• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Sucht Der verlorene Kampf?" (08.04.1994)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Sucht Der verlorene Kampf?" (08.04.1994)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

MEDIZIN

1 8. Westdeutsches Psychotherapieseminar, Aachen

Alkoholkrankheiten des Nervensystems

1200 Teilnehmer befaßten sich im Februar 1993 mit den Folgen von Sucht und Abhängigkeit. Viele Fra- gen wurden thematisiert: Zunächst die Alkoholkrankheiten des Nerven- systems (K. Poeck). Hier wurde deut- lich, daß die gesundheitspolitische Diskussion über Alkoholmißbrauch zunächst auf die Zahl der Alkohol- kranken, auf die berufliche Situation, auf die psychologische Struktur und die Wirkung des übermäßigen Alko- holkonsums auf die zwischenmensch- lichen Beziehungen Einfluß hat. Viel zu wenig wird bedacht, in welcher Form der regelmäßige, mäßige, über- mäßige Alkoholkonsum über die all- gemeinen Folgen der Abhängigkeit hinaus Organkrankheiten zur Folge haben kann. Auch Ärzten ist in der Regel das ganze Spektrum der alko- holbedingten Organkrankheiten nicht bekannt So werden Frühsym- ptome allzu leicht übersehen, toxisch bedingte oder indirekt über Ernäh- rungsstörungen verursachte Schädi- gungen des Nervensystems nicht er- kannt Auch der akute Entzug von Alkoholika bei länger dauernder Ge- wöhnung und dem damit verursach- ten Delirium tremens ist weniger be- kannt, als es notwendig wäre; ein le- bensgefährdender Zustand, der in- tensivmedizinisch behandelt werden muß.

Alkoholmißbrauch steht an drit- ter Stelle der Ursachen einer Poly- neuropathie und wird durch eine all- gemeine Mangelernährung und spe- ziell einem Mangel an Vitamin B 1 be-

KONGRESSBERICHT

ziehungsweise Vitamin B12 hervorge- rufen. So verursacht der Vitamin-B 1

-Mangel die Wernicke-Enzephalopa- thie, die durch okulomotorische Stö- rungen, schwere Ataxie und Desori- entiertheit charakterisiert ist. Auch die Spätatrophie der Kleinhirnrinde ist eine seltene und wenig bekannte Folge des Alkoholmißbrauchs. Um- stritten ist auch heute noch die Fra- ge, ob es eine alkoholbedingte Hirn- atrophie gibt. Sicher ist, daß bei kur- zer oder mittelfristiger Dauer des Al- koholkonsums eine Hirnvolumen- minderung eintreten kann, die aber nach Absetzen der Alkoholzufuhr re- versibel ist.

Die Möglichkeiten der Therapie von Alkoholkrankheiten des Nerven- systems sind begrenzt; wichtigste Maßnahme ist die Einschränkung des Alkoholmißbrauchs. Die Tole- ranz der Gesellschaft gegenüber die- sem steht in einem überraschenden Gegensatz zu der Haltung gegenüber anderen Suchtmitteln.

Leben mit Abhängigkeit - Verlorene Siege?

war das Thema von K. Wanke (Homburg). „Sucht ist ein unabweis- bares Verlangen nach einem be- stimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beein- trächtigt die freie Entfaltung der Per- sönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen eines Individuums." Der menschliche Trieb kann süchtig entarten: „Jede Leidenschaft, jedes menschliche In- teresse überhaupt." So spricht man ja auch von den nicht-stoffgebundenen Suchtformen, wie zum Beispiel Ar- beitssucht, Spielsucht, Stehlsucht und anderen. Die seelische Suchtent- wicklung führt schließlich zur „Sucht- haltung" oder „süchtigen Fehlhal- tung". Kommt es zum körperlichen Entzug, bedeutet das noch lange nicht, daß damit auch eine seelische Entwöhnung stattgefunden hat: Es ist ein lebenslanges Problem, eine dauernde Aufgabe der Daseinsbe-

wältigung, die dann auch einen we- sentlichen Teil der Therapie und der Arbeit in der Selbsthilfegruppe dar- stellt.

Ein weiterer Aspekt in Wankes Vortrag galt der Bedeutung von Dro- gen und Alkohol für die psychische Entwicklung bei Jugendlichen. Rei- fung ist an die Bewältigung von Kon- flikten gebunden; hier sind es psy- chotrope Stoffe, die verhindern, in- nere und äußere Konflikte zu erle- ben und zu gestalten. In unserer Ge- sellschaft gelten auch heute noch für Jungen und Mädchen unterschiedli- che Normen und Regeln, was den Umgang mit Alkohol betrifft: Wäh- rend Mädchen gesellige Mittrinke- rinnen sein sollen, aber keinesfalls im Alkoholkonsum ein Ventil zum Aus- leben von unterdrückten Wünschen und Bedürfnissen suchen dürfen, ge- stattet man Jungen durchaus, daß sie im Rausch männliche Phantasien un- ter Alkoholeinfluß abreagieren kön- nen.

Wanke spricht auch vom „Ent- wicklungsstreß", der dann vorliegt, wenn die Gesamtheit des Wissens und der verfügbaren Strategien eines Jugendlichen nicht mehr ausreichen, eine Entwicklungsaufgabe oder de- ren Teilschritte zu bewältigen. Ab- weichendes Verhalten (wie zum Bei- spiel Drogenkonsum) kann eine Ant- wort auf Entwicklungsprobleme dar- stellen. „Der Gefährdungsgrad eines jungen Menschen kann intraindividu- ell schwanken." In langfristigen Stu- dien konnte aber auch gezeigt wer- den, daß über die Hälfte von jungen Erwachsenen, die einmal als Pro- blemtrinker eingestuft waren, dieses Trinkmuster später nicht mehr zeig- ten. So kann auch Drogengebrauch, wenn er eine der vielen möglichen Facetten der Jugendentwicklung dar- stellt, eine Episode bleiben. Als Hil- fen sind hier Jugendberatung statt Drogenberatung gefragt. Jugendliche mit unvollständiger Ausbildung zei- gen die schwersten Gebrauchsmuster und die höchsten Gebrauchsraten für alle untersuchten Drogen. Das macht deutlich, welche Wertigkeit der Ju- gendberatung zukommt Aber auch andere Sichtweisen können die Mög- lichkeit der Drogenabhängigkeit ver- deutlichen: So zum Beispiel der Ver- lust der Fähigkeit sich zu freuen, ein

Sucht Der verlorene Kampf?

A-974 (46) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 14, 8. April 1994

(2)

MEDIZIN

Erleben, das den meisten psychiatri- schen Patienten fehlt.

Der Suchtstoff mag vielleicht vorausgegangene Unlust beseitigen, das Erleben von Glück und Freude erzeugt er aber nicht. Eine Untersu- chung von alkoholabhängigen Pa- tienten im Vergleich zu anderen zeigte die Alkoholiker als eine stark homogene Gruppe, die sich durch ein besonderes Maß an Ich-Schwä- che auszeichnete (Heigl-Evers und Standke). Interessant ist, wie sich die Bewertung von Abstinenz und des Rückfalls geändert hat: Weiterhin gilt auch das Erreichen der Absti- nenz als eine vorrangige Aufgabe, insbesondere im Hinblick auf psy- chotherapeutische Maßnahmen Sie ist aber nicht mehr unverzichtbare Vorschußleistung des abhängig Kranken. Soziale Verbesserungen und motivationale Strategien können auch mit Begleitinterventionen er- reicht werden.

Nicht zu euphorisch sollte man zu der Frage der begleitenden Me- thadonprogramme sein. Substitution als Hilfe zum Ausstieg ist nicht in Wochen und Monaten, sondern eher nach Jahren zu bemessen. Die Hauptgefahr der Programme ist in ihrer „Verwahrlosung" im Sinne von Aufweichung und unkontrollierter Vergabe zu sehen (Wanke). Die sachgerecht durchgeführte Substitu- tion ist nicht das Problem, sondern eher die unkontrollierte Verschrei- bung von Ersatzdrogen durch Ärzte, ohne eine begleitende therapeuti- sche Maßnahme durchzuführen.

Entscheidend ist für den abhän- gig Kranken, ihm zu helfen, wenn er nach einem Abstinenzverstoß sich mit seinen Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen nicht auseinander- setzen kann. Sein Verhalten darf kei- nesfalls als persönliches Versagen in- terpretiert werden; das heißt, die Zu- versicht stärken und das soziale Um- feld und das Sozialverhalten koordi- nieren. Einsichtsorientierte und psy- chodynamische Behandlungen kön- nen hier helfen, die Persönlichkeits- bereiche so zu gestalten, daß das Rückfallrisiko beeinflußt wird.

Interessant waren die Behand- lungsergebnisse, die aus einer multi- zentrisch-prospektiven Studie von Küfner und Mitarbeitern an Alkohol-

KONGRESSBERICHT

kranken aus 21 Sucht-Fachkliniken berichtet wurden. Nach 18 Monaten ergab sich eine Abstinenzrate von 53 Prozent und eine Besserungsrate von 8,5 Prozent. Langzeitkatamnesen nach mindestens vier Jahren zeigten Totalabstinenz zwischen 40 und 50 Prozent! Hier zeigt sich die Notwen- digkeit des sachgerechten Umgangs mit dem Rückfall, aber auch der Hin- weis, daß sogenanntes „kontrolliertes Trinken" nur selten über mehrere Jahre konstant durchgehalten wer- den kann.

Auch bei Drogenabhängigkeit ist der Ausstieg möglich: Im Rahmen der Frankfurter „Amsel"-Studie stellte man fest, daß von 324 in den Jahren 1985/86 erstmals befragten Drogenabhängigen 26,6 Prozent vier Jahre später ohne Drogengebrauch lebten. Für 80 Prozent derjenigen, die heute ein Leben ohne Drogen führen, war die stationäre Langzeit- therapie von entscheidender Bedeu- tung.

Bei allen Untersuchungen konnte belegt werden, daß es letzt- lich um die soziale Existenz aus ei- gener Kraft ging, um Wiedereinglie- derung in alle Bereiche des mensch- lichen Lebens, aber auch die zwi- schenmenschlichen Beziehungen zu ermöglichen. „Das System der deut- schen Suchtkrankenhilfe ist im in- ternationalen Vergleich als vorbild- lich anzusehen. Es besteht kein Grund, die deutsche Suchtpolitik für gescheitert zu erklären — aber es bleibt noch viel zu tun" (Wanke).

Sucht und Kreativität

Im Abschlußreferat sprach In- grid Riedel zu dem Thema „Sucht und Sehnsucht — zur Problematik kreativer Menschen". Am Beispiel eines Künstlers, der alle vier bis sechs Monate in einer Phase des Alkohol- abusus verfiel, mit häufigen Versa- gensängsten, Zweifel an künstleri- schem Können und an Selbstwert, machte sie deutlich, wie man den Mut zu seiner schöpferischen Arbeit und seine Identität als schöpferischer Mensch durch psychotherapeutische Interventionen stärken konnte.

Einen ähnlichen Zusammen- hang zwischen schöpferischer Arbeit

und der Möglichkeit, eine Sucht zu überwinden, schilderte sie am Bei- spiel einer Frau, die als vernachläs- sigtes und von der Mutter abgelehn- tes Kind zunächst suchtartig einen Mutterersatz in älteren und zudem kreativ tätigen Frauen suchte und dann — von diesen enttäuscht — in ei- ne Medikamentenabhängigkeit ver- fiel. Zu befreien vermochte diese Pa- tientin sich erst, als sie zu ihrer schriftstellerischen Begabung zu ste- hen und diese zu realisieren wagte;

also das, was sie zuvor bei kreativen Frauen gesucht hatte, selbst in ihr Leben einbringen konnte.

Mit den Beispielen aus der eige- nen Praxis machte die Referentin deutlich, daß es Suchtverhalten gibt, hinter dem sich vor allem eine Sehn- sucht nach schöpferisch erfülltem, le- bendigerem Leben verbirgt. Die Re- ferentin erinnerte aber auch daran, daß Drogeneinnahme (zum Beispiel Marihuana) früher dem religiösen Bereich entstammte und tatsächlich bei den Sinnsuchern der 70er Jahre zu mystischen Erlebnissen führte.

„Es scheint, als biete die Berufswelt der Sehnsucht wenig Nahrung und als sei die Alltagswelt zu einer einzi- gen Ausnüchterungszelle für viele geworden. Die Sehnsucht nach Hin- gabe in Leidenschaft und in Opferbe- reitschaft, an etwas, das über uns hin- ausweist, die Sehnsucht nach schöp- ferischer Mitgestaltung dieses Gan- zen, das heißt, einer Sehnsucht nach Sinn als dem Ziel, aber auch immer wieder neuem Ausgangspunkt le- benslanger Suche. Entzug von der Sucht kann nur dann sinnvoll sein, wenn wir der hinter der Sucht ste- henden Sehnsucht auf die Spur kommen und diese natürlich nicht mitentziehen, sondern zu ihrer Er- füllung beitragen. Nicht der Entzug als solcher, nur die Erfüllung der dahinter stehenden Sucht heilt"

(Riedel).

Professor Dr. med. Waltraut Kruse Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie

Leiterin des Lehrgebietes Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät am Klinikum der RWTH Aachen Kirchberg 4 52076 Aachen A-976 (48) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 14, 8. April 1994

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

In welchen Spitälern im Kanton Bern werden kosmetische Genitaloperationen, Kastrationen und/oder Hormontherapien an Kindern mit uneindeutigen körperlichen

Die Frage nach einem Bruch zwischen Israel und der Diaspora ist insbesondere im US-Wahljahr 2020 spannend: Zwar ist unter der Trump-Regie- rung klar geworden, dass es bei

Auch ältere Menschen nehmen diese Stoffe in der Regel über eine ausgewogene Ernährung auf, obwohl es manchmal pha- senweise auch zu einer Mangel- versorgung kommen kann.. Die

lichkeit geregelt, dass die Apothekenleitung eine betriebsbedingte Kündigung ausspricht und gleichzeitig der gekündigten PTA eine Abfindung in Höhe eines halben

gegen bahnt sich die Erkältung über zwei bis drei Tage an, wobei sich die Symptome nach und nach verstärken bevor sie nach etwa einer Woche wieder nachlassen. Die Erkältung sowie

Beim Campus Bern gibt es jetzt aber ein paar Ansätze, bei denen wir der Meinung sind, man müsse sich das noch einmal anschauen und überprüfen, ob Holz da eben der richtige

Doch es zeigte sich, dass ein Ersatz von Palmöl einen massiv erhöhten Flächenbedarf zur Folge hätte, weil die anderen Öle nicht so ertragsreich sind.. Würde man Palmöl durch

Gegenanzeigen: Bekannte Überempfi ndlichkeit gegen den Wirkstoff Chlorhexidinbis(D- gluconat), den Farbstoff Ponceau 4R (E 124), Zimt (gilt auch für Perubalsam: Kreuzallergie)