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ie Frage nach dem Sub- jekt gehört zu den zen- tralen Diskursen unserer Zeit seit Beginn der Moderne und ist durch grundlegende Umbrüche und damit durch eine zunehmende Verunsiche- rung geprägt. Die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts brachten mit der zweiten feministi- schen Bewegung eine grund- legende Infragestellung der tradierten Rollenmodelle, und der postmoderne Diskurs de- konstruierte das Subjekt zu„Patchwork“-Identitäten, die keine Einheit mehr bilden. Im Zuge der allgegenwärtigen Präsenz der Massenmedien sowie der rasanten Entwick- lung der Informationstechno- logie in den letzten Jahren fin- det sich der Mensch heute schiffbrüchig im Meer der Möglichkeiten zwischen Su- perstar und Cyberidentität.
Auch das Verhältnis von Indi- viduum und Gesellschaft be- findet sich im Umbruch.
Künstler haben die Frage nach dem Subjekt vielfältig reflektiert. Seit einigen Jah- ren wird dies auch von Kura- toren zunehmend wahrge-
nommen und in sehenswerten themenbezogenen Ausstel- lungen umgesetzt. Zurzeit zeigt die Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum in Duis- burg unter dem Titel „Takti- ken des Ego“ zeitgenössische künstlerische Positionen am Beginn des 21. Jahrhunderts zum Thema „Ich“.
Video, Skulptur und Malerei 16 internationale Künstler und Künstlerinnen aus Deutsch- land, Frankreich, Österreich, Großbritannien, Niederlande und den USA haben die bei- den Kuratorinnen Dr. Sabine Maria Schmidt und Cornelia Brüninghaus-Knubel ein- geladen, ihre recht unter- schiedlich motivierten Ar- beiten zu präsentieren.
Medien sind vor allem Video, Skulptur und Ma- lerei, wobei dem klassi- schen Selbstporträt kei- ne Bedeutung zukommt.
Vielmehr reflektieren die ausgestellten Arbeiten Selbstentwürfe, Befindlichkei- ten und Möglichkeiten des Selbst. Zeitbasierte Arbeiten
stellen den größten Anteil an Exponaten, aber die Ausstel- lung zeigt auch eine Vielzahl plastischer Arbeiten und In- stallationen sowie geradezu
„traditionell“ anmutende Ta- felbilder voller Entlehnun- gen aus der Kunstgeschichte (Muntean/Rosenblum).
Das Spektrum reicht vom Selbstkonstrukt bis zur Selbstauslöschung. Innenwel- ten werden nach außen proji- ziert und das Selbst in zahl- lose Rollen multipliziert.
Heute tendiert man dahin, die äußere körperliche Grenze („Haut-Ich“) auch als die Grenze des Selbst zu verste- hen, stellte der Neurophysio- loge und Philosoph Prof. Dr.
Detlev B. Linke, Bonn, im ausstellungsbegleitenden Sym- posium fest, dennoch gibt es vielerlei Ansätze, diese Gren- ze auszudehnen.
Der US-amerikanische Vi- deo-Künstler Bill Viola etwa versucht im Selbstexperi- ment „Nine Attempts to Achieve Immortality“ Un- sterblichkeit zu erlangen, in- dem er unter Beobachtung der Videokamera die Luft so lange wie eben möglich an- hält, um die Grenzen des kör- perlich Möglichen zu über- winden. Das Experiment er- weist sich als außerordentlich ansteckend für den Zuschau- er, der versucht ist, Violas Ex- periment am eigenen Leib mitzuvollziehen. Allerdings begibt sich Viola in kritische Grenzbereiche.
In Mathilde Ter Heijnes Ar- beit steht das Selbstopfer im Mittelpunkt. In der Videoin- stallation „Small things end, great things endure“ schlüpft die Künstlerin in die Rolle der Mutter in Uwe Johnsons Ro-
man „Jahrestage“, die ent- schieden hat, die kollektive Schuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten zu sühnen, indem sie sich selbst ver- brennt. In einer anderen Arbeit präpariert sie sich selbst als Sprengstoffattentä- terin an einer Bushaltestelle und sprengt sich dann in Form einer lebensechten Puppe vor laufender Kamera in die Luft.
Die freiwillige Selbstauslö- schung negiert den Wert indi- viduellen Lebens.
Kommunikation und Selbstbefragung
Ein weiteres Thema ist Kom- munikation und Selbstbefra- gung. Die britische Künstlerin Tracey Emin stellt sich in
„The interview“ zur Rede und rechtfertigt sich vor sich selbst.
Dabei sitzt sie sich scheinbar als zwei verschiedene Perso- nen auf einer Couch im Ate- lier gegenüber. Der Brite John Davies bringt nur auf den er- sten Blick realistisch erschei- nende Figuren in unbestimm- te Situationen. Die zugrunde liegende Handlung wird dem Betrachter unerklärlich. Der niederländische Künstler Mark Manders zeigt Objekte aus seinem „Selbstporträt als Ge- bäude“, einem Konstrukt, an dem er seit vielen Jahren ar- beitet, und Lorna Simpson, USA, beschäftigt sich mit den Gesten des Telefonierens.
„Taktiken des Ego“ ist nicht als theoretisierende Ausstel- lung gedacht. Zu sehen ist viel- mehr eine Vielfalt künstleri- scher Ansätze zum Thema
„Ich“, die Erfahrungsräume eröffnen will. Die Ausstellung ist bis zum 31. August 2003 geöffnet. Elke Bartholomäus V A R I A
A
A2094 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 31–324. August 2003
Wilhelm Lehmbruck Museum
Taktiken des Ego
Zeitgenössische künstlerische Positionen am Beginn des 21. Jahrhunderts zum Thema „Ich“
Informationen: Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum, Zentrum Internationaler Skulp- tur, Friedrich-Wilhelm-Straße 40, 47049 Duisburg, Telefon:
02 03/2 83 32 94, Fax: 2 83 38 92, E-Mail: info@lehmbruckmuseum.de, Internet: www.lehmbruckmuseum.de
John Davies: O.T. (Zwei Figuren), 1974–77
Fotos:Katalog
Mathilde Ter Heijne: Small things end, great things endure (Video Still), 2001 Feuilleton