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Archiv "Betty Ford Center: Qualifizierte Suchttherapie nicht nur für Reiche" (19.02.1999)

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etty Ford, nach der das Sucht- therapie-Zentrum in Rancho Mirage, Kalifornien, benannt ist, konsumierte schon während ihrer Zeit als First Lady im Weißen Haus ei- ne erhebliche Menge an Schmerzmit- teln und Alkohol. Mit dem Rückzug aus Washington und dem Beginn des- sen, was als glückliche Pensionärszeit im Süden Kaliforniens gedacht war, eskalierten die Suchtprobleme. Betty Ford unterzog sich schließlich einer Entwöhnungsbehandlung im Long Beach Marine Krankenhaus. Auf- grund ihrer eigenen Erfahrung und ausgestattet mit dem Mut, darüber öf- fentlich zu sprechen, machte es sich die ehemalige First Lady zur Aufga- be, anderen Abhängigen den Aus- bruch aus ihrem destruktiven Lebens- stil zu ermöglichen.

Das Betty Ford Center ist darauf spezialisiert, Abhängigkeitserkran- kungen zu behandeln. Es verfügt über 80 Betten, jeweils die Hälfte für Män- ner und für Frauen. Gebaut ist das Zentrum im Pavillon-Stil, die Unter- künfte sind eher einfach. In den einzel- nen Pavillons, die jeweils für 20 Pati- enten gedacht sind, gibt es acht Dop- pelzimmer und ein Vierbettzimmer.

Männer und Frauen sind in verschie- denen Häusern untergebracht und müssen täglich mit aufräumen und saubermachen. Aufgenommen wer- den Patienten mit verschiedensten Abhängigkeiten, darunter Alkohol, Medikamente, Kokain, Crack oder Heroin. Nicht aufgenommen werden Patienten, die zusätzlich an psychiatri- schen Erkrankungen oder schweren Persönlichkeitsstörungen leiden.

Aufnahmebedingung ist, daß sich die Patienten selbst anmelden und nicht etwa vom Partner oder den El-

tern angemeldet werden. Vom Erst- kontakt an ist die Vorgehensweise im Center strukturiert und streng. Die Therapie funktioniert nur dann, wenn der Patient bereit ist, aus dem Ver- heimlichen, Lügen und Bagatellisie- ren auszusteigen und der Wahrheit seiner Sucht standzuhalten.

Es gibt eine Reihe ausländischer Patienten, auch aus Deutschland. In der Regel beträgt die Wartezeit zwei Wochen. Bevor ein neuer Patient das Gelände des Betty Ford Center betre- ten darf, werden sämtliche Gepäck- und Kleidungsstücke nach mitge- brachten Suchtsubstanzen untersucht.

Die Mitpatienten der jeweiligen Hausgruppe, der der Neuankömmling zugewiesen wird, sind die wichtigsten Ansprechpartner. Alles spielt sich während der folgenden 28 Tage in der Gruppe ab. Ausgang in die Stadt gibt es nicht.

Da die meisten noch „auf Stoff sind“, wenn sie im Center ankommen, steht zunächst die Entgiftung angstbe- setzt im Raum. Hier ist die rauhe, aber dennoch tolerante Unterstützung durch diejenigen, die vielleicht selber erst seit kurzem wieder klar denken und fühlen können, bemerkenswert.

Die ärztliche/pflegerische Betreuung ist auf ein Minimum beschränkt. Die Identifikation mit den Mitpatienten soll auch die Überwindung des überzo- genen Selbstbildes, des „Ich bin etwas Besonderes, für mich gelten eigene Regeln“ erleichtern, das viele Abhän- gige bewußt oder unbewußt von sich haben. Egal wie bedeutend oder be- rühmt jemand in der Außenwelt war, hier in der 20köpfigen Hausgruppe ist er oder sie schlicht Bill, der Alkoholi- ker, oder Jane, die Kokain-Abhängige.

Für jeden kommt der Zeitpunkt, die persönliche Geschichte, die scham- vollen Momente der Abhängigkeits- karriere zu erzählen. Jeder ist aber auch Zeuge, wie Patienten nach länge- rem Aufenthalt wieder gesünder aus- sehen, freier über sich sprechen und wieder eine gewisse Hoffnung schöp- fen. Für die meisten Patienten ist diese Nähe, die aus der gleichen Betroffen- heit erwächst, das wichtigste Erlebnis ihrer vierwöchigen Behandlung. Mit der Erfahrung dieser Nähe durchbre- chen viele für immer die Isolation der Sucht und übertragen diese positive Gruppenerfahrung auf ihre spätere Selbsthilfegruppe, beispielsweise die

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Betty Ford Center

Qualifizierte Suchttherapie nicht nur für Reiche

In Kalifornien werden alkohol- und drogenab-

hängige Patienten in einem 28-Tage-Programm meist sehr erfolgverspechend entgiftet und entwöhnt.

B

Jeweils 20 Patienten teilen sich einen Pavillon. Fotos: Bernhard Mäulen

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Anonymen Alkoholiker. Verstärkt wird das Gruppengefühl durch ver- schiedene rituelle Komponenten im Patientenalltag wie den Gruppenkreis:

Bei jedem Verlassen des Gebäudes stellen sich alle im Kreis auf, legen die Arme auf die Schultern des Nachbarn, sagen den Gelassenheitsspruch auf und brüllen eine Mischung aus Pfadfin- der- und Kriegsruf.

Erstaunlich ist das Maß an Ver- antwortungsgefühl der Gruppenmit- glieder untereinander. Wenn bei- spielsweise Neuankömmlinge in der

ersten Woche ihre Therapie abbre- chen wollen, sind es meist Mitpatien- ten, die sie ermutigen, nicht aufzuge- ben. Der Grund für die starke Grup- penorientierung liegt im persönlichen Erleben der Klinikgründerin Betty Ford, die in ihrer eigenen Therapie immens von der Erfahrung einfacher, mitmenschlicher Nähe profitierte.

Das Therapieprogramm ist ko- gnitiv-behavioristisch ausgerichtet.

Der Tag beginnt mit einem 45minüti- gen Spaziergang, der als Lauftraining, still-meditative Bewegungszeit oder auch als Gruppenspaziergang genutzt werden kann. Nach dem Frühstück findet für alle Patienten ein 30minüti- ger Vortrag zu den Themen Sucht, ge- sunde Ernährung, Rauchen, Schuld und Scham, spirituelle Komponenten des 12-Schritte-Programms oder Se- xualität ohne Suchtstoffe statt. Täg- lich um 10 Uhr ist Gruppentherapie

angesetzt. Die Therapeuten sind als Suchtberater ausgebildet und bringen meist die Erfahrung eigener Abhän- gigkeit und langjähriger Abstinenz mit. Primär wird daran gearbeitet, die krankheitsimmanente Verleugnung (denial) zu durchbrechen. Dazu ge- hört zum Beispiel, daß jedes Grup- penmitglied zehn negative Folgen sei- nes Suchtverhaltens beschreibt. Ist ei- ne Neigung zum Minimieren („So schlimm wie bei anderen war es bei mir ja nicht“) erkennbar, wird die Aufgabe wiederholt. Zusätzlich gibt

es recht massive Rückmeldungen aus der Gruppe. Werden Ereignisse weg- gelassen, etwa solche, die die Familie betreffen, konfrontiert der Therapeut den Patienten mit der Schilderung sei- ner Angehörigen. Das führt in der Re- gel zu viel Ärger, manche Patienten erleben sich als Opfer ihrer Umstän- de, was von den Behandlern nicht un- terstützt wird.

Nach dem Mittagessen trägt in der Regel ein Patient seinen ersten Schritt vor. Das heißt, er beschreibt im einzelnen, wie er die Machtlosigkeit gegenüber der Sucht gespürt hat und wie sich sein Leben immer weniger meistern ließ. Dabei wird von den Pa- tienten ein hohes Maß an Selbster- kenntnis, Demut sowie an Ertragen von Scham und Schuld gefordert.

Manche bleiben mehr an der Ober- fläche, das spürt die Gruppe sofort und drückt es unmißverständlich aus.

Weitere Therapiebausteine sind an den Nachmittagen Sport- und Be- wegungstherapie im Fitneßraum oder Schwimmbad, eine Gruppe für ältere Abhängige, eine weitere für Patienten mit Trauerprozessen, Einzeltermine mit der Diätberaterin oder den seel- sorgerischen Betreuern, klinisch-psy- chologische Tests oder Zeit für Haus- aufgaben, beispielsweise die Lektüre im Blauen Buch der Anonymen Alko- holiker. Nach dem Abendessen steht für alle eine weitere Informationsver- anstaltung auf dem Programm und anschließend der Besuch der Selbst- hilfegruppe.

Suchterkrankungen wirken sich auf alle Mitglieder einer Familie aus.

Der Leidensdruck der Angehörigen ist oft erheblich. Die meisten von ih- nen glauben, daß es ihnen allein da- durch wieder besser gehen wird, daß der Trinkende die Flasche stehenläßt.

Dies ist in der Regel nicht der Fall.

Deshalb hat das Betty Ford Center ei- ne Familienwoche eingerichtet, an der die Angehörigen von rund zwei Drit- teln der Patienten teilnehmen.

Die meisten Angehörigen er- warten, daß ihnen das Team zeigt, wie sie den Abhängigen noch besser kontrollieren und Abstinenzbe- mühungen unterstützen können. Sie werden jedoch schnell darüber auf- geklärt, daß genau dieses Verhalten die Krankheit so lange ermöglicht hat. Die Familien werden darin un- terstützt, eine Bilanz ihrer Verluste und Abstriche an Aktivitäten und Lebensfreude zu ziehen, die sie im Verlauf der Suchterkrankung ihres Angehörigen hingenommen haben.

In einer überschaubaren Therapie- gruppe lernen sie, sich dem eigenen Schmerz, dem Selbstwertverlust und ihren massiven Wut- und Haßge- fühlen zu stellen. Ein hoher Prozent- satz der Ehepartner der Abhängigen entdeckt, daß schon in ihrer Her- kunftsfamilie ein Elternteil oder bei- de Alkoholiker waren.

Jugendliche ab 13 Jahren sind in der Familienwoche mit den Erwach- senen zusammen. Kinder zwischen sieben und 13 Jahren haben ihre eige- ne Gruppe, wo mehr mit gestalteri- schen Mitteln wie Bildern und Zeich- nungen an das Thema der gestörten Familie herangegangen wird. An zwei Abenden sind Selbsthilfegruppen für

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Die Aufenthaltsräume der Patienten sind einfach, aber wohnlich eingerichtet.

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Angehörige Abhängiger (ALANON) angesetzt. Die Familienmitglieder bleiben in der Familienwoche weitge- hend unter sich. Nur für wenige Stun- den kommen sie mit dem Suchtkran- ken zusammen. Für die Patienten ist die Familienwoche meist schwierig, da sie klarer und ohne den Filter eines Suchtmittels hören und fühlen, was sie denen zugefügt haben, die sie lieben.

Kontakt zur Selbsthilfegruppe

Entgegen der Darstellung vieler Boulevardzeitschriften ist das Betty Ford Center nicht primär für die obe- ren Gesellschaftsschichten konzipiert.

Mehr als 90 Prozent der Patienten kommen aus Kreisen, die nicht im Rampenlicht von Film und Showbusi- neß, Politik oder Management stehen.

Viele stammen aus der Mittel-, einige aus der Unterschicht. Dennoch haben sich im Laufe der Jahre viele Berühmtheiten dort einer Therapie unterzogen. Einige haben direkt im Anschluß ihre neugewonnene Absti- nenz medienwirksam kundgetan, ein Verhalten, von dem das Team drin- gend abrät. Auch die berühmtesten und reichsten Patienten müssen die im Betty Ford Center geltenden The- rapiebedingungen akzeptieren. Für manche ist es anfänglich unvorstell- bar, vier Wochen ohne Handy auszu- kommen oder mit drei anderen Pati- enten ein Zimmer zu teilen. Einigen fehlt die Kenntnis grundlegender Le- bensfähigkeiten wie Staubsaugen, Waschen oder Kaffeekochen, weil sie es nie zuvor tun mußten. Die Folge sind häufig innere und äußere Kämp- fe, bis ein Annehmen der Therapie gelingt. Dann aber stellen viele der VIP-Patienten fest, wie sehr ihre her- ausgehobene Position mit ihrer Sucht verknüpft war und daß sie sich und ih- re Umwelt viel zu lange mit dem gol- denen Schein getröstet haben und die dahinter liegende Einsamkeit, die Zerrüttung der Beziehungen, die zu- nehmende Sinnlosigkeit nicht wahr- nehmen wollten (4).

Eine vierwöchige stationäre Be- handlung ist eine sehr kurze Zeit, ge- messen an dem Ziel einer dauerhaf- ten Abstinenz. Bei aller Intensität des Programms bleiben wesentliche

Wachstumsschritte für die Zeit nach der Entlassung übrig. Um dem ge- recht zu werden, wird etwa ab der dritten Behandlungswoche die Nach- sorge geplant. Das schließt die Ermitt- lung der nächstgelegenen AA-Grup- pen am Wohnort ein. Angestrebt wird die Teilnahme an 90 Treffen in 90 Ta- gen! Oft wird noch aus der Klinik der telefonische Kontakt zur Selbsthilfe- gruppe hergestellt. Für die Patienten, die nach Einschätzung des Teams nicht sofort in ihre Wohn- und Ar- beitsumgebung zurückkehren können, wird eine Zwischenlösung erarbeitet.

Dies kann die mehrwöchige Teilnah- me am Tages-Klinik-Programm des Betty Ford Center oder ein Aufent- halt in einer „trockenen“ Wohnge- meinschaft sein. Außerdem existiert ein Netz ehemaliger Center-Patienten (Alumni), die sich als Kontaktperso- nen für Frischentlassene zur Verfü-

gung halten und die vielen Anfangs- probleme lösen helfen.

Manches am Betty Ford Center erscheint denen, die mit deutschen Suchttherapiestätten vertraut sind, ungewohnt. So sieht man in Deutsch- land in der Regel von der gemeinsa- men Behandlung Alkohol- und Hero- inabhängiger ab. Hier sind mit thera- peutischen Strategien, die nach Sucht- mitteln differenzieren, größere Erfol- ge erzielt worden. Auch im Betty Ford Center unterschieden sich die Patienten mit isolierter Alkoholab-

hängigkeit von den mehrfach Abhän- gigen häufig schon rein optisch, mehr noch durch ihre Sprachwahl und ihr Verhalten. Andererseits hat die Ab- hängigkeit von Kokain, Crack und an- derem in den USA in viel stärkerem Maße als in Deutschland die Mittel- und Oberschicht erfaßt, darunter Sportler, Anwälte oder Ärzte. Diese lassen sich mit den Methoden einer behavioristisch-kognitiven Kurzzeit- therapie gut erreichen und haben nicht die Defizite langjährig i. v. Dro- genabhängiger aus der Szene. Zudem sind vielmonatige Entwöhnungsthe- rapien in den USA nie Methode der Wahl gewesen, wohl auch weil sich das Sozialversicherungsgefüge gänzlich vom deutschen unterscheidet.

Die in Deutschland zunehmend ausgebaute Psychotherapie spielt im Betty Ford Center kaum eine Rolle.

Die meisten Therapeuten und leiten-

den Mitarbeiter bringen zunächst ihre eigene Lebenserfahrung als Abhängi- ge ein und haben dann eine Ausbil- dung zum Suchtberater durchlaufen.

Alles orientiert sich an den 12-Schrit- te-Gruppen. Die Überzeugung ist, daß Abhängige in den ersten Mona- ten der Trockenheit zu einer Therapie eigentlich noch nicht in der Lage sei- en. Dies deckt sich nicht mit meiner Erfahrung, daß eine gründliche thera- peutische Bearbeitung der persönli- chen Biographie für viele Suchtpati- enten sehr wichtig ist. Jedes Land

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Sport und Bewegung unter anderem im centereigenen Fitneßraum gehören zu den Therapiebausteinen.

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scheint jedoch ein bestimmtes thera- peutisches Credo aufrechtzuerhalten, das nicht leicht zu hinterfragen, ge- schweige denn zu korrigieren ist.

Herausragend im Betty Ford Center ist ferner das „Professional in Residence Program“. Grund dafür ist die betrübliche Erfahrung, daß Sucht- krankheiten und ihre Behandlung im herkömmlichen medizinischen Aus- bildungsprogramm viel zu wenig be- achtet werden, was leider auf beide Seiten des Atlantik zutrifft (5). So bie- tet das Center Angehörigen von Ge- sundheitsberufen die Möglichkeit, für eine Woche am vollstationären Pro- gramm und eine zweite Woche an der Familienwoche teilzunehmen. Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem theo- retischen, sondern dem erfahrungs- mäßigen Erkenntnisgewinn. Hautnah und bis zu zehn Stunden pro Tag lebt der Teilnehmer mit den Patienten und läßt sich persönlich berühren.

In einer schönen Umgebung, die die Wertschätzung widerspiegelt, die Patienten hier erfahren, werden im Betty Ford Center in nur 28 Tagen oft- mals Leben nachhaltig verändert.

Dies spiegelt sich in der Erfolgsquote, die vom medizinischen Direktor des Zentrums, Dr. Gail Shultz, mit einer Einjahres-Abstinenzrate von 62 Pro- zent angegeben wird. Innerhalb und auch außerhalb der USA genießt die Einrichtung zu Recht einen hervorra- genden Ruf, der durch die engagierte Öffentlichkeitsarbeit von Betty Ford, das erhebliche Engagement für die Familien und den Einsatz für die Wei- terbildung professioneller Helfer kontinuierlich weitergetragen wird.

Literatur

1. Ford B: Betty – A Glad Awakening. New York: Doubleday, 1987.

2. Anonyme Alkoholiker: Das Blaue Buch.

München: AA Interessengemeinschaft, 1976.

3. Mäulen B: Kinder aus Trinkerfamilien.

Suchtreport 1993; 4:49–53.

4. Nuber U: Führungskräfte und Alkohol:

Ideologie der Unverwundbarkeit. Psycholo- gie heute 1996; 23: 33–35.

5. Mäulen B: Ärzte und Ärztinnen. In J. Gölz (Hrsg.): Moderne Suchtmedizin. Stuttgart:

Thieme Verlag, 1998.

Anschrift des Verfassers Dr. med. Bernhard Mäulen Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie

St.-Nepomuk-Straße 1/2 78048 Villingen-Schwenningen

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND/DIE REPORTAGE

er Tote war um die 50 und trieb im Rhein. Er liegt auf ei- nem stählernen Rollwagen im sechs Grad kalten Kühlkeller des In- stituts für Rechtsmedizin der Univer- sität Düsseldorf. Ein Arzt hat auf dem Totenschein die Rubrik „Ungeklärt“

angekreuzt. Fahnder mit Skalpell und Mikroskop sollen herausfinden, wie der Mann mit der Nummer 8 auf dem rechten Bein gestorben ist. Prof. Dr.

med. Wolfgang Bonte (59), Chefarzt im Institut für Rechtsmedizin der Universität Düsseldorf, läßt das Er- gebnis offen: „Er könnte ertrunken oder als Leiche ins Wasser geworfen worden sein – es gibt Läuse und

Flöhe.“ Nummer 8 ist einer von drei Toten, die an diesem Tag obduziert werden. Vom Befund hängt ab, ob die Polizei die Akte schließen kann oder einen Täter suchen muß. „In 95 von 100 zunächst ungeklärten Fällen steckt nichts dahinter“, weiß Bonte,

„aber nicht immer können wir einen natürlichen Tod bescheinigen.“

Der C-4-Professor mit Lehrstuhl und seine 13 wissenschaftlichen Mit- arbeiter, darunter acht Ärzte, ent- scheiden pro Jahr etwa 1 000mal, wann beerdigt werden darf; jeder

zweite Tote wird von ihnen vor der Obduktion zur Bestattung freigege- ben. Rechtsmediziner fügen Einzel- befunde zum Puzzle, um das Gesche- hen zu rekonstruieren und das perfek- te Verbrechen, soweit es in ihrer Macht steht, zu verhindern. „Denn nicht immer“, sagt Bonte, „steckt in einer Leiche eine Kugel, ein Messer oder eine Axt.“

Die Wurzeln seines Metiers rei- chen 3 000 Jahre zurück: Die Hebräer beschäftigten bei jedem Gericht einen Amtsarzt. 44 v. Chr. fand der römische Amtsarzt Antistius im Leichnam von Julius Caesar 23 Stichwunden; nur ein Stich in die Brust war tödlich. Im Jahr 1248 erschien in China das Buch „Hsi Yüan Lu“ als Leitfa- den der gerichtlichen Medizin. Europa folg- te 1507: Der Bischof vom Bamberg ver- fügte, bei Kindesmor- den und Verdacht auf ärztliche Kunst- fehler einen Medizi- ner zu befragen. Im Jahr 1521 erweiterte Kaiser Karl V. die Befugnisse: Ärzte durften für Gerichte die Wunden von Er- mordeten erweitern, um Tiefe und Verlauf zu ergründen.

Als Vater der Gerichtsmedizin in Deutschland gilt Roderich von Ca- stro, der aus einer portugiesischen Fa- milie stammte und in Hamburg lebte.

Er gliederte 1614 die Gerichtsmedizin in vier Felder: Vergiftungen, Verlet- zungen, Feststellung der Jungfräulich- keit, Untersuchung verkaufter Skla- ven. Als bahnbrechend gilt das „Prak- tische Handbuch der gerichtlichen Medizin“, das der Berliner Arzt Jo- hann Ludwig Casper 1856 veröffent-

Porträt

Der Quincy vom Niederrhein

Rechtsmediziner fügen Einzelbefunde zum Puzzle, um das Geschehen zu rekonstruieren und das perfekte Verbrechen zu verhindern.

Bonte mit dem Totenschädel eines Mordopfers Foto: Sepp Spiegl

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licht hat. Grundlage der Rechtsmedi- zin, schrieb er nieder, seien die Ob- duktion, die mikroskopische und die chemische Untersuchung.

Obwohl die Rechtsmedizin als Zweig der Wissenschaft immer wichti- ger wird, hält Deutschland bei den Obduktionen mit acht Prozent den in- ternationalen Minusrekord; vor 25 Jahren war noch jeder vierte Tote ein Fall für die Gerichtsmedizin. Das Ge- fälle ist eher zufällig: Im Bereich Düs- seldorf ordnet die Staatsanwaltschaft jährlich etwa 500 Obduktionen an, im etwa gleich großen Nachbarbezirk Köln rund 150. Auf Symposien bekla- gen die Spezialisten der 35 Institute, daß Jahr für Jahr bis zu 18 000 nicht natürliche Todesfälle als natürliche deklariert und mehr als 6 000 ärztliche Kunstfehler nicht erkannt oder ver- merkt werden – wie die „pockenarti- gen, roten Anhaftungen im Brustbe- reich“ eines 53jährigen aus Hannover, die tatsächlich Messerstiche waren.

Wolfgang Bonte ist nichts fremd, was tödlich ist. Vor vier Jahren, er- zählt der Mann mit dem Vollbart, tru- gen seine Mitarbeiter zur Lösung ei- nes ungewöhnlichen Falles bei, der so rekonstruiert wurde: „Der Chef einer Bande von Autoschiebern erschlug bei Duisburg einen Ganoven mit ei- nem Stemmeisen. Zwei Tage später wurde der Tote in ein Faß gesteckt, mit Beton übergossen und in einem Fluß versenkt; eigentlich eine sichere Form der Beseitigung. Doch ein Mit- glied der Bande gab der Polizei einen Tip. Froschmänner hoben die Tonne mit dem Toten. Und wir haben die Leiche herausgemeißelt und sogar die Tatwaffe gefunden, einen sogenann- ten Kuhfuß.“ Belege der ungewöhn- lichsten Fälle werden seit 1953 im größten Museum der Rechtsmedizin gesammelt (dazu Deutsches Ärzte- blatt, Heft 30/1997).

Von 1990 bis 1993 war Bonte Prä- sident des Weltverbandes der Rechts- mediziner. In seinem letzten Amtsjahr organisierte er eine Kollegentagung in Düsseldorf – mit einem Theaterstück:

Es gab einen vorgeblichen Toten; die Mordkommission rückte an, und nach der Erkennungsmelodie der Fernseh- serie um den Gerichtsmediziner, der in Los Angeles vertrackte Fälle im 90- Minuten-Takt löst, stand Quincy-Dar- steller Jack Klugman auf der Bühne.

Eine Planstelle des Düsseldorfer Instituts gehört einem Archäologen.

„Rechtsmedizin und Archäologie sind in Grenzbereichen verwandt“, erläutert Bonte und berichtet von ei- nem Fall am Niederrhein: Ein Bagger legte Knochen und ein vermeintliches Bajonett frei – „es waren nicht die Re- ste eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, sondern eines Merowin- gers aus der Zeit um 700 n. Chr. und ein Kurzschwert aus jener Zeit“.

Im Oktober geriet Bontes Insti- tut millionenfach in die Schlagzeilen.

Das ZDF drehte einen Beitrag über die Rechtsmedizin und wollte, mit

Billigung der Staatsanwaltschaft, ei- ne kurze, unverdächtige Sequenz von einer Obduktion senden. Die „Bild“- Zeitung ermittelte die Identität des Toten, der im Gefängnis Selbstmord begangen hatte; seine Eltern erreich- ten, daß der TV-Beitrag gekürzt wer- den mußte – und mehr: Künftig muß ein Richter entscheiden, bevor im Bereich der Staatsanwaltschaft Düs- seldorf obduziert werden darf. Das Problem: Wer gestattet, damit die Polizei recherchieren kann, die Ob- duktion unbekannter Opfer von Ver- brechen durch Experten der Rechts- medizin? Hans-Werner Loose

T H E M E N D E R Z E I T DIE REPORTAGE/BERICHTE

Eine Zweiteilung in der Zustän- digkeit und Finanzierung von Rehabi- litationsmaßnahmen zeichnet sich seit geraumer Zeit insoweit ab, als die sta- tionäre medizinische Rehabilitation künftig überwiegend der Zuständig- keit und Finanzierung der Gesetzli- chen Krankenversicherung zugeord- net werden dürfte, wohingegen der Übergang von der medizinischen zur beruflichen Rehabilitation in der Kompetenz der Rentenversiche- rungsträger verbleiben dürfte. Infolge der engeren Verflechtung zwischen der Akutbehandlung und der An- schlußrehabilitation verstärkt sich zu- dem der Zwang, Überkapazitäten ab- zubauen und die am Markt befind- lichen Rehabilitationseinrichtungen zu regionalisieren. Unwirtschaftliche Reha-Einrichtungen an ungünstigen Standorten dürften ganz aus dem Markt ausscheiden – zugunsten neuer sektorenübergreifender Angebots- strukturen mit kompetenten Akut- und Rehakliniken.

Dies prognostizierte der Kran- kenhausreferent im Niedersächsi- schen Sozial- und Gesundheitsmini- sterium, Ltd. Ministerialrat Dr. jur.

Ernst Bruckenberger, vor dem II. Kölner Krankenhaus-Symposion.

Aus Kostengründen und wegen der notwendigen Bedarfsabstimmung zeichnet sich künftig nach Brucken-

bergers Einschätzung eine sektoren- übergreifende Krankenhausplanung und Standortabstimmung im Akutkli- niksektor ab, bei denen auch der Re- ha-Sektor und die Entgeltsysteme mit einbezogen werden müßten.

Eine enge Verbindung der Klinik- planung der Länder mit der Steuerung der Angebotsstruktur der Rehabilitati- on und der Anschlußrehabilitation sei aus demographischen, medizinischen und finanziellen Gründen geboten.

Künftig sollte die modifizierte Kran- kenhausrahmenplanung der Länder den Standort des Krankenhauses fest- legen, die Einrichtung der Fachabtei- lungen nach Gebieten vereinbaren, die Funktionseinheiten bestimmen (etwa Radiologie), die Plätze für die teilsta- tionären Leistungen einrichten sowie die Ausbildungsstätten an stationären klinischen Einrichtungen einrichten, finanzieren und beaufsichtigen. Dage- gen sollte die Leistungsstrukturpla- nung allein den Vertragsparteien über- tragen werden. Diese sollten auch das Recht haben, Schwerpunktabteilun- gen zu vereinbaren. Es sei allerdings verfassungsrechtlich nicht zulässig, wenn die Krankenkassen von außen in die internen Leistungsstrukturen der Krankenhäuser eingreifen. Allenfalls sollte die Krankenhausabteilung durch die Vereinbarungspartner festgelegt werden. Dr. Harald Clade

Stationäre Rehabilitation

Geteilte Zuständigkeit

Referenzen

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1996) sind davon drei Arten verzeichnet: Feldhase (in Deutschland und Hessen gefährdet), Baummarder (in Deutschland gefährdet, für Hessen ist eine Gefährdung anzunehmen), Biber

[r]

d) Begründe ohne Taschenrechner, warum der Flächeninhalt des Pa- rallelogramms RTUV ein wenig mehr als ein Sechstel des Würfel- oberflächeninhalts beträgt, wobei diese Differenz

3) Ein englischsprachiger Beweis des PLS (für eine amerikanische Zeitschrift).. 4) Das angekündigte "pythagoreische Vermächtnis" (also in English!). Prove the

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1. die Schwangere einwilligt und 2. der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärti- gen und zukünftigen Lebensverhältnis- se der Schwangeren nach ärztlicher