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Archiv "„Was war das für eine aufregende, anregende Zeit“" (03.07.2009)

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A1412 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 27⏐⏐3. Juli 2009

T H E M E N D E R Z E I T

heitsdienst genutzt werden. Dass sich diese ehemaligen Verbindungen auf deren Abstimmungsverhalten auswirkten, wenn es um das Thema

„Auflösung des Staatssicherheits- dienstes“ ging, sollte zumindest in Betracht gezogen werden (16).

Seit der dritten Sitzung des Zen- tralen Runden Tisches stand fest, dass drei Kirchenvertreter die Bera- tungen dauerhaft und gemeinsam moderieren würden. Ihre Akzeptanz als Gesprächsleiter resultierte vor allem aus ihren Erfahrungen im demo- kratischen Dialog und ihrer Schu- lung in Konsensbildung. Die Mode- ratoren verstanden sich nicht als Ver- treter eigener Interessen, sondern als

„Vermittler in Verantwortung für das Ganze“, „Helfer zum Gespräch“ und

„Mahner zur Friedfertigkeit“ (17).

Der christlich geprägte Wille nach Konsens und Ausgleich am Runden Tisch hat aber mitunter auch wichti- ge oder intensivere Auseinanderset- zungen verhindert.

Das traf auch auf die von Kirchen- vertretern geleiteten Runden Tische der Kommunen, Kreise und Bezirke zu. Es gab aber ebenfalls eine Reihe von Tischen, an denen die Ge- sprächsleitung kontinuierlich wech-

selte. So lehnte beispielsweise der Kirchenvertreter in Dessau die stän- dige Moderation mit der Begrün- dung ab, jeder am Tisch solle einmal

„die Freuden und Leiden des Präsi- denten eines demokratischen Parla- ments“ auskosten (18).

Machtvakuum wird genutzt Der Zentrale Runde Tisch wollte kei- ne parlamentarische oder Regie- rungsfunktion übernehmen, sondern gemäß seinem Selbstverständnis

„Bestandteil der öffentlichen Kon- trolle“ sein. Er forderte deshalb gleich zu Beginn seiner Tätigkeit die

„Offenlegung der ökologischen, wirt- schaftlichen und finanziellen Situati- on“ und darüber hinaus, „rechtzeitig vor wichtigen rechts-, wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidun- gen informiert“ und in die Entschei- dungsfindung einbezogen zu werden (19). Dem trugen die Informationen von Regierungsvertretern, wenn auch nur begrenzt, Rechnung.

Nach den Demonstrationen vor der Volkskammer am 11. Januar 1990, der „Erstürmung“ der MfS- Zentrale in Berlin am 15. Januar 1990 und der erzwungenen Er- klärung der Modrow-Regierung zur

Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit erweiterten sich nicht nur die Funktionen des Zentra- len Runden Tisches, sondern er ließ auch seine im „Selbstverständnis“

formulierte Position weit hinter sich.

Zu dieser Zeit entstand ein Macht- vakuum, woraufhin der Zentrale Runde Tisch am 28. Januar 1990 der Bildung einer „Regierung der natio- nalen Verantwortung“ zustimmte.

Die bisher in der Regierung nicht vertretenen Parteien und politischen Gruppen des Runden Tisches ent- sandten Vertreter in das Kabinett, die als Minister ohne Geschäftsbereich Sitz und Stimme im Ministerrat er- hielten und aktiv in die Arbeit des Ministerrates, insbesondere bei der Vorbereitung wichtiger, grundlegen- der Entscheidungen, einbezogen werden sollten (29). Allerdings be- saßen sie keinerlei Entscheidungs- macht über den Regierungsapparat, legitimierten aber umso mehr die Regierung Modrow. Von einem Ab- wicklungs- oder Demontagekonzept seitens der Opposition konnte seither nicht mehr die Rede sein, sondern eher von einer zu Beginn noch ab- gelehnten Regierungsmitverantwor- tung. Die Zustimmung Gorbatschows

„WAS WAR DAS FÜR EINE AUFREGENDE, ANREGENDE ZEIT“

Dr. Willms erinnert sich: Die Arbeitsgruppe Gesundheits- wesen des Runden Tisches in Halle macht Politik.

Am 30. April 1990 trafen sich die Vertreter aller 57 Krankenhäuser des Bezirkes Halle im „Klubhaus der Gewerkschaften“. Organisiert hatte das Treffen die Arbeitsgruppe Gesundheitswesen des Runden Tisches des Be- zirks Halle. Deren Vertreter, Dr. jur. Peter Willms, war Leiter von zwei ka- tholischen Krankenhäusern in Halle. Zuvor, am 18. April, hatte es in Hal- densleben bereits ein ähnliches Treffen der Magdeburger gegeben. Auch in Magdeburg gab es eine Formation des Runden Tisches, die sich mit dem Gesundheitswesen beschäftigte. Unterstützung für beide kam aus Niedersachsen. Dieses Bundesland hatte schon Ende 1989 eine Art Pa- tenschaft für die Bezirke Halle und Magdeburg, aus denen sich später das Land Sachsen-Anhalt bildete, übernommen.

Die Gäste aus dem Westen informierten die „Newcomer aus dem Osten“ (Willms) über Neuland: Pflegesatzrecht, Anhaltszahlen zur Perso- nalbedarfsermittlung, Krankenhausfinanzierung, Antragsverfahren für den Krankenhausbau. Das war nicht nur neu, sondern Information und Hilfe- stellung, möglichst uneigennützig, waren bitter nötig. Denn für die „New- comer“ sei es schwierig gewesen, so Dr. Willms, „das sogenannte freie Spiel der Kräfte einer sozialen Marktwirtschaft mit den oft gegensätzlichen und rigoros vertretenen Verbandsinteressen zu durchschauen“.

Auf die beiden Treffen im April folgte schließlich am 31. August 1990 die Gründung der Krankenhausgesellschaft Sachsen-Anhalt, obwohl es dieses Land noch gar nicht gab; es wurde erst zwei Monate später gegrün- det. Kurios ist auch, dass das Krankenhausfinanzierungsgesetz der DDR- Volkskammer vom 30. August 1990 schon auf die (damals noch westdeut- sche) Bundespflegesatzverordnung verwies, obwohl doch der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erst am 3. Oktober 1990 wirksam wurde. Es sei eben eine aufregende und anregende Zeit gewesen, bemerkt Dr. Willms, dem noch heute allerlei solcher Merkwürdigkeiten präsent sind.

Der Runde Tisch in Halle kümmerte sich nicht nur um den stationären Sektor, der allein schon durch seinen Moderator Dr. Willms besonders im Blickfeld war. In der Arbeitsgruppe Gesundheitswesen spielte dann auch noch dessen evangelisches Pendant, Dr. Reinhard Turre, der Rektor des Diakoniewerks, eine Rolle. Ihnen allen aber ging es insgesamt um die katas- trophale Lage im Gesundheits- und Sozialwesen, gekennzeichnet durch knappe Mittel, finanziell wie technisch oder baulich. Vor allem aber drückte der Personalmangel. Am 18. Januar 1990 berichtete der Bezirksarzt dem Runden Tisch von gravierenden Personalmängeln, allein 1989 hätten 1 400 Mitarbeiter des Gesundheitswesens, darunter fast 400 Ärzte und 735 Schwestern die DDR verlassen. Er empfahl den Einsatz von Soldaten der Nationalen Volksarmee und von NAV-Bausoldaten. Der Runde Tisch wies den Bericht des Bezirksarztes zurück, vermerkt das Protokoll, und

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zur deutschen Wiedervereinigung im Februar 1990 hatte auch weitrei- chende Folgen für den Zentralen Runden Tisch: Ihm „war das politi- sche Gegenüber in der DDR abhan- den gekommen; Appellationsadres- saten des Runden Tisches waren für eine zunehmende Zahl von Proble- men nicht länger primär Ostberliner, sondern mehr und mehr Bonner Instanzen“ (21). So war die am 5. März 1990 beschlossene, aus- drücklich als „Sozialcharta“ zu be- zeichnende, rechtlich einklagbare Garantie sozialer Standards eindeu- tig an die Regierung in Bonn adres- siert (22). Sie enthielt auch einen Ab- schnitt zum „Recht auf gesundheit- liche Betreuung“, das unter anderen die Garantie auf Chancengleichheit der Bürger bei der Inanspruchnah- me medizinischer Leistungen ein- schloss (23).

Politik als Bürgersache Der Zentrale Runde Tisch hielt sich schon recht früh für die deutsche Wiedervereinigung offen. Fraglich blieben einzig der Zeitpunkt, die da- mit verbundenen Bedingungen und Erwartungen (24). Letzteres demons- trierte beispielsweise die „Sozial-

charta“, in der gefordert wurde, die deutsche Einheit „auf dem Wege ei- nes wechselseitigen Reformprozes- ses beider deutscher sozialer Siche- rungssysteme in ihren positiven Grundzügen zu vollziehen“ (25). Als der Zentrale Runde Tisch am 12.

März 1990 zu seiner letzten Sitzung zusammentrat, hatte er schon längst seine Legitimation und damit an po- litischer Bedeutung verloren. Das wurde zuletzt mit dem Ergebnis der Volkskammerwahl deutlich, aus der die „Allianz für Deutschland“, die auf eine schnelle Vereinigung setzte, als deutlicher Sieger hervorging.

Auf kommunaler, Kreis- und Be- zirksebene verstanden viele Akteure die Runden Tische als Beratungs- und Kontrollgremien gegenüber den „Volksvertretungen“ und ihren Räten. Die „Volksvertretungen“ sa- hen sich spätestens in Umsetzung zentralstaatlicher Anordnungen seit Januar 1990 veranlasst, Vertreter der an den Runden Tischen präsen- ten neuen politischen Gruppierun- gen in ihre Arbeit einzubeziehen.

Die meisten Tische entließen die

„Volksvertretungen“ und Räte be- wusst nicht aus ihrer Verantwortung für die Bewältigung des Alltags, ei-

ne Reihe von ihnen verweigerte zu- dem absichtlich und – anders als der Zentrale Runde Tisch – bis zum Schluss die Teilhabe an deren nicht demokratisch legitimierter Macht.

Die Runden Tische wurden zum Synonym für einen diskursiv statt positionell angelegten Politikstil.

Als Instrumente der Systemtrans- formation und der Beherrschung von gesamtgesellschaftlichen Kri- sensituationen stehen die Tische einmalig da (26). Sie bestätigen vor allem, dass die Menschen nach Jahr- zehnten Diktatur in der Lage waren, sich eigenständig zu organisieren, Probleme sachkundig wie sachlich zu diskutieren und gemeinsam nach Lösungsansätzen zu suchen. Tau- sende DDR-Bürger engagierten sich an den Runden Tischen – Politik war Bürgersache geworden.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2009; 106(27): A 1409–13

Anschrift der Verfasserin Dr. Francesca Weil

Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden 01062 Dresden

setzte eine Ad-hoc-Kommission ein (vgl. den Artikel von Francesca Weil), die einen Prioritätenkatalog erarbeiten sollte. Daraus entstand die Arbeits- gruppe Gesundheitswesen des Runden Tisches Halle, die auch noch nach Auflösung des Runden Tisches weiterarbeitete, bis zum August 1990. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik – den beschloss die DDR-Volks- kammer am 23. August 1990 – hatte sich ihr Auftrag erledigt.

Bis dahin leistete die Arbeitsgruppe pragmatisch politische Arbeit.

So standen am 11. April 1990 etwa Anträge zum Pflegenotstand oder zu einer Parkinsonabteilung der Martin-Luther-Universität zur Debatte.

Ein zeittypischer Tagesordnungspunkt betraf die Verteilung von Gel- dern, die die PDS an das Gesundheits- und Sozialwesen abzuführen hatte: Der Bezirk Halle bekam aus dem ehemaligen SED-Vermögen zum Beispiel rund 35 Millionen Mark für die Psychiatrie, 13 Millionen für die Medizin der Universität und 38 Millionen für die örtlichen Krankenhäuser. Die Arbeitsgruppe sorgte dafür, dass auch die konfes- sionellen Häuser bedacht wurden.

In der „aufregenden, anregenden“ Zeit wurde viel improvisiert und viel bewegt. Vor allem aber wurde die medizinische Versorgung, trotz der Aderlässe, aufrechterhalten. Wie? Durch großen persönlichen Einsatz. Im Grußwort zu jenem Krankenhaustag am 30. April 1990 steht zu lesen:

„Mit einem Rest von Selbstachtung“ dürfe man feststellen, „dass wir auch etwas stolz darauf sein dürfen, dass bei all den unglaublichen materiellen und politischen Engpässen wir überhaupt unseren Standard erreichen und halten konnten“.

Eins aber ärgert Dr. Willms bis heute: Die Auflösung der Fachambulan- zen der Krankenhäuser. Da sei die Chance vertan worden, ambulante und

stationäre Versorgung effektiv zu verzahnen. I

Norbert Jachertz Tagungsort des

Runden Tisches im Bezirk Halle:

Das alte Stadthaus am Marktplatz. Im Vordergrund das Händeldenkmal

Foto: picture-alliance/akg-images

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit2709

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