 2017, AWMF, 2019.
Behandlungszugang
§ Erschwert bei Gruppen mit Migrationshintergrund und Jugendlichen
§ Verbessert bei geringer Wartezeit bis zur Behandlung, sozialer Unterstützung
- CH: 53.4% der Betroffenen mit Essstörungen ≥ 18 J. hatten während ihres Krankheitsverlaufs Zugang zu Fachpersonen - Keine Daten zu Betroffenen ≤ 18 Jahren
Ø Wie Behandlungszugang verbessern?
Schnyder et al. 2012; Regan et al. 2016.
Behandlungsinhalte
Schweizerische Anorexia Nervosa Stiftung, SANS; 52:15.; Wyssen, A.. et al. & Munsch, S. (2021). DOI: 10.1002/erv.2856.
Therapiephase Interventionen + Email Begleitung nach jeder Sitzung
Diagnostik Pre DIPS, Fragebögen, BMI erheben Vorbereiten
Sitzungen 1-2
Psychoedukation, Störungsmodelle, Motivation, persönliche Ziele
Symptomreduktion Sitzungen 3-5
Hilflosigkeit reduzieren: ABC-Modell der Essanfälle und Notfallkärtchen
Dysfunktionale Gedanken Sitzungen 6-7
Kognitive Verzerrungen identifizieren und kognitive Defusion trainieren
Rückfallprophylaxe / Indikation
Sitzung 8
Ende der Behandlung planen, Indikation für additive Behandlung
(Gewichtsmanagement, Affekt- und Emotionsregulation) klären, neue Ziele
Diagnostik Post DIPS, Fragebögen, BMI erheben Stabilisieren
Sitzungen 9-11
Follow up Sitzungen nach 1, 3 und 6 Monaten; Stabilisierung, Umgang mit Problemen, neue Ziele
Diagnostik Follow up DIPS, Fragebögen, BMI erfragen
ABC-Modell: Störungs- und Behandlungsmodell
Viktor
Tina
Herr S., 42 J.
Cave: verbesserter Zugang
aber keine höhere Kosteneffizienz
Email Rückmeldung zum ABC-Modell in BES Online
Wirksamkeit BES Online: Wöchentliche Essanfälle (EA)
High effect sizes of treatment (0.9-1.8) compared to wait list number needed to treat, NNT: 1.27-2.3
Aktive Behandlung vs Wartelistenkontrolle (b=–0.156, SE=0.055, t159=–2.81, p=.006)
Reduktion der wöchentlichen EA (b=–0.080, SE=0.011, t571=–7.14, p<.001)
Mittlerer bis starker Effekt (d= 0.7) im Vergleich zu KG number needed to treat, NNT: 2.7
Wyssen, A.. et al. & Munsch, S. (2021). DOI: 10.1002/erv.2856
Stichprobe und Wirksamkeit
Wyssen, A.. et al. & Munsch, S. (2021). DOI: 10.1002/erv.2856
BES bei Jugendlichen und jungen Erwachsen
Youth
Downey & Feldman, 1996; Williams & Jarvis, 2006; Cardi et al. 2017; De Paoli et al. 2017.
§ Bisher kein validiertes Behandlungsangebot
Interpersonale Emotionsregulation/
Zurückweisungsempfindlichkeit und und Essanfälle
Vorbestehende Bedingungen:
Körperunzufriedenheit
Unrealistische Schönheitsideale in peer-Gruppe/ Familie
Depressive Symptome, soziale Ängstlichkeit/ Schwierigkeiten mit Handlungssteuerung
Aufmerksamkeitsbias aufZurückweisung
hohes Arousalim zwischenmenschlichen
Kontakt
dysfunktionale Gedanken
Emotions- regulationsdefizit Essanfälle, Essen
ohne Hunger kurzfristige Stressreduktion
Humbel & Munsch et al. (2019); Munsch et al., (2021).
§ Cyberball Paradigma: Soziale Ein- und Ausschlusserfahrung
-
Einschluss → Teilnehmende erhalten gleichviele Bälle wie Avatar
-
Ausschluss → Teilnehmende werden nach wenigen Ballwechseln ausgeschlossen
-Instruktion: “hinter den Avataren verbergen sich echte Jugendliche“
-
Vier Gruppen: LOC Einschluss, LOC Ausschluss; KG Einschluss, KG Ausschluss
Zurückweisungserfahrung in der Virtuellen Realität
Downey & Feldman, 1996; Williams & Jarvis, 2006.
Demonstration, siehe: https://www.youtube.com/watch?v=wGonR8_S_lY
“Traurig” nach Ein- bzw. Ausschluss im Cyberball Paradigma
HCG/inclusion HCG/exclusion LOC/inclusion LOC/exclusion
difference value (post –pre Cyberball) sadness pre-emotion: B= -.37, β=-.54, p< .001
Constant:
B= -.39 p =.068
B=.12 β=.06 p=.693
B= -.30 β= -.15 p=.408
B= 1.25 β=.51 p=.018
Forrer & Munsch, in prep.
Behandlungsziele
1. Scham und Vermeiden reduzieren: Psychoedukation
2. Hilflosigkeit reduzieren: Auslöser von LOC erkennen und bewältigen lernen
3. Training im Umgang mit körperbezogenen und
interpersonalen Stressoren: Umgang mit Emotionen bei realer und subjektiv wahrgenommener Zurückweisung
Ø 12 Sitzungen im blended treatment:
- 3 f2f Workshops; 9 angeleitete Email-Selbsthilfesitzungen + 3 monatliche Follow-up Email-Sitzungen
Research Found University of Fribourg: 419
29 WBQ = Weekly Binges Questionnaire
WT = Waiting time period AT = Active Treatment FU = Follow-up
NNT = number needed to treat
WT: (b=–0.12, SE=0.06, t(232)=–1.98, p=.048, d=0.44)
AT: (b=–0.06, SE=0.01, t(232)=–
4.61, p<.001, d=0.94)
FU: (b=–0.01, SE=0.01, t(232)=–
0.40,p=.69, d=0.11)
Wöchentliche LOC (N=25)
Forrer et al. & Munsch (submitted).
Wirksamkeit im Vergleich zu Wartelistekontrolle : d= 0.9
number needed to treat, NNT: 3.6
Fazit
§ BES-Online Behandlungseffekte (wöch. EA) bei Erwachsenen:
- Vergleichbare Abstinenzraten wie bei IKVT von z.B. de Zwaan et al., 2017 sowie bei Email basierter Selbsthilfe, Wyssen et al., 2018
- Tiefer als in bisherigen f2f KVT-E, Munsch et al., 2012; Fischer et al., 2014
§ BEAT Behandlungseffekte (wöch. LOC) bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen :
- Hinweise auf gute Wirksamkeit und Akzeptanz
§ Relevante drop-out Raten, moderate Effekte auf Emotionsregulation und Körperbild
§ Offene Fragen: Additive Wirksamkeit modularer Behandlung der
Emotionsregulation, reine Internetbehandlung auch bei Jugendlichen,
Transfer in den Alltag?
INTER-E:
- Emotionen erkennen (Aufmerksamkeits-, Interpretationsbias)
- Emotionsregulation (ER)
Ø
funktionale ER: Akzeptanz, Inhibition unerwünschten Verhaltens,
Realitätsprüfung, Neubewertung, Positive Selbstverbalisation
Ø
vs dysfunktionale ER: Unterdrückung, Rumination, Vermeidung,
Selbstbeschuldigung/ Selbstkritik
KVT-E
+ INTER-E: ein additives Emotionsregulationstraining
Bewusstes Wahrnehmen Warten
nichts tun
Erkennen und Benennen
Emotionale Selbstunterstützung
Situation analysieren
Toleranz/
Akzeptanz Gezielte
Regulation Kompetenz- zuwachs
Warten Nichts tun
SNF Nr. 100001C_185387
Munsch, 2019, adaptiert nach Berking, M., 2008.
Basiskompetenzen der Emotionsregulation
Wenn Gefühle belasten
Die sieben in i-BEAT vermittelten Basiskompetenzen
7. Adäquate Rückschlüsse
ziehen
1. Warten, nichts tun,
atmen
6. Regulieren
5. Selbst-
unterstützung 4. Analysieren
3. Akzeptanz und Toleranz 2. Bewertungsfreie
Wahrnehmung
Munsch 2019, adaptiert nach Berking, 2008.
SNF Nr. 100001C_185387
INTER-E
SNF Nr. 100001C_185387