4. MAI-BEWEGUNG 1919: DISKUSSIONEN ZUR THEATERREFORM
von Bernd Eberstein, Hamburg
Nach einigen ersten Versuchen der Einführung eines neuen Theaters, in denen
bereits wesentliche Merkmale der Theaterentwicklung späterer Jahrzehnte hervor¬
traten (bes. das Aufgreifen ges. und pol. Gegenwartsprobleme in reformerischer
oder revolutionärer Absicht, ein ausgeprägtes erzieherisches Element), muß die
4. Mai-Bewegung als eigentlicher Beginn der Theaterreform in China gelten. In ihrer
Absicht, Bildung und Literatur aus ihrer elitären Enge herauszuführen und Medien
einer modernen Massenkultur zu schaffen, galt vielen ihrer Vertreter das Theater als
besonders wichtig: es war seit jeher sehr populär; es konnte auch einen großen Teü
derer, die von jeder Bildung ausgeschlossen mit keinem anderen Kommunikations¬
mittel erreichbar waren, ansprechen und ihnen neue Gedanken und Normen nahe¬
bringen.
Zwei Hauptmerkmale der Theaterdiskussionen des 4. Mai sind hervorzuheben:
1. Ablehnung des trad. Musiktheaters;
2. Fordemng nach einem Sprechtheater nach europäischem Vorbild.
Zu 1) Die Ablehnung des Musikschauspiels erscheint zunächst überraschend,
denn ein erklärtes Ziel des 4. Mai war die Aufwertung der trad. volkstümHchen
Kunstformen; Romane wie das Shui-hu zhuan und das Hong-lou meng erfuhren eine
positive Bewertung. Im Gegensatz zu den Romanen aber bot das MusUcschauspiel
keine realistische, kritische Beschreibung des gesellschaftlichen Lebens; seine starre Form (Musik, Symbolismus, formalisierte Darstellung, Masken) war für eine realisti¬
sche Darstellung nicht geeignet. Fu Si-nian: , J«Jicht Leben wird dargestellt, sondern Rollen werden dargesteUt." (,Xi-ju gai-liang ge-mian guan", Xin qing-nian V, 4, 322 ff.)
Außer solchen Argumenten, die sich auf die Form bezogen, wurden gegen das
Musiktheater noch inhaltliche und evolutionstheoretische Argumente vorgebracht.
Als ein Produkt der alten GeseUschaft verherrliche es Tyrannen, Eunuchen, macht-
und geldgierige Beamte, Krieg und Verrat, Unterdrückung des Volkes etc. Da man
die ake Gesellschaft bekämpfe, müsse man also auch ihr Theater ablehnen. Bemer¬
kenswert ist die Anwendung der unter damaligen chinesischen Intellektuellen ver¬
breiteten Evolutionstheorie auf die Entwicklung des Theaters. Zhou Zuo-ren nannte
das MusUctheater „wüd", „primitiv" (ye-man), betonte aber, das sei nicht als Her¬
abwürdigung zu verstehen, sondern als Kennzeichnung eines bestimmten Entwick¬
lungsstadiums. Er sah das Musiktheater auf der gleichen Stufe wie die Tänze man¬
cher afrikanischer Negerstämme (XQN V,5,S. 526). Hu Shi entwickelt in dem Auf¬
satz „Der Evolutionsstandpunkt in der Literatur und die Theaterreform" (,, Wen¬
xue jin-hua-guan-nianyu xi-jugai-liang",XQN V, 4, 308- 2Ö) vier Bedeutungsebenen seines Begriffs des Evolutionsstandpunkts:
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
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a) „Literatur ist eine Erscheinung des menschhchen Lebens; da dieses sich mit
der Zeit ändert, ändert sich auch die Literatur; jedes Zeitalter hat seine eigene Lite¬
ratur."
b) Eine literarische Gatmng wird bei ihrer Entwicklung manchmal auf halbem
Wege aufgehalten, kann sich nicht frei entfalten. Das Theater im Westen konnte sich frei entfalten, das chinesische dagegen nicht.
c) Jede Literatur enthält auf einer jeweiligen Entwicklungsstufe viele unnütze
Überreste aus der vorangegangenen Entwicklung, die Rudimente (yi-xing-wu). Zur
Yüan- und Ming-Zeit habe sich auch das chinesische Theater in Richtung auf ein
Sprechtheater entwickelt, sei aber später behindert worden. Als Rudimente sieht
Hu Shi die Musik, die Masken, Bühnenbewegungen u.a. charakteristische Elemente
des Musiktheaters an.
d) Manchmal kann sich eine Literatur nur im Kontakt mit Einflüssen von außen
weiterentwickeln. „Nur wenn es Leute gibt, die (das westl. Theater) bescheiden
studieren, die dessen Vorteile aufnehmen, um die eigenen Mängel zu beseitigen, die
alle Formen von Rudimenten aus alten Zeiten abschaffen und den im Westen in den
letzten 100 Jahren unausgesetzt entwickelten neuen Standpunkt, die neuen Metho¬
den und neuen Formen anwenden, nur dann kann es Hoffnung auf die Reform und
den Fortschritt des chinesischen Theaters geben."
Die Ablehnung des Musiktheaters gipfelte in der Regel in der Forderung nach
dessen Abschaffung. Nur ganz vereinzelt wurde für eine Beibehaltung bei gleichzeiti¬
ger Reform plädiert. Z.B. entwickelte Ouyang Yu-qian schon damals Gedanken, die
erst Jahrzehnte später Bedeutung erlangten: das trad. Musiktheater sollte (nach dem Vorbild des westlichen Theaters) Probleme des gegenwärtigen Lebens in leichtver¬
ständlicher Sprache und Form darstellen.
Zu 2) Ein Theater, das diesen Namen verdient, sahen die Intellektuellen der
4. Mai-Bewegung nur im Sprechtheater Europas. Dessen Etablierung in China hatte
zwei Seiten: 1. Übersetzung europäischer Stücke, 2. Schaffung eigener chinesischer
Stücke. Letzteres wurde übereinstimmend als die wichtigste Aufgabe angesehen.
Die zu schreibenden Stücke sollten ihre Handlung aus der Gegenwart nehmen und
alltägliche, vertraute Probleme und Personen vorstellen. Gute Taten alltäglicher
Menschen könnten am wirksamsten der Erziehung, schlechte Taten der Warnung
dienen. (Fu Si-nian in XQN V, 4,349—60; hier zeigt sich die Ungebrochenheit der
zentralen Fordemng der konfuzianischen Literaturtheorie auch bei den Anti-Kon-
fuzianern des 4. Mai: Literatur solle „zum Guten ermahnen und Böses korrigieren";
vgl. bereits Zuo-zhuan, J. Legge: The Chinese Classics, V, Hongkong 1872, S.384.) Die Stücke sollten das Interesse des Publikums für Probleme und seine Kritikfähig¬
keit wecken.
Solange es aber noch keine geeigneten chinesischen Stücke gebe, soUten über¬
setzte Stücke gespielt werden. Immer wieder wurde jedoch betont, daß das Über¬
setzen und Aufführen europäischer Stücke nur ein vorübergehender Notbehelf sein
könne. Europäische Stücke könnten als VorbUd, nicht aber als Ersatz gelten. Eine
sehr rege Beschäftigung mit dem europäischen Drama setzte ein; dabei fanden alle
damals in Europa vertretenen Richtungen Beachtung, vom raffiniert konstruierten,
aber inhaltlich leichten VaudevUle eines Scribe bis zu den großen Dramen Ibsens,
vom bissigen Salonstück eines WUde bis zum symbolistischen Drama Maeterlincks.
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Den größten Einfluß auf das chinesische Sprechtheater aber übte Ibsen aus. Ihm
wurde 1918 ein Sonderheft der ,J^euen Jugend" gewidmet, das von Hu Shi mit
dem programmatischen Aufsatz „Ibsenismus" (Yi-bu-sheng-zhu-yi, XQN IV, 6)
eingeleitet wurde. Unter Ibsenismus verstand Hu Shi dreierlei: die realistische Be¬
schreibung der Familie,besonders der Lage der Frau; die Fähigkeit des Individuums, sich von allen gesellschaftlichen Fesseln zu befreien, offen und ohne Rücksichten
die Realität zu beschreiben und Mängel anzuprangern; die Absicht aufzurütteln,
Erkenntnisprozesse und vielleicht sogar politische Prozesse einzuleiten.
Die Theaterdiskussionen des 4. Mai spielten sich lange nur in Intellektuellen¬
kreisen ab, die keinerlei praktische Verbindung zum Theater hatten. Erst 1920
wurde von dem Schauspieler, Regisseur und Dramatiker Wang Zhong-xian in Shang¬
hai die Aufführung eines ,J'roblemstücks" (wen-ti-xi) im Sinne der Ideen des 4. Mai auf die Bühne gebracht: Shaw's „Frau Warren's Gewerbe". Es zeigte sich gleich, wie
weit die intellektuelle Bewegung über den Bewußtseinsstand ihrer sozialen Umwelt
hinausgeschossen war: die Aufführung war ein vollkommener Mißerfolg. Dennoch
war sie von großer Bedeutung, da sie eine Debatte über praktische Probleme des
neuen Theaters auslöste. Vor allem 2 Fragen wurden diskutiert:
1. Das Verhältnis zwischen erzieherischer Funktion des Theaters und seiner
Unterhaltungsfunktion. Betont wurde, daß man keinesfalls die Unterhaltungsfunk¬
tion vernachlässigen dürfe, da ein trockenes Verkünden bedeutender Prinzipien von
der Bühne herab lediglich dazu führe, daß die Zuschauer wegblieben.
2. Der kommerzielle Betrieb des neuen Theaters. Für die Existenz kommerziell
betriebener professioneller Gruppen des neuen Theaters war noch kein ausreichen¬
des Publikum vorhanden; die spezifischen Zwänge, unter denen diese Gmppen stan¬
den (Rücksichtnahme auf den Geschmack des breiten Publikums) ertaubten es
ihnen außerdem nicht, zur Emeuemng des Theaters beizutragen. Die einzige Mög¬
lichkeit zu einer praktischen Verwirklichung des neuen Theaters sah man daher in
Amateurgmppen (s. vor allem Wang Zhong-xian in der Zeitschrift Xi-ju, Shanghai
1921-22).
Die 4. Mai-Bewegung formulierte zum ersten Mal eingehend die Bereiche, in
denen sich die gesamte Theaterdiskussion der folgenden Jahrzehnte bewegte: kriti¬
sche Auseinandersetzung mit dem trad. Musikschauspiel, Einführung des Sprech¬
theaters. Dabei eilte sie zunächst aber ihrer Zeit weit voraus; erst in den 30er Jahren
konnten viele der geäußerten Vorstellungen in größerem Maßstab verwirklicht
werden.
KAISERINNEN UND KAISERLICHE NEBENFRAUEN AM MING-HOFE
von Peter Greiner, Freiburg
Nach konfuzianischer Lehre soll der Himmelssohn zuerst den Bereich seiner
Familie ordnen, dann wird er fähig sein, das ganze Reich zu regieren. Die amtliche chinesische Geschichtsschreibung der Kaiserzeit, die gewöhnlich nur der öffentli¬
chen Wirksamkeit großer Persönlichkeiten ihre Aufmerksamkeit widmete, trug mit
den Biographien über die Kaiserinnen und Kaiserlichen Nebenfrauen (hou-fei) im
Sinne dieser Lehre der Bedeutung der Famihe Rechnung, um auch hier durch Lob
und Tadel verbindliche Maßstäbe zu setzen. Das auch in diesem Teil der Geschichts¬
werke vorgegebene Schema vom vorbildlichen Herrscher am Anfang einer Dynastie
und dem untauglichen am Ende wird in den Biographien der Frauen am Kaiserhofe
in der Ming-Geschichte (Ming-shih) nur sehr behutsam angewandt, da die Vorbild¬
lichkeit des Hausgesetzes der Ming herausgestellt werden sollte.
Der erste Ming-Kaiser T' ai-tsu ließ in Anbetracht des unter früheren Dynastien
durch Frauen verursachten Unheils (nü-huo ic-^-^ ) angeblich eine Tafel im
Palast aufstellen, um die Frauen ständig an das Verbot zu erinnern, sich in die Re-
giemngsangelegenheiten einzumischen. Er ließ den Schriftwechsel der Frauen durch
ein Eunuchenamt kontrollieren und die Übermittlung von Privatbriefen aus dem
Palast zur Außenwelt mit der Todesstrafe bedrohen. Von den beiden großen Grup¬
pen im Palast war die der Eunuchen derjenigen der Frauen zahlenmäßig weit über¬
legen. Zu Anfang der Ming-Dynastie sollten beide Gruppen noch vergleichsweise
klein gewesen sein; zu Ende der Ming-Zeit gab es bis zu 9.000 Frauen im Palast,
während die Zahl der Palasteunuchen vor 1500 bereits 10.000 erreichte und sich bis
zum Ende der Dynastie im Jahre 1644 auf 70.000 erhöhte.
Die Zahl der Frauen im Palast war auch am Anfang schon groß genug, um eine
hierarchische Gliedemng erforderlich werden zu lassen. — Die untere Gmppe der
Palastfrauen wurde als ,Jcung-jen" ( 2"/, , Palastfrauen), „kung-pei" ( , Pa¬
lastmägde) oder auch als „tu-jen" ( sfC^ , gewöhnliche Frauen) bezeichnet. Zu
dieser Gmppe gehörten auch die ,Jcung-nü" ( 't-ir , Palastmädchen), „shu-nü"
( 'M-k , Züchtige Mädchen), ,4isüan-shih" ( . Ausgewählte Bedienstete)
und die „ts'ai-jen" ( , Talentierte Frauen). In diesen Titeln kam höchstwahr¬
scheinlich eine gewisse Rangordnung zum Ausdruck; auf jeden Fall stand eine
„ts'ai-jen" höher als eine ,,hsüan-shih". - Eine Mittelgruppe stellten die Palast¬
beamtinnen (kung-kuan 'iT'^ , nei-kuan i*J't oder nü-kuan ) dar. Im
Jahre Hung-wu 5 (1372) gab es 75 Beamtinnen mit Rang und 18 Schreiberinnen
(nü-shih -i^ t ) ohne Rang. Nach der endgültigen Festlegung der Organisation der
Frauenämter im Jahre Hung-wu 27 (1394) gab es die Sechs Büros (liu shang-chü
■f^i^jli ) für die Aufgaben der Verwaltung und Versorgung der Frauenpaläste
und em Amt für die Palastordnung (kung-cheng szu ■.fl») ); die insgesamt 13
XX. Deutscher Orientahstentag 1977 in Erlangen