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Archiv "„Umfassende Pflichtberatung im Konfliktfall”" (10.10.1991)

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„Umfassende Pflichtberatung im Konfliktfall”

Nachdem die Karlsruher Verfas- sungsrichter 1975 die Fristenlösung verworfen hatten, ist die Diskussion über die Problematik des Schwan- gerschaftsabbruchs auf vielen Ärzte- tagen zeitweise äußerst emotional geführt worden und auch in der Öf- fentlichkeit nicht abgeebbt, weil eine für alle Beteiligten zufriedenstellen- de Lösung nicht erreicht werden konnte.

In den letzten 15 Jahren hat sich gezeigt, daß nicht nur jede Frau existentiell von Schwangerschafts- konflikt und gegebenenfalls Ab- bruchproblematik betroffen ist, son- dern auch die Ärzte in ihrer fachli- chen Kompetenz und ihrem ethi- schen Selbstverständnis unwiderruf- lich in die Problematik miteingebun- den sind.

Um den Hippokratischen Eid in angemessener Weise zu erfüllen, ge- nügt es nicht, sich auf die weltfrem- den Positionen der Lebensschützer- Gruppen zurückzuziehen; wie das ungeborene Leben sind auch die be- troffenen Frauen in gleicher Kompe- tenz vor der Gefährdung ihrer leibli- chen und seelischen Gesundheit zu schützen.

Wir haben zwei Dinge gelernt aus der unmittelbaren Erfahrung der betroffenen Frauen im Konfliktfall:

1. Zwang und Strafandrohung sind letztlich unwirksam, Abbruch- zahlen zu senken; ungeborenes Le- ben kann also nur mit der Schwange- ren, nicht gegen ihren Willen wirk- sam geschützt werden.

2. Mit den Mitteln ärztlicher Erkenntnis ist eine Notlagenindikati- on nicht zu definieren. Deshalb müs- sen bei der Suche nach Konsens in der gesetzlichen Regelung nicht al- lein die politischen Parteien ihre Vorstellungen darlegen, sondern die Ärzte selbst sollten Strategien ent- wickeln, die ihre Erfahrungen und Vorstellungen in der Öffentlichkeit verdeutlichen.

Von Anfang an war einhellige Meinung im Deutsch-Deutschen Ausschuß der Bundesärztekammer, der das vom letzten Deutschen Ärz- tetag beschlossene Mehrheitsvotum ausgearbeitet hatte: Alle Bestrebun-

gen müssen auf die Senkung der Ab- bruchzahlen gerichtet sein. Bei den präventiven Bemühungen muß da- von ausgegangen werden, daß der Abbruch einer Schwangerschaft als gesellschaftliches Phänomen und als individuelles Schicksal nicht aus der Welt zu schaffen ist. Gerade der Me- chanismus der Verdrängung dieser Tatsache hat in den westlichen Län- dern einschließlich der Niederlande zu so unzuverlässigen Zahlen ge- führt.

Persönliche Konflikte Die Darlegung und vorurteils- freie Erforschung der ethischen, so- zialen, rechtlichen und medizini- schen Probleme des Abbruchs sind aber unerläßlich, um daraus Not- wendigkeiten zu entwickeln, die für Gesellschaft und Politik, aber vor al- len Dingen für den ärztlichen Be- rufsstand Grundlage für diese Fragen zu einer Bewältigung der ethischen und gesellschaftlichen Aufgabenstel- lung sein können. Eine größere Rechtssicherheit für die ärztliche Aufgabe, Leben zu schützen und ge- sundheitlichen Schaden zu minimie- ren, liegt dabei in unser aller Inter- esse.

Die Rolle des Arztes ist die des Helfers zur selbstbestimmten Ent- scheidung und des Mittlers in Zu- sammenarbeit mit kompetenten Be- ratern und Beraterinnen, zu dieser Entscheidung auch später zu stehen.

Im öffentlichen Bewußtsein hat sich der Schwangerschaftsabbruch in bei- den deutschen Staaten auf Grund der verschiedenen Rechtssysteme auch verschieden dargestellt. Der unauflösliche Grundkonflikt zwi- schen der Tötung und dem Autono- mieanspruch der Frau in ihrer zu- künftigen Lebensperspektive wurde in der Bundesrepublik mit Hilfe ge- sellschaftlicher Normethik nur zuge- deckt; hingegen wurden in der frühe- ren DDR Konfliktbewußtsein oder ein Unrechtsdenken nicht entwik- kelt.

Die reine Fristenlösung garan- tiert die freiheitliche, selbstbestimm-

te Willensbildung keineswegs, schon gar nicht im Zustand seelischer Not und situativer Einengung im Notla- genkonflikt.

Bei der reinen Indikationsrege- lung, womöglich noch in Kombinati- on mit einem Beratungsgesetz, ist der Arzt nicht nur überfordert, son- dern einer unerträglichen Belastung ausgesetzt, indem Verantwortung, Schuld- und eventuell Strafzuwei- sung für das Schicksal des Ungebore- nen und der Schwangeren gleichzei- tig ihm beziehungsweise ihr allein aufgebürdet werden.

Ein umfassendes Beratungsan- gebot ist im Fall des Abbruchs zwin- gend geboten. Es ließe sich von einer

daraus resultierenden „eigenverant- wortlichen Indikationslösung" spre- chen. Gerade in der fehlenden oder nicht obligaten ärztlichen Hilfe durch Beratung — in den neuen Län- dern noch geübte Rechtspraxis - liegt das Dilemma des ärztlichen Selbst- verständnisses.

Bei der derzeitigen gesetzlichen Regelung im Selbstverständnis der den Abbruch vornehmenden Ärztin- nen und Ärzte sind Gefühle der voll- kommenen Ohnmacht anzutreffen.

Die hilflosen Helfer wissen genau, daß im westeuropäischen Umfeld auch ohne Indikationsstellung ein Abbruch zu erreichen ist. Schwerste persönliche Konflikte sind die Fol- gen. Es wird vielfach in reflektierter Solidarität mit der Schwangeren Schuld stellvertretend für die Gesell- schaft übernommen.

Die umfassende Pflichtberatung im Konfliktfall ist fest integrierter Bestandteil ärztlichen Tuns, sie ist für die betroffene Frau die Gewähr für eine selbstbestimmte Entschei- dung. Für die ärztliche Verantwor- tung wird offenbar, daß der Ver- pflichtung zum Lebensschutz nach- gekommen wird, aber in gleicher Weise auch Gesundheit und Lebens- perspektiven der Frau Berücksichti- gung finden und geschützt werden.

Wenn dem Wort Beratungspflicht in negativer Weise das Odium des Zwanges anhaftet, so müssen es die Ärzte positiv besetzen. Pflicht ist wortverwandt mit Pflege und nicht mit Zwang. Die Pflichtberatung setzt die Zugangsschwelle für diejenigen Frauen herab, die weitgehend A-3394 (26) Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991

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fremdbestimmt sind. Sie kann ent- scheidungserleichternd und angstfrei verlaufen, wenn am Ende keine Indi- kationsstellung vom Arzt — sozusa- gen ein Urteil — steht, sondern letzt- lich die Gewissensentscheidung selbst getroffen werden kann und muß. Das Lebensschutzgebot wäre- ohne eingehende Beratung nicht er- kennbar. Im übrigen ist es für einen verantwortungsbewußten Arzt unzu- mutbar, einen nicht ungefährlichen und keinesfalls komplikationsfreien Eingriff ohne die Gewißheit vorzu- nehmen, daß schwerwiegende Grün- de diesen Eingriff begründen.

Eine Arbeitsteilung in beraten- de und ausführende Kolleginnen und Kollegen wäre aus mehreren Gründen zu diskutieren. Schließlich ist der erfahrene Operateur nicht immer der beste Berater. Allzuleicht könnten die mit dem Abbruch befaß- ten Ärzte als allein Strafbare unge- bührlich belastet werden.

Ist aus der Perspektive der be- troffenen Frau die Adoptionsfreiga- be, wie die katholische Kirche dies mit dem Slogan „Abgeben statt Ab- treiben" propagiert, wirklich eine gangbare Alternative zum Schwan- gerschaftsabbruch?

In der im Rahmen meiner medi- zinischen Dissertation vorgenomme- nen Untersuchung zu den psychi- schen Spätfolgen nach Schwanger- schaftsabbruch oder nach Adopti- onsfreigabe konnte aufgezeigt wer- den, wie die betroffenen Frauen den Abbruch beziehungsweise die Frei- gabe psychisch verarbeiten, oder welche Strategien sie anwenden, die- se Lebenskrise zu bewältigen. Die Untersuchung wurde als vergleichen- de retrospektive Querschnittsstudie an der Universitäts-Frauenklinik Würzburg durchgeführt. Dabei wur- den in einem Zeitraum von mehre- ren Jahren zwei Gruppen von zufäl- lig ausgewählten Frauen, 47 nach Schwangerschaftsabbruch, 34 nach Adoptionsfreigabe befragt.

Die Gegenüberstellung der an beiden Kollektiven gewonnenen Er- gebnisse ergab schon im Hinblick auf

Solidarität mit den Betroffenen und positive Haltung im Arzt-Pa- tient-Verhältnis heißt auch Mithilfe in unserer Gesellschaft, Diskriminie- rung zu überwinden. Desgleichen fordert medizinische Ethik, das Prin- zip der Gerechtigkeit in bestmögli- cher Weise durchzusetzen. Dazu ge- hört nicht nur der Zugang zu ärztli- cher Hilfe und Abbau von Schwel- lenangst für Jugendliche in Fragen der Antikonzeption, sondern auch der Einsatz verbesserter medizini- scher Möglichkeiten. Forschungser- gebnisse sollten genutzt und nicht aus politischen Gründen vorenthal- ten werden.

Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Inge Wolf

Ärztin für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe

Friesenring 80 W-4400 Münster

die Ausgangsdaten wichtige struktu- relle Unterschiede: Die Frauen mit Abruptio waren im Durchschnitt mehr als zehn Jahre älter, fast alle verheiratet und hatten bereits meh- rere Kinder. Die Frauen, die das Kind zur Adoption freigegeben hat- ten, waren dagegen überwiegend le- dig und zu mehr als zwei Dritteln Erstgebärende.

Hinsichtlich der psychischen Verarbeitung und der Folgeerschei- nungen ergab sich folgendes Bild:

Post abruptionem fanden sich deut- lich vermehrt psychosomatische Er- scheinungen, unter anderem funktio- nelle Unterleibsbeschwerden, wäh- rend die Frauen nach Adoptionsfrei- gabe wesentlich seltener oder gar nicht über solche Beschwerden be- richteten. Analoges gilt in noch aus- geprägterem Maß für die Häufigkeit von psychischen Auffälligkeiten wie Stimmungsschwankungen, Schuldge- fühlen und depressiven Reaktionen.

Frauen nach Abbruch konnten auch noch nach Jahren weniger zu ihrer damaligen Entscheidung stehen.

Welche Optionen sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die in

diesem Bereich Verantwortlichen sind aufgrund der vorliegenden Er- kenntnisse einzufordern?

Einbeziehen des Mannes 1. Als sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen finanziellen Mitteln ist die Ermöglichung der Kontrazep- tion auf Krankenschein unabding- bar.

2. In bezug auf den präventiven Bereich ist an lebensfördernde Ein- stellungen im privaten wie im öffent- lichen Bereich zu denken. Gemeint ist hiermit eine erhöhte Sensibilität gegenüber dem Leben vor und nach der Geburt. Petersen deutet Akzen- te an wie „vertiefte Bewußtheit für die Kindesankunft, eine sensiblere Begegnung der Geschlechter, zu- sammen mit einer vernünftigen Empfängnisverhütung."

3. Bei der bisherigen Praxis, dem Leugnen der Mitverantwortung der meist „überraschenderweise be- troffenen" Männer und der Schuld- zuweisung gegenüber den Frauen, waren diese meist alleingelassen vom Vater des Kindes trotz des Geredes von den „neuen Männern" oder

„neuen Vätern". Deshalb ist eine künftige Miteinbeziehung des Man- nes in die Beratung und Auseinan- dersetzung unabdingbar.

4. Jede, auch unerwünschte Schwangerschaft erfüllt eine Funkti- on in der jeweiligen Lebensdynamik der beiden Partner. Berater und Be- raterinnen sowie Gynäkologen und Gynäkologinnen sollten hierauf künftig vermehrt ihr Augenmerk richten, um den Betroffenen zu ver- deutlichen, daß hier möglicherweise unbewußte Regungen wie Ängste, Hoffnungen, Wünsche „Gestalt an- nehmen" können und die Schwan- gerschaft nicht wie ein unabänderli- ches Schicksal über das Leben der Partner hereinbricht, aber auch, um Wiederholungen dieses Vorgangs zu vermeiden.

5. Als Hilfe zur Selbsthilfe ist ein Angebot von Betroffenengrup- pen notwendig, um die persönlichen Erfahrungen und Gefühlsqualitäten sowohl nach Abruptio wie auch nach Freigabe gemeinsam thematisieren zu können.

Abgeben statt abtreiben?

Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991 (29) A-3397

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