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Archiv "Interview: Waldorfschulen – Selbstbewusst ins Leben" (24.01.2003)

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Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 424. Januar 2003 AA209 DÄ:Was ist der Hauptunter-

schied zwischen einer Wal- dorfschule und einer Regel- schule?

Pühler: Rechtlich sind Wal- dorfschulen in Deutschland staatlich anerkannte Ersatz- schulen, an denen die Schüler zwar nicht nach einem staatli- chen Lehrplan unterrichtet werden, aber doch staatlich anerkannte Abschlüsse ma- chen. Doch weil der Staat die- se Schulen in freier

Trägerschaft nur un- zureichend finanziell unterstützt, müssen Eltern – neben ihrem sozialen Engage- ment in der Schule – sich auch finanziell an den Kosten betei- ligen. Der Betrag hierfür wird im Ein- zelfall abgesprochen, sodass es nicht dazu kommen muss, dass ein Kind aus finanzi- ellen Gründen abge- lehnt wird. Jede Wal- dorfschule ist eigen- ständig und auch

wirtschaftlich für sich selbst verantwortlich. Sie entschei- det über Personal- und Ge- haltsfragen und in gewissem Rahmen auch über das Schul- profil, zum Beispiel welche Fremdsprachen unterrichtet und welche Abschlüsse ange- boten werden.

Als Schule „besonderer pädagogischer Prägung“ blei- ben die Schüler einer Waldorf- schule von der ersten bis zur 12. Klasse in ihrem Klassen- verband zusammen, Sitzen- bleiben gibt es nicht, Zensuren erst im Vorfeld der Abschlüs- se. Der Lehrplan ist viel brei- ter als an einer staatlichen Schule, viele Projekte und Praktika gehören dazu, eben- so wie künstlerisch-handwerk- liche Fächer. Die Waldorf- pädagogik sieht ihr Ziel nicht darin, so früh wie möglich so viel Wissen wie möglich zu vermitteln. Vielmehr versteht sie ihren Auftrag ganzheitlich:

Die körperliche, emotionale, soziale und kognitive Ent- wicklung eines Menschen braucht Zeit und verläuft indi- viduell unterschiedlich. Die Schule als Ganzes, die Lehrer und insbesondere die Klassen- lehrer, die ihre Schüler über viele Jahre intensiv begleiten, sollen diesen Prozess der Entfaltung der Fähigkeiten und Fertigkeiten unterstüt- zen, indem sie darauf achten, welche Inhalte die jungen Menschen in welcher Phase ihrer Entwicklung brau- chen.

DÄ:Waldorfschulen sind bekannt für ihre Theater- und Musik- aufführungen und die Basare, bei denen die Kunstwerke der Schüler ausgestellt werden. Warum wird so viel Wert auf künstlerische Betäti- gung gelegt?

Pühler: Weil die Wal- dorfpädagogik da- von ausgeht, dass der Mensch, um in der Welt verantwor- tungsvoll bestehen zu können, nicht nur den Verstand, son- dern auch seine sozialen und kreativen Fähigkeiten ent- wickeln muss. Im künstleri- schen Prozess lernen die Kin- der, sich mit einer Sache und einem Inhalt zu verbinden. Sie müssen etwas tun, wenn sie et- was gestalten oder verändern wollen. So wie sie den Lehm in die Hand nehmen und formen können. Dass das Künstleri- sche oder Handwerkliche in der Schule nicht nur überflüs- siger Luxus ist, hat auch die Wirtschaft erkannt: Die krea- tive Kompetenz wird bei der Personalauswahl immer wich- tiger.

Aber es gibt auch noch eine andere Argumentation: Im- mer mehr Untersuchungen belegen, dass die Entwicklung der körperlichen, sozialen und kreativen Fähigkeiten auch et-

Interview: Waldorfschulen

Selbstbewusst ins Leben

Susanne Pühler vom Bund der Frei- en Waldorfschulen e. V. in Stuttgart

gibt einen Überblick über die

Besonderheiten.

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Foto:privat

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A210 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 424. Januar 2003

was mit der geistigen Beweg- lichkeit zu tun hat.

DÄ: Eurythmie ist ein Wal- dorf-spezifisches Fach. Wor- um geht es dabei?

Pühler: Eurythmie ist eine Be- wegungskunst, bei der Laute oder Musik in Bewegung um- gesetzt werden. Man hört also nicht nur akustisch ein Ge- dicht oder eine Musik, son- dern versucht, die Empfindun- gen, die damit verbunden sind, in sichtbare Bewegung umzu- setzen. Das innere Erleben wird aktiv und künstlerisch nach außen gestellt. Das ist ein moderner sozialpädagogischer Ansatz.

Die Eurythmie im Schulun- terricht leistet aber noch etwas anderes: Das Kind erfährt sich in seinem Umkreis, es nimmt seinen Körper im Raum wahr.

Wenn Sie wissen, dass Kinder, die normalerweise einen Rund- umblick von etwa 200 Grad hatten, heute oft nur noch ein

Blickfeld von 100 Grad haben, dann sehen Sie, dass diese Raumeswahrnehmung stark beeinträchtigt ist. Das liegt an zu hohem Fernsehkonsum im frühen Kindesalter, aber auch daran, dass Kinder zu wenige sinnliche Erfahrungen ma- chen. Dann wundern wir uns, dass sie nicht mehr balancie- ren, seilhüpfen oder rückwärts gehen können. Wer sein äuße- res Gleichgewicht nicht halten

kann, hat auch Probleme mit der seelischen Balance.

DÄ: Charakteristisch für die Waldorfschulen ist, dass es kei- ne Zensuren gibt. Ist das nicht für die Schüler ein wichtiger Maßstab, damit sie wissen, wo sie stehen?

Pühler: Stimmt, Schüler müs- sen wissen, wo sie stehen und was sie geleistet haben. Aber die Waldorfpädagogik hält Zensuren für ungeeignet.

Zahlen zwischen 1 und 5 kön- nen kein differenziertes Bild über die Leistung eines Schülers in einem Fach geben.

Denn die besteht nicht nur darin, wie viel er gewusst hat.

Dazu gehört auch, wie viel Einsatz er gebracht hat, wie viel er hätte geben können, wie sehr er sich angestrengt und beteiligt hat, ob er andere Schüler dabei in die Ecke ge- drückt oder mitgenommen hat. In der Waldorfschule ha- ben deshalb Lehrer die Aufga-

be, eine ausführliche schrift- liche Beurteilung ihrer Schü- ler abzugeben, in der all das berücksichtigt ist, einschließ- lich der bestehenden Defizite oder Aufgabenstellungen für die nächste Zeit. So kann ei- ne wirkliche Würdigung der Schülerleistung stattfinden.

DÄ:Was bedeuten die Zeug- nissprüche, die die Schüler er- halten?

Pühler: In den unteren Klas- sen fasst der Klassenleh- rer seine Beobachtungen in einem kleinen Gedicht, ei- nem Zeugnisspruch, zusam- men. Diesen lernt das Kind auswendig. Er begleitet es durch das ganze Schuljahr; im nächsten Jahr erhält es einen neuen. Sie können sich das wie einen Knoten im Taschentuch vorstellen: Damit wird das Kind regelmäßig an die er- reichten Leistungen, aber auch an die noch offenen Auf- gaben erinnert.

Der Anthroposoph Rudolf Steiner gründete 1919 die erste Waldorf- schule in Stuttgart. Die Idee dazu hatte Emil Molt, der fortschrittli- che und sozial engagierte Besitzer der Waldorf-Astoria Zigarettenfa- brik, der eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter einrichten wollte.

Waldorfschulen sind inzwischen die größte von Staat und Kirche unabhängige Schulbewegung.

Weltweit gibt es 845 Waldorfschu- len, in Deutschland sind es derzeit 185 mit über 72 000 Schülern.

Jährlich kommen weitere hinzu.

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Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 424. Januar 2003 AA211

DÄ:Im Rahmen der PISA-Dis- kussion haben sich viele gegen das Sitzenbleiben ausgespro- chen. Welche Auffassung ver- treten die Waldorfpädagogen?

Pühler: Sitzenbleiben gibt es in Waldorfschulen nicht. Denn ein ganzes Jahr zu wiederho- len ist meistens nutzlos. Der Schüler empfindet es als Stra- fe und Diskriminierung: Er wird aus dem alten Klassen- verband herausgeworfen und ist im neuen ein Fremdkörper.

Die Alternative ist, dass der Lehrer ein Kind, das vorüber- gehend eine Schwäche hat, besonders fördert. Er muss pädagogisch fähig sein, dem Kind so zu helfen, dass es nicht außerhalb des Klassenverban- des gestellt wird. Dazu gehört auch, es in seinen Stärken zu würdigen. Die Mitschüler er- leben so, dass niemand nur

Schwächen, sondern jeder Mensch irgendwo Stärken und woanders Defizite hat.

DÄ:Der Waldorflehrplan en- det mit dem 12. Schuljahr und dem Waldorf-Abschluss. Wel- che Möglichkeiten hat ein Schüler,der Abitur machen will?

Pühler: Je nach Schulprofil ist mit dem Abschluss nach zwölf Jahren Waldorfschule auch der Realschul- oder sogar der Fachhochschulabschluss ver- bunden. Danach findet in der Waldorfschule ein zusätzliches Jahr statt, in dem sich die Schüler auf die Anforderungen an das staatliche Abitur vorbe-

reiten. Das heißt, sie müssen teilweise richtig büffeln, weil die Lehrpläne doch sehr unter-

schiedlich sind. Dennoch ist die Abiturientenquote an den Waldorfschulen höher als an staatlichen Schulen. (Anmer- kung der Redaktion: Im Jahr 2000 wurden 47 Prozent der Waldorfschüler mit Abitur ent- lassen, im Vergleich zu 24,5 Prozent von staatlichen allge- mein bildenden Schulen. Quel- le: Statistisches Bundesamt.) DÄ:Wie ist das zu erklären?

Pühler: Die Waldorfschüler haben ein solides Fundament

bekommen. Sie haben ge- lernt, in Zusammenhängen zu denken und zu handeln und sich intellektuell, sozial und kreativ entwickeln zu können – warum sollen sie nicht am Ende der Schulzeit ein wenig Stress überstehen können?

Immer noch besser, ein Jahr lang Prüfungsdruck zu haben als über die gesamte Schul- zeit.

DÄ-Fragen: Petra Bühring

„„W Waalld do orrffsscch hü ülleerr h haab been n eeiin n aau ussg geep prrääg gtteess S Seellb bsstt-- b

beew wu ussssttsseeiin n,, g geep paaaarrtt m miitt S So ozziiaallk ko om mp peetteen nzz..““

Susanne Pühler, Bund der Freien Waldorfschulen e.V.

Informationen:

Bund der Freien Waldorfschulen Heidehofstraße 32, 70184 Stuttgart Telefon: 07 11/2 10 42 0 Fax: 07 11/2 10 42 19 E-Mail: info@waldorfschule.de Internet: www.waldorfschule.de www.waldorf.net

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