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Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik

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Terence M. Holmes

Der Schlieffenplan des Friedrich von Bernhardi: Zur Beilegung eines mythischen Streitfalls

In der Literatur über den Schlieffenplan1 wird häufig darauf hingewiesen, daß be- reits zu Schlieffens Lebzeiten ernsthafte Zweifel an der Umfassungstheorie laut wurden, die seinem Plan zugrunde lag. Als einer der streitbarsten Widersacher Schlieffens gilt Friedrich von Bernhardi, der nach Ansicht Gerhard Ritters »an der Grundanschauung Schlieffens [...] sehr radikale Kritik geübt [hat]« und sich an der Spitze der »kritischen Stimmen von militärischer Seite« befand, die vor 1914 ge- gen die Umfassungsdoktrin Einspruch erhoben2. Walter Görlitz vertritt die Mei- nung, daß Bernhardi, der »zu den führenden militärischen Schriftstellern zählte«, als »Anhänger des frontalen Durchbruchs« hervorgetreten sei und somit dem Dis- sens gegen Schlieffens »operative Grundidee« Vorschub geleistet habe3. Heinz- Ludger Borgert behauptet:

1 Unter dem Schlieffenplan ist die große Denkschrift mit dem Titel »Krieg gegen Frankreich«

zu verstehen, die der Generalstabschef Graf Alfred von Schlieffen am Ende seiner Dienst- zeit im Dezember 1905 und Januar 1906 verfaßte und im Februar 1906 seinem Nachfol- ger überreichen ließ. Darin wird der Plan einer Großoffensive im Westen vorgelegt, die auf die Umfassung und Vernichtung des französischen Heeres zielt. In der Zwi- schenkriegszeit wurde der Plan als ein geniales Konzept gefeiert, das einen deutschen Sieg gewährleistet hätte, wenn es 1914 von der Obersten Heeresleitung streng befolgt worden wäre. Der vollständige Text wurde jedoch erst 1956 von Gerhard Ritter herausgegeben, der in seinem eingehenden Kommentar zu dem Schluß kam, der Plan sei »überhaupt kein sicheres Siegesrezept«, sondern »ein kühnes, ja ein überkühnes Wagnis« gewesen (Gerhard Ritter, Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956, S. 68). Seitdem ist dieses Verdikt zum Konsens geworden, der besonders scharf von Stig Förster vertre- ten wird; ihm zufolge war der Schlieffenplan »ein verzweifeltes Glücksspiel«, das Werk

»eines im Grunde ratlosen Schreibtischfeldherrn« (Stig Förster, Der deutsche General- stab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871-1914. Metakritik eines Mythos, in: MGM, 54 (1995), S. 61-95, hier: S. 80,82). Gegen die Prämissen derartiger Abwertungen habe ich Stellung genommen in: Der »Krieg gegen Frankreich« 1905. Ansätze zu einer Neube- wertung des Schlieffenplans, in: Newsletter des Arbeitskreises Militärgeschichte, 18 (Sep- tember 2002), S. 6-10, und »One Throw of the Gambler's Dice«: A Comment on Holger Herwig's View of the Schlieffen Plan, in: The Journal of Military History, 67 (2003), S. 513-516. Eine ganz neue Richtung hat Terence Zuber 1999 mit seiner These einge- schlagen, daß die große Denkschrift Schlieffens nicht als Kriegsplan gemeint war, son- dern als Plädoyer fur die Erweiterung des deutschen Heeres (Terence Zuber, The Schlief- fen Plan Reconsidered, in: War in History, 6 (1999), S. 262-305; siehe auch Zuber, Inven- ting the Schlieffen Plan: German War Planning, 1871-1914, Oxford 2002, sowie aber mei- ne Erwiderungen gegen seine Theorie in: War in History, 8 (2001), S. 208-232; 9 (2002), S. 111-120; 10 (2003), S. 464-^79).

2 Ritter, Der Schlieffenplan (wie Anm. 1), S. 51 f.

3 Walter Görlitz, Der deutsche Generalstab. Geschichte und Gestalt 1657-1945, Frank- furt a.M. [1950], S. 182.

Militärgeschichtliche Zeitschrift 63 (2004), S. 429^443 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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»Mit der im Kontrast zu Schlieffen gesehenen grundsätzlichen Befürwortung der Möglichkeit von Durchbruchsangriffen akzentuierte Bernhardi [...] die eine Seite des Spektrums der militärischen Diskussion in Deutschland, das durch die beiden Pole >Durchbruch< und >Umfassung< gekennzeichnet wurde4

Auch Jehuda Wallach stellt fest: »Vor dem Kriege predigte Bernhardi den Durch- bruch und zog ihn der Schlieffenschen Umfassung vor«5, während Michael Howard die Brisanz der Meinungsverschiedenheit herausstreicht: der einflußreiche, wort- gewandte Bernhardi habe eine Reaktion gegen Schlieffen angeführt, indem er des- sen Umfassungsstrategie rundweg als »eine Bankerotterklärung der Kriegskunst«

denunzierte - ein Urteil, das sehr bald darauf durch das Versagen des Schlieffen- plans bestätigt worden sei6. Damit wird ersichtlich, warum diese Frage von mehr als bloß theoretischem Interesse ist: aus Bemhardis Gegnerschaft zu Schlieffen kann man, wie es scheint, ohne weiteres eine Aburteilung des berühmten Schlieffen- plans extrapolieren.

Im folgenden gehe ich der Frage nach, ob es in der Tat diesen Streit u m die Um- fassungsstrategie gegeben hat. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß Bernhardi an vie- len Stellen seines Hauptwerks »Vom heutigen Kriege« scharfe Kritik an den Ideen Schlieffens äußerte, und daß diese Einwände eine ganze thematische Skala von der taktischen und strategischen Verwendung von Reserven7 bis hinab zu der Spaten- arbeit beim Infanterieangriff8 durchliefen. Aber gerade im Rahmen der Debatte über den relativen Wert von Flanken- und Frontalangriff kommt beim näheren Hinsehen viel eher eine Affinität als eine Opposition ihrer Ansichten z u m Vor- schein. Es läßt sich überdies erweisen, daß Schlieffen und Bernhardi im Hinblick auf die damals eminent wichtige Frage, wie der herannahende Krieg gegen Frank- reich zu führen sei, zu einem weitgehend gemeinsamen Umfassungskonzept ge- langten. Wenn Bernhardi insofern einer Version des Schlieffenplans verpflichtet war, dann ist es zumindest paradox, daß man seine Ideen als Argument gegen den Schlieffenplan auffassen konnte. Ich will aber nicht zu weit vorgreifen. Es soll zunächst auf die Frage der theoretischen Positionen Schlieffens und Bernhardis zum Thema »Durchbruch oder Umfassung?« eingegangen werden.

Gewiß war Bernhardi von der Möglichkeit des Durchbruchs auch gegen die gesteigerte Potenz der modernen Defensive überzeugt, und er hob die sehr gün- stigen Aussichten hervor, die sich bei einem gelungenen Durchbruch ergaben9. Aber man darf nicht darüber hinwegsehen, daß er angesichts der modernen Feu- erwirkung den frontalen Angriff als ein äußerst kostspieliges Verfahren betrach- tete. Wenn er auch in dem dabei reichlich vergossenen Blut, solange es »bewußt

4 Heinz-Ludger Borgert, Grundzüge der Landkriegführung von Schlieffen bis Guderian, in: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939, hrsg. vom Militärgeschicht- lichen Forschungsamt, Herrsching 1983, Bd 6, Abschnitt IX, Grundzüge der militärischen Kriegsführung 1648-1939, S. 427-584, hier: S. 466.

5 Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt a.M. 1967, S. 316.

6 Michael Howard, Men Against Fire: The Doctrine of the Offensive in 1914, in: Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age. Ed. by Peter Paret, Oxford 1998, S. 510-526, hier: S. 519,522.

7 Friedrich von Bernhardi, Vom heutigen Kriege, 2 Bde, Berlin 1912, Bd 2, S. 47 f., 301-304.

β Ebd., Bd 2, S. 9 f.

9 Ebd., Bd 2, S. 79 f.

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und zweckmäßig« vergossen wird, das »Morgenrot des Sieges« erblicken mag10, so verdeutlicht gerade diese drastische Metaphorik, daß für Bernhardi ein solches Unternehmen nur dann anzufangen sei, wenn der Angreifende bereit und imstande ist, starke Kräfte einzusetzen und hohe Verluste hinzunehmen. Daraus erklärt sich wohl, warum Bernhardi bei seiner Besprechung des Durchbruchs bestimmte Vor- bedingungen für den Erfolg nannte: der Durchbruch kann nur an einer Stelle ge- lingen, wo der Angreifer ein bedeutendes Übergewicht besitzt, und dieses Kräfte- verhältnis kann vielleicht zustande kommen, wenn der Feind in Erwartung eines An- griffs auf seine Flanke seine Reserven dorthin entsendet und somit seine Mitte ent- blößt11. Letztere Situation wäre aber nach dem, was Bernhardi über die normale Handhabung von Reserven schreibt, eine seltene Erscheinung. Er setzt nämlich voraus, daß die Verteidigung, solange sie nicht mit Bestimmtheit die Richtung des Angriffs feststellen kann, »immer gezwungen [ist], ihre Reserven mehr oder we- niger zu teilen«12. Die Reserven werden demzufolge in der Regel in etwa gleich starken Gruppierungen hinter der ganzen Länge der Verteidigungsfront bereitge- halten. Es leuchtet aber ein, daß bei dieser Konstellation der Angriff mitten in der Front den denkbar günstigsten Fall für den Verteidiger darstellt, weil das der Punkt ist, wo er die meisten Reserven in der kürzesten Zeit vereinigen könnte. Unter nor- malen Umständen würde sich also keine aussichtsreiche Gelegenheit zum Durch- bruch bieten. Bernhardi kann daher nur mit Vorbehalt als ein »Anhänger des fron- talen Durchbruchs« angesehen werden. Für ihn war das eine mühsame und auf- wendige Angelegenheit, die nur unter ganz besonderen Voraussetzungen - wenn der Angreifer von Haus aus viel stärker war, oder wenn der voreilige Verteidiger seine Reserven in die falsche Richtung marschieren ließ - überhaupt erst gewagt werden durfte.

Freilich erklärte sich Bernhardi mit seiner bedingten Anerkennung der Mög- lichkeit des Durchbruchs in Opposition zu einem Schlieffen, der »in seinem geist- reichen Aufsatz >Cannae< den Gedanken des Durchbruchs als unausführbar zurück[weist]«13. Bernhardi bezieht sich in einer Fußnote auf den besonderen Teil der Cannae-Studien, wo er Schlieffens Ablehnung des Durchbruchsgedankens zu finden glaubt. Es handelt sich anscheinend um das Oktober-Heft der »Viertel- jahrshefte für Truppenführung und Heereskunde« von 1910, wo Schlieffen in dem vierten Aufsatz seiner Cannae-Serie über die Schlacht bei Königgrätz und den Aus- gang des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 schreibt. Nirgends aber ist in diesem Text eine Aussage zu finden, mit der die Interpretation Bernhardis zu belegen wäre. Schlieffen verwirft nicht allgemein und kategorisch den »Gedanken des Durchbruchs«: er stellt nur fest, daß sich am Vormittag wie auch am Abend von Königgrätz ein massierter Frontalangriff gegen die starke und standhafte Ar- tillerie des Feindes als unmöglich erwies14. Es ist aber denkbar, daß Bernhardi nicht diesen, sondern den ersten, im Oktober 1909 erschienenen Cannae-Aufsatz meint, in dem sich Schlieffen mit den Frontalangriffen Napoleons befaßt. Auch dort fin- det sich jedoch kein Anhalt für die Behauptung, Schlieffen habe den Durch-

10 Ebd., Bd 2, S. 56.

11 Ebd., Bd 2, S. 75-77.

12 Ebd., Bd 2, S. 352.

13 Ebd., Bd 2, S. 80.

14 Alfred v. Schlieffen, Cannae. Königgrätz, in: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 7 (1910), S. 485-521, hier: S. 492 f., 505 f.

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bruchsgedanken einfach zurückgewiesen. Er tadelt zwar Napoleon dafür, daß er in seiner späteren Periode immer mehr auf den reinen Frontalangriff vertraute, räumt aber ein, daß Napoleon bei Borodino und Hanau durch einen reinen Fron- talangriff den Sieg davontrug - was er allerdings »wesentlich seiner Artillerie [ver- dankte]«15. Die mißglückten Durchbruchsversuche Napoleons unterzieht Schlief- fen einer kritischen Prüfung, die die besonderen Gründe ihres Scheiterns zum Vor- schein bringt. Der Frontalangriff in der Schlacht bei Leipzig wurde »erst unter- nommen [...], nachdem der Feind sich verstärkt hatte«, während Napoleon seine eigenen starken Reserven nach und nach verbrauchte, statt sie an dem entschei- denden Punkt vereinigt einzusetzen. Deshalb spricht Schlieffen hier von einem Frontalangriff, »dem jede Aussicht des Gelingens fehlte«16. In der Schlacht bei Waterloo scheiterte der erste französische Durchbruchsversuch, weil er »nach un- genügender Vorbereitung durch Artillerie« von »unbehilflichen Massen« unter- nommen wurde, denen es nicht gelang, »sich zu entwickeln, mehr Gewehre und mehr Angreifer in die Front zu bringen«. Bei dem darauf angeordneten Kavallerie- angriff »fällt es Ney [...] zu spät ein, die ersten Erfolge durch Infanterie ausbeuten zu lassen«. Schließlich ging die alte Garde »in ungünstigster und unwirksamster Formation« gegen die feindliche Mitte vor. Schlieffen gibt also jeweils eine be- stimmte Erklärung dafür, daß auch diese Frontalangriffe »unmöglich zu einem Sieg führen [konnten]«17.

Schlieffen legt sich in den Cannae-Studien keineswegs auf den dogmatischen Standpunkt fest, der Durchbruch sei unter allen Umständen ausgeschlossen. In seiner Besprechung eines Kriegsspiels18 aus dem Jahr 1905 schildert er ziemlich ge- nau eine Situation, die einen Durchbruch sehr wohl erlauben würde. Er geht da- bei von der Annahme aus, daß die Umfassung die vorherrschende Angriffsform sei, sieht aber ein, wie gerade die Fixierung auf diese Norm ganz andere Aussich- ten eröffnen könnte. Da jeder umfassen und sich zugleich gegen die Umfassung wehren will, dehnt jeder seine Front aus, so daß hier oder da eine »schwache Stel- le«, sogar eine »Lücke« entstehen und dem Gegner die Chance eines Durch- bruchsangriffs bieten kann. Freilich wäre es bei der Unübersichtlichkeit des mo-

15 Alfred v. Schlieffen, Cannae, in: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskun- de, 6 (1909), S. 527-572, hier: S. 556.

16 Ebd., S. 562.

11 Ebd., S. 569-571.

16 Es sei hier ein kurzer Hinweis auf die vom Großen Generalstab (GGS) veranstalteten Übungsarten gegeben, die im Folgenden erwähnt werden. In den Kriegsspielen, zu de- nen sich fast sämtliche Offiziere des GGS versammelten, kamen großangelegte Opera- tionen zur Darstellung. Zwei Parteien kämpften gegeneinander, indem sie die blauen oder roten Steine einsetzten, die ihre Streitkräfte darstellten. Uber den Ausgang der Kampfhandlungen entschied der Leiter des Spiels. An Generalstabsreisen betätigten sich jeweils etwa 25-35 Offiziere, die sich in zwei feindliche Parteien teilten. Die ersten Zu- sammenstöße ihrer angenommenen Formationen wurden zum Teil im Freien in den Grenzgebieten gespielt, wo im Ernstfall das deutsche Feldheer tatsächlich aufmarschie- ren und die anfänglichen Kämpfe liefern sollte. Dienten die Reisen somit, die Teilnehmer mit dem Aufmarschgelände vertraut zu machen, so wurde auch der weitere Verlauf der Operationen mitunter ins Feindesland hinein auf der Karte durchgespielt, damit der größere Zusammenhang deutlich wurde. Die Schlußaufgaben bildeten den Kulminations- punkt der taktischen Schulung der zum GGS kommandierten Offiziere. Der General- stabschef legte den Teilnehmern eine Anzahl von taktisch-strategischen Problemen zur schriftlichen Bearbeitung vor. Anschließend wurden die Probleme vom Generalstabschef unter Berücksichtigung der eingereichten Lösungsvorschläge erörtert.

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dernen Kriegsschauplatzes kaum angängig, wie zu den Zeiten Napoleons von einer Windmühle aus die verwundbare Stelle zu erspähen, die heute nur durch einen Angriff längs der ganzen Front zu entdecken und auszunützen sei: »Überall an- zugreifen, das ist die Art, wie man jetzt Siege gewinnt19.« Auch in dem ersten Ent- wurf des Schlieffenplans wird ein solcher Fall berücksichtigt: wenn die Franzosen ihren linken Flügel verlängerten, u m einer Umfassung von Seiten der Deutschen vorzubeugen, so würden sie ihre Front »derartig schwächen, daß die Möglichkeit eines Durchbruchs an irgendeiner Stelle wahrscheinlich wird«20. Ferner berichtet Friedrich von Boetticher, daß Schlieffen in der letzten von ihm geleiteten General- stabsreise »diese Form des Durchbruchs wiederholt zur Darstellung gebracht [hat]«21. Man kann also nicht sagen, Schlieffen habe den Durchbruch für schlecht- hin unausführbar gehalten. Wolfgang Foerster betont mit Recht, daß für Schlief- fen der Durchbruch »ganz bestimmten, selten gegebenen Vorbedingungen« unter- liegt22, aber genau dasselbe gilt, wie wir gesehen haben, für die Durchbruchslehre Bernhardis. In dieser Beziehung ist kein prinzipieller Unterschied ihrer Ansichten auszumachen.

Für Schlieffen war indes der Angriff gegen die Flanke das bewährte Entschei- dungsmanöver, »der wesentlichste Inhalt der ganzen Kriegsgeschichte«23. Auf den ersten Blick scheint der Widerspruch zu Bernhardi in diesem Punkt unüberbrück- bar zu sein, der, wie eingangs erwähnt wurde, die Umfassungslehre Schlieffens als

»eine Bankerotterklärung der Kriegskunst« hingestellt haben soll. Wenn wir jedoch den Kontext dieses Verdikts genauer lesen, so finden wir, daß es sich nicht, wie Howard annimmt24, auf die Umfassungsidee als solche bezieht. Bernhardi befaßt sich hier speziell mit Schlieffens Aufsatz »Der Krieg in der Gegenwart«. Er bemän- gelt an der dort entwickelten Kriegslehre, daß sie sich »vor einer eingehenden Kritik als eine Strategie der numerischen Überlegenheit [erweist]«, und folgert dann ganz logisch, daß eine solche Strategie einer »Bankerotterklärung der Kriegskunst«

gleichkommt, »wenn man über eine solche [numerische Überlegenheit] nicht ver- fügt«25.

N u n hat Schlieffen in diesem Aufsatz nicht die These aufgestellt oder aufstel- len wollen, daß die größere Zahl eine unabdingbare Voraussetzung des Sieges wä- re. Er geht vielmehr davon aus, daß »auf eine solche Überlegenheit [...] unter den gegenwärtigen Verhältnissen schwer zu rechnen [ist]«26, was ganz deutlich macht, daß seine hier vorgetragenen operativen Ideen auf die Lösung des Problems an- gelegt waren, wie man ohne diesen Vorteil einen entscheidenden Sieg erringen kann. Bernhardi hat ihn auch nicht darin mißverstanden: er will bloß sagen, daß

19 Zit. nach Wolfgang Foerster, Graf Schlieffen und der Weltkrieg, 2., neubearb. Aufl., Ber- lin 1925, S. 10 f.

20 Ritter, Der Schlieffenplan (wie Anm. 1), S. 163.

21 Friedrich von Boetticher, Der Lehrmeister des neuzeitlichen Krieges, in: Von Scharnhorst zu Schlieffen 1806-1906. Hundert Jahre preußisch-deutscher Generalstab. Hrsg. von Friedrich von Cochenhausen, Berlin 1933, S. 249-316, hier: S. 288.

22 Foerster, Graf Schlieffen (wie Anm. 19), S. 11.

23 An Freytag-Loringhoven, den 14.8.1912, zit. nach Hugo Freiherr von Freytag-Loring- hoven, Generalfeldmarschall Graf von Schlieffen. Sein Leben und die Verwertung sei- nes geistigen Erbes im Weltkriege, Leipzig 1920, S. 102.

21 Howard, Men Against Fire (wie Anm. 6), S. 519.

25 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 189.

26 Alfred v. Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, in: Deutsche Revue, 34 (1909), Bd 1, S. 13-24, hier: S. 19.

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es ihm nicht gelungen ist, dieses Problem zu lösen. Schlieffen erklärt nämlich, die Verstärkungen für den entscheidenden Flankenangriff müßten der Front entzogen werden, besteht aber gleichwohl darauf, daß die derart gelichtete Front auch ihrerseits energisch angreifen müsse27. Letztere Forderung ist nun nach dem Ge- sichtspunkt Bernhardis ganz unzumutbar. Da dieser für einen Frontalangriff sehr starke Kräfte für nötig hält, ist es in seinen Augen undenkbar, den Gegner gleich- zeitig in der Front und in der Flanke anzugreifen, es sei denn, daß man zahlen- mäßig deutlich überlegen ist28. Indem Schlieffen die Notwendigkeit eines solchen Doppelangriffs lehrt, verfalle er eben, wenn auch ungewollt, in »eine Strategie der numerischen Überlegenheit«.

Nicht die Umfassungslehre selbst ist es, die Bernhardi von der Hand weist, son- dern die Klausel, daß bei einer Umfassung die feindliche Front auch unbedingt an- zugreifen war. Allerdings brachte Schlieffen diese Forderung emphatisch und wie- derholt zum Ausdruck, so daß man meinen könnte, sie sei mit seiner Umfas- sungsdoktrin unlösbar verknüpft. Bei einer Generalstabsreise 1902 warnte er: »Von einer Umfassung oder Umgehung wird man nur dann auf einen Erfolg rechnen können, wenn man sie mit einem Frontalangriff verbindet29.« Zu den Schlußauf- gaben desselben Jahres hieß es: »Eine Umfassung muß mit einem Frontalangriff verbunden sein«30, und zu denen von 1903: »In der Strategie wie in der Taktik gilt dieselbe Regel: Wer umfassen will, muß in der Front fest angreifen, den Feind dort an jeder Bewegung hindern und dadurch es dem umfassenden Flügel ermögli- chen, zur Wirksamkeit zu kommen31.« Auch in Schlieffens Cannae-Studien ist zu lesen: »ein Frontalangriff muß in Erwartung des Flankenanfalls erfolgen. Der Geg- ner muß völlig in Anspruch genommen werden und dem Flankenangriff nicht mehr gänzlich ausweichen können32

Und doch ist Schlieffen diesem Grundsatz nicht immer treu geblieben. Er hul- digte auch einem diesbezüglich konträren Modell des wirksamen Flankenangriffs - dem Sieg Friedrichs des Großen in der Schlacht bei Leuthen. Bei der Besprechung seines letzten Kriegsspiels 1905 verwies er auf Leuthen als Beispiel dafür, wie »ein kleineres Heer auch ein größeres besiegen kann«. Der Angreifer muß »gegen den Feind in der empfindlichsten Richtung vorgehen, Flanke und Rücken anzugreifen suchen und den überraschten Gegner zu einer schnellen Frontveränderung zwin- gen«33. Hier besteht Schlieffen nicht darauf, daß man auch gegen die Front des Geg- ners vorgehen muß, denn das Leuthen-Programm schrieb gerade das Gegenteil vor. Friedrich griff am 5. Dezember 1757 den linken Flügel einer weitaus stärke- ren österreichischen Armee an und ließ ihre Front ganz unbehelligt. Darin verfuhr er nach seinem bekannten Prinzip der »schrägen Schlachtordnung«:

21 Ebd., S. 19 f.

28 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 46, 70 f., 168,181 f.

29 Zit. nach Generalleutnant von Zoellner, Schlieffens Vermächtnis, Sonderheft der Militär- wissenschaftlichen Rundschau (Januar 1938), S. 18.

30 Alfred v. Schlieffen, Dienstschriften. Hrsg. vom Generalstab des Heeres, 7. (Kriegs- wissenschaftliche) Abteilung, 2 Bde, Berlin 1937-1938, Bd 1: Die taktisch-strategischen Auf- gaben aus den Jahren 1891-1905, S. 94.

31 Ebd., Bd 1, S. 108 f.

32 Schlieffen, Cannae (wie Anm. 15), S. 559.

33 Zit. nach Friedrich von Boetticher, Schlieffen. Viel leisten, wenig hervortreten - mehr sein als scheinen, 2. durchges. Aufl. Hrsg. und mit einem Nachw. versehen von Friedrich- Christian Stahl, Göttingen 1973, S. 85.

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»Wann die Anzahl der Preussischen Truppen geringer ist, als die vom Feinde, so muss man deshalb nicht desperiren ihn zu überwinden. [...] In diesen Gele- genheiten ist es, wo Meine oblique Ordre de Bataille sehr nützlich angewandt werden kan, denn man refusiret den Feind einen Flügel, und man verstärcket denjenigen, welcher attaquiren soll; Mit letzteren thut Ihr alle Eure Efforts auf einen Flügel des Feindes, welchen Ihr in die Flanque nehmet34

Schlieffen war es nicht ganz behaglich zumute bei seiner Berufung auf eine exem- plarische Schlachtentaktik, die seiner eigenen Lehre zu widersprechen schien. Ein Angriff auch gegen1 die Front ist doch schwerlich mit der Instruktion vereinbar,

»alle Eure Efforts« gegen einen Flügel zu konzentrieren. Es war wohl ein Versuch, au$ diesem Dilemma zu entkommen, als Schlieffen 1910 erklärte, daß auch bei Leuthen die feindliche Front insofern »gefesselt« gewesen sei, als »den Österrei- chern Glauben gemacht wurde, man wollte diese ursprüngliche Front oder gar den rechten Flügel angreifen«35. Damit gibt er aber zu, daß die Täuschung des Gegners den physischen Angriff auf seine Front ersetzen kann, wenn sie den Zweck erfüllt, die feindliche Front an jeder Bewegung so lange zu hindern, bis der Flankenan- griff erfolgt. Es sind offensichtlich zweierlei Methoden, die Schlieffen etwas künst- lich unter die eine Rubrik subsumieren will, um nicht in Zwiespalt mit der Theo- rie und Praxis des großen Königs zu geraten. Auf jeden Fall ist festzuhalten, daß Bernhardis Kritik am »Krieg in der Gegenwart« keine Relevanz für die operativen Ideen hat, welche Schlieffen dem Leuthen-Modell verdankte, weil der von Bernhardi beanstandete zusätzliche Frontalangriff hier ganz wegfällt. Über diesen negativen Befund können wir aber noch hinausgehen, indem gezeigt wird, daß das Leuthen- Modell die gemeinsame Grundlage war für die Theorien beider Strategen über die hervorragende Bedeutung des Flankenangriffs in großangelegten Operationen der Neuzeit.

Was war Bernhardis eigene Antwort auf die Frage, wie man einen zahlenmäßig stärkeren Gegner schlagen kann? Denjenigen, die in ihm den »Anhänger des fron- talen Durchbruchs« erblicken, mag es seltsam vorkommen, daß er die Lösung zu diesem Problem im Flankenangriff fand. Bei dieser Angriffsform, die, so Bernhar- di, »taktisch in der schiefen Schlachtordnung des Epaminondas und Friedrichs des Großen am stärksten in die Erscheinung tritt«, gilt es, »die Masse des eigenen Hee- res umfassend gegen eine Flanke des Feindes vorzuführen, und diesen dadurch zu zwingen, die Front völlig zu verändern«. Dieser Zwang wird dadurch erzeugt, daß der Flankenangriff »die feindliche Rückzugslinie [bedroht]«, aber Bernhardi ist sich zugleich der »großen Gefahr« bewußt, die darin liegt, daß man bei einem sol- chen Angriff auch die eigenen rückwärtigen Verbindungen preisgibt: »Nur der Sieg kann die volle Herrschaft über die eigenen ursprünglichen Vormarschlinien wieder gewähren.« Es erscheint ihm daher ratsam, den Flankenangriff wenn ir- gend möglich »auch in der neuen Front sicher zu basieren«, so daß man im Falle eines Mißerfolgs »senkrecht zur neuen Front zurückgehen kann«. Er betont auch, daß der Erfolg in hohem Maße von der Überraschung abhängt: »Man muß den Gegner täuschen, um ihn möglichst lange in seiner ursprünglichen Front festzu-

34 Friedrich der Große, Die General-Principia vom Kriege, in: Ders., Militärische Schriften.

Erl. und mit Anm. versehen durch [Adalbert] v. Taysen, Berlin 1882, S. 1-112, hier: S. 64.

35 An den Schwiegersohn, den 30.7.1910, in: Alfred v. Schlieffen, Briefe. Hrsg. und eingel.

von Eberhard Kessel, Göttingen 1958, S. 311.

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halten, und die eigenen Bewegungen erfolgreich verschleiern.« Das erinnert deut- lich an Schlieffens Interpretation von Leuthen, und es ist auch ganz im Sinne Schlief- fens, wenn Bernhardi ungeachtet der damit verbundenen Risiken und Schwierig- keiten den Flankenstoß tatsächlich als »die gegebene Angriffsform für den nume- risch Schwächeren« empfiehlt36.

An einer anderen Stelle zeigt Bernhardi, wie sich dieser Satz von den Elemen- tarprinzipien der Truppenführung herleiten läßt. Wenn der Angreifer seinem Geg- ner an Zahl unterlegen ist, so versucht er diesen Nachteil zu kompensieren, indem er zunächst nur einen Teil der feindlichen Kräfte mit örtlicher Überlegenheit angreift.

Er kann »durch offensive Teilsiege dem Gegner solche Verluste beibringen, daß dadurch seine numerische Überlegenheit oder doch deren Gebrauchswert aufge- hoben wird«37. Bernhardi beruft sich dann auf die Schlacht bei Leuthen, u m an- hand eines Beispiels darzustellen, wie dieser Gedanke im Flankenangriff voll zur Entfaltung kommt:

»Indem [Friedrich] mit überlegener Macht über den linken Hügel des Feindes herfiel, setzte er dessen ganze übrige Front außer Tätigkeit. Die österreichische Armee mußte eine völlige Frontveränderung nach der Flanke vornehmen, um ihre Massen überhaupt verwenden zu können. Diese Bewegung gelang nur notdürftig, und als die neue Front einigermaßen hergestellt war, freilich ohne die volle Gefechtskraft der Truppe zur Geltung bringen zu können, war der lin- ke Hügel bereits völlig geschlagen, und die in der neuen Front zusammenge- drängten Scharen zeigten sich unfähig, den Sieger aufzuhalten. Die numerisch um vieles schwächere Armee focht überall mit überlegener Waffenwirkung und Zahl. Nichts, was der Gegner unternahm und unternehmen konnte, vermoch- te diese durch den ersten Erfolg geschaffene Lage zu ändern38

Bernhardi zögerte auch nicht, dieses Vorbild auf die Verhältnisse und Ausmaße des neuzeitlichen Krieges zu übertragen, ja, er versprach sich von den räumlich ausgedehnten Massenkämpfen der Gegenwart sogar eine Steigerung des Leuthen- Effekts. Das »initiative Handeln« des Angreifers sieht er im allgemeinen begün- stigt durch die Schwerfälligkeit der modernen Heere: »Je größer die Massen sind, [...] desto zeitraubender sind naturgemäß alle Konzentrationen und Frontverän- derungen, die sie vornehmen wollen.« Mit den längeren Fronten des neuzeitlichen Krieges sind auch die Entfernungen größer geworden, die die Reserven zurück- zulegen haben, um einen bedrohten Sektor zu erreichen. Aber »ins Unberechenbare«

wachsen die Probleme der Verteidigung, »wenn es sich nicht nur um Verschiebung von Reserven, sondern um eine mehr oder weniger ausgesprochene Frontverän- derung handeln sollte, wie sie vom Angreifer durch Umfassung oder Hankenan- griff erzwungen werden kann«. Bernhardi kommt dann nochmals auf das Beispiel von Leuthen zurück, um seine theoretischen Erwägungen zu veranschaulichen:

»Sollte es sich [...] einmal mit einer modernen Armee um eine Frontverände- rung handeln, wie sie die Österreicher bei Leuthen ausführen mußten, so würde eine solche Bewegung tagelang dauern, und der Angreifer hätte die Möglich- keit, die allmählich eintreffenden feindlichen Truppen nacheinander mit Über- legenheit zu schlagen.«

36 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 82 f.

37 Ebd., Bd 1, S. 97.

38 Ebd., Bd 1, S. 100 f.

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An den Schluß dieser Betrachtungen setzt Bernhardi den vertrauten Spruch des Siegers bei Leuthen: »>Ein Heer von 100 000 Mann in der Flanke gefaßt, kann von 30 000 Mann geschlagen werden<, sagt Friedrich der Große39

Die Art und Weise, wie Bernhardi die Wirkung des Flankenangriffs vergegen- ständlicht, erinnert stark an Schlieffens Behandlung desselben Themas. Anläßlich der Schlußaufgaben von 1901 lehrte Schlieffen:

»Wenn man zu schwach ist, das Ganze anzugreifen, so greife man einen Teil an. Viele Variationen werden sich hierbei finden. Ein Teil des feindlichen Hee- res ist aber auch sein Flügel. Man greife also einen Flügel an. Das ist sehr schwie- rig einer Kompanie, einem Bataillon, einem Detachement gegenüber, leichter, je stärker der Gegner ist, je länger sich seine Linien ausdehnen, je mehr Zeit es ihm kostet, den angegriffenen Flügel durch den entgegengesetzten zu unter- stützen40

Ähnlich argumentierte er 1907, diesmal unter Heranziehung des Beispiels von Leuthen:

»Die Kriegsgeschichte hat gelehrt, daß der Schwächere die größte Aussicht auf einen Erfolg hat, wenn er nicht die Front, sondern die Flanke des Stärkeren an- greift. [...] Je stärker [...] die Gegner sind, desto mehr Aussicht auf Erfolg bietet ein Flankenangriff. Für einen kleinen Truppenkörper ist es leicht eine Wendung auf der Stelle auszuführen. Eine Armee wird eine Wendung, eine Schwenkung nur unter den größten Schwierigkeiten mit erheblichem Zeitverlust zustande bringen. Wenn es ihr überhaupt gelingt, eine neue Front herzustellen, wird die- se sehr schmal und sehr tief ausfallen. Die Österreicher bei Leuthen, die ur- sprünglich sechs bis acht Mann tief standen, häuften sich nach ausgeführter Schwenkung auf dreißig bis vierzig Mann hintereinander. Die große Überle- genheit, die sie ursprünglich besessen hatten, war in eine Unterlegenheit, nicht nach der allgemeinen Kopfzahl, aber wohl nach der Zahl der schießenden und feuernden Mannschaften verwandelt worden41

Auch für Schlieffen ist der Flankenstoß »die gegebene Angriffsform für den nume- risch Schwächeren«. Genauso wie Bernhardi unterstreicht er anhand des Beispiels von Leuthen die durch den Flankenangriff ausgelöste Desorganisation des Geg;- ners, die mit sich bringt, daß seine Uberzahl größtenteils außer Kraft gesetzt wird.

Und wenn Schlieffen behauptet, daß mit der Stärke einer solcherart angegriffenen Armee auch die Schwierigkeiten der Gegenmaßregeln proportional zunehmen, so kann man darin eine Parallelität zu den Ausführungen Bernhardis über die erhöh- te Wirkung des Flankenangriffs im Zeitalter der Massenheere konstatieren.

Der Schlieffenplan ist wohl das bekannteste Beispiel für die Übertragung des Leuthen-Modells auf großangelegte moderne Operationen. Die deutsche Haupt- macht sollte sich auf dem rechten Flügel versammeln und durch Belgien und die südlichen Niederlande marschieren, um die französische Festungslinie zu umge- hen und die französischen Streitkräfte von Nordwesten her anzugreifen. Der Plan setzt sich aus einer Reihe von gewaltigen Flankenangriffen zusammen, wobei die Franzosen jedesmal zu einer neuen Frontveränderung gezwungen werden sollten, mit dem Ziel, sie schließlich »gegen ihre Moselfestungen, gegen den Jura und die

39 Ebd., Bd 2, S. 30-33; vgl. Friedrich der Große, Die General-Principia (wie Anm. 34), S. 64 f.

<c Schlieffen, Dienstschriften (wie Anm. 30), Bd 1, S. 87; vgl. ebd., Bd 1, S. 46.

41 Alfred v. Schlieffen, Der Feldzug von Pr. Eylau, in: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 4 (1907), S. 205-231, hier: S. 216 f.

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Schweiz zu drängen«. Schlieffen erklärte, das Wesentliche bei der Operation sei,

»einen starken rechten Flügel zu bilden, mit dessen Hilfe die Schlachten zu ge- winnen, und in unausgesetzter Verfolgung den Feind mit eben diesem starken Flü- gel immer wieder zum Weichen zu bringen«42. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn der Schlieffen-Verehrer Wilhelm Groener dieses Projekt als ein »ins Gigan- tische« gewachsenes »zweites Leuthen« preist43. Auch der kritisch eingestellte Karl Justrow erkannte den historischen Bezug, sah aber darin nur Schlieffens Fixierung auf ein antiquiertes Kriegsbild:

»Wie konnte ein Leuthen, dessen Geschehnisse sich in kürzester Zeit, mit klei- nen Truppen auf engstem Raum abspielten, auf Verhältnisse übertragen werden, bei denen Millionenheere erst wochenlang unter schwierigsten Transportlagen operieren mußten, um einem auf der inneren Linie sehr beweglichen Gegner Flanke und Rücken abzugewinnen44

Wie wir bereits gesehen haben, stand der Zeitgenosse Bernhardi dahingehend auf Schlieffens Seite, daß er den Flankenangriff als eine für die Neuzeit besonders ge- eignete Operationsform betrachtete. Die Affinität mit Schlieffen läßt sich aber viel spezifischer aufzeigen, da Bernhardi 1912 seinen eigenen »Schlieffenplan«, das Konzept einer Westoffensive nach der Analogie der Schlacht bei Leuthen entwarf.

Der strategische Flankenangriff dürfte nach Ansicht Bernhardis im modernen Krieg »sehr wohl« gelingen, wenn er dem »Gedanken von Leuthen« gemäß aus- geführt wird: »Was dort in kleinen Verhältnissen taktisch erreicht wird, wiederholt sich dabei auf strategischem Gebiet im allergrößten Maßstab.« Als »Beispiel« dafür bietet er den Umriß einer Offensive gegen Frankreich, die »derart geführt wird, daß der nördliche Flügel des deutschen Heeres mit vorwärts gestaffelten Armeen durch Holland und Belgien, der äußerste rechte Flügel am Meer entlang, vorgeht«.

Nicht nur in dem Angriff mit einem Flügel ist Bernhardis Entwurf dem Beispiel von Leuthen verpflichtet. Der »Gedanke von Leuthen« bedeutet für ihn den Flan- kenangriff »mit refüsiertem Flügel«, die schulgerechte Form der »schrägen Schlacht- ordnung« Friedrichs des Großen. Bernhardi rechnete 1912 mit der Wahrschein- lichkeit eines französischen Angriffs in Lothringen und behandelte diesen Faktor ganz im Sinne der Lehre von dem refüsierten Flügel. Zur Ergänzung des Flanken- angriffs im Norden sieht er den planmäßigen Rückzug des ganzen linken Flügels vor. Die deutschen Kräfte im Süden sollten »dem Stoß des Gegners ausweichen, durch Elsaß und Lothringen in nordöstlicher Richtung zurückgehen und dem Geg- ner Süddeutschland freigeben«. In ihrem Versuch, dem deutschen Rückzugsflügel beizukommen, müßten die vordringenden Franzosen »eine strategische Links- schwenkung ausführen und dadurch in eine ungünstige Lage zu ihrer Basis gera- ten«, ohne daß ihnen der bloße Raumgewinn in diesem Gebiet einen entscheiden- den strategischen Erfolg bringen könnte. Zur gleichen Zeit aber würde der deut- sche Angriffsflügel für die Hauptstadt Frankreichs und für die rückwärtigen Ver- bindungen seiner in Lothringen eingedrungenen Armeen bedrohlich werden45.

02 Ritter, Der Schlieffenplan (wie Anm. 1), S. 150,157 f.

43 Wilhelm Groener, Das Testament des Grafen Schlieffen. Operative Studien über den Welt- krieg, Berlin 1927, S. 243.

" Karl Justrow, Feldherr und Kriegstechnik. Studien über den Operationsplan des Grafen Schlieffen und Lehren für unseren Wehraufbau und für unsere Landesverteidigung, Oldenburg 1933, S. 316.

45 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 346-348.

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Wenn wir uns dem entsprechenden Passus im Schlieffenplan zuwenden, könn- ten Wir zunächst den Eindruck gewinnen, als ob Schlieffen auf seinem linken Hügel ganz anders als Bernhardi handeln wollte, setzt er doch den Hauptteil seiner dort aufmarschierten Kräfte zu einem Angriff auf die Stadt Nancy an. Wenn die Fran- zosen aber »ihrem Prinzip getreu zum Gegenangriff vorgehen« sollten, so durften sich die Deutschen »nicht in hartnäckige Gefechte einlassen, sondern müssen ihre Aufgabe darin finden, einen möglichst starken Feind nach sich zu ziehen und mit Hilfe des erweiterten Metz festzuhalten«46. Es gehörte doch zum strategischen Kalkül Schlieffens, den linken Flügel im richtigen Augenblick zu refüsieren, u m den Feind zu einem weiteren Vorgehen mit starken Kräften in Lothringen hinein zu veranlassen.

Die Verwandtschaft mit Bernhardis Absichten tritt noch deutlicher zutage, wenn wir sie mit den Maßnahmen vergleichen, die Schlieffen für den Fall eines soforti- gen französischen Angriffs in Lothringen anordnete. Er hielt 1905, wie bekannt, ei- nen solchen »Liebesdienst« von Seiten des Feindes für unwahrscheinlich, überlegte aber sehr genau, wie er gegebenenfalls auszunutzen sei. Schlieffen erwartete, die Franzosen würden angesichts der deutschen Umfassungsbewegung »schleunigst umkehren«, aber seine Anweisungen waren eher auf die gegenteilige Wirkung be- rechnet. Der deutsche Aufmarsch war im Fall einer französischen Offensive der- gestalt zu ändern, daß die untere Mosel und der Rhein gedeckt würden47. Diese Vorkehrungen waren dazu angetan, unter Preisgabe Lothringens den Rücken des deutschen Umfassungsflügels sicherzustellen. Dem Feind sollte rechts der Mosel kein nennenswerter Widerstand geleistet werden: ihm wird vielmehr die Freiheit gewährt, hier so tief einzudringen, bis er gegen die weit zurückliegende deutsche Verteidigungslinie anrennt. Schlieffen wollte seinen linken Flügel ganz und gar re- füsieren, u m die Franzosen zur Fortsetzung ihrer strategisch aussichtslosen Offen- sive zu verlocken, während er seinen rechten Flügel zum entscheidenden Angriff gegen Hanke und Rücken des Feindes vorantrieb. Die Frontveränderung, die für die Franzosen letzten Endes unvermeidlich war, würde u m so schwieriger aus- fallen, je weiter ihre Hauptkräfte in Lothringen vorgegangen waren. Dieser von Liddell Hart gerühmte »Drehtür«-Effekt des Schlieffenplans48 ist im Grunde ge- nommen dieselbe Dynamik, die dem Plan Bernhardis innewohnt.

Auch bezüglich der Formierung des Angriffsflügels ist eine Ubereinstimmung der Pläne erkennbar. Bernhardi stipuliert: »Die Vorbewegung des rechten Hügels würde in Armeestaffeln vom Niederrhein aus zu erfolgen haben, mit verstärkter Tetenarmee«, und gibt zur Begründung: »Das gestaffelte Vorgehen des deutschen Angriffs-Hügels würde den linken Hügel der gegnerischen Armee zu einer großen Frontveränderung zwingen49.« Ein ähnlich »gestaffeltes Vorgehen« wurde auch auf Schlieffens Generalstabsreise-West von 1905 angewendet, die gewissermaßen als Vorstudie für den Schlieffenplan anzusehen ist: der starke rechte Hügel sollte

»links schwenken, dabei aber rechts heranziehen, um möglichst viel Terrain nach vorn und nach Norden zu gewinnen, und um den Feind, wo er auch sei, zu um- fassen«50. Genauso wie bei Bernhardi erhält der Angriffsflügel Schlieffens eine keil-

46 Ritter, Der Schlieffenplan (wie Anm. 1), S. 158.

47 Ebd., S. 160.

48 Basil Henry Liddell Hart, The Real War, 1914-1918, London 1930, S. 61.

49 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 347 f.

50 Zit. nach Zoellner, Schlieffens Vermächtnis (wie Anm. 29), S. 49 f.

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förmige, rechts vorgeschobene Gestalt, die geeignet ist, den Feind nicht bloß zurück- zudrängen, sondern seine linke Flanke zu umfassen, so daß er zu einer rückwär- tigen Linksdrehung genötigt wird. Von großer Bedeutung für Bernhardi ist außer- dem die Notwendigkeit, daß der Angriffsflügel einen festen »Pivotpunkt« besitzen soll, wofür ein ausgebautes Trier, ein befestigtes Luxemburg, oder die Festung Mainz in Frage kämen51. Auch Schlieffen verlangt einen »Stützpunkt« an der lin- ken Flanke des Angriffsflügels, wobei er aber an »ein größtenteils feldmäßig befe- stigtes Metz« denkt52. Was die Frage des Nachschubs angeht, so sieht Bernhardi eine deutsche Offensive mit dem rechten Flügel »durch das reich verzweigte hollän- disch-belgische Eisenbahnnetz außerordentlich begünstigt«53, und Schlieffen ver- sichert: »Wenn an irgendeiner Stelle, so läßt sich durch Vermittlung der belgischen Eisenbahnen eine Verbindung zwischen dem deutschen und dem französischen Schienennetz herstellen54

Bei all diesen Ähnlichkeiten sind die zwei Pläne doch keineswegs identisch.

Bernhardi erwartete, daß ein Sieg im Norden die Deutschen »unmittelbar auf Paris führen [würde]«, was seiner Einschätzung der strategischen Rolle dieser Stadt ent- spricht: »Besonders in Frankreich ist die Bedeutung der Hauptstadt als Mittelpunkt der militärischen Macht auch heute noch in die Augen springend«; mit diesem Zentrum »steht und fällt Frankreich, und es ist nicht wahrscheinlich, daß nach der Eroberung von Paris ein erfolgreicher Widerstand in den Provinzen überhaupt noch geleistet werden könnte«55. Schlieffen hingegen hat sich die Einnahme von Paris nicht zum Ziel gesetzt: er wollte an der Hauptstadt vorbei angreifen, ent- weder »über die Oise« oder, wenn die Franzosen hier erfolgreich Widerstand lei- steten, »über die Seine unterhalb der Oisemündung«, um in jedem Fall die Fran- zosen »in östliche Richtung gegen ihre Moselfestungen, gegen den Jura und die Schweiz zu drängen« und dort zu vernichten56. Auch was den Aufmarsch betrifft, weisen die Pläne Schlieffens und Bernhardis einen bezeichnenden Unterschied auf.

Während Bernhardi es für angezeigt hält, »eine strategische Reserve in zentraler La- ge bereit zu stellen, um entweder den rechten oder den linken Flügel im Bedarfs- falle unterstützen zu können«57, konzentriert Schlieffen die Masse seiner Kräfte (35,5 der 40,5 in Ansatz gebrachten Armee- und Reservekorps) von vornherein auf dem rechten Flügel, seinem Prinzip gemäß, daß es im modernen Krieg untunlich sei, »Reserven hinter der Front anzuhäufen«: es müßten jetzt »alle Truppen, die sonst wohl zurückgehalten wurden, mit denen die Entscheidung gegeben werden sollte, [...] von Hause aus zum Flankenangriff vorgeführt werden«58. Demnach kann man wohl sagen, daß bei Schlieffen der Umfassungsgedanke in der Form einer radikalen Asymmetrie zum Ausdruck kommt, wie sie uns in dem behutsameren Aufmarsch Bernhardis nicht begegnet. Schlieffen befolgt das Leuthen-Modell eben konsequenter als Bernhardi, der sich einerseits ausdrücklich danach richtet, ande- rerseits auf die Bildung einer starken Reserve nicht verzichten will.

51 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Aran. 7), Bd 2, S. 348.

52 Ritter, Der Schlieffenplan (wie Anm. 1), S. 149.

53 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 349.

54 Zit. nach Zoellner, Schlieffens Vermächtnis (wie Anm. 29), S. 43.

55 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 347,285.

56 Ritter, Der Schlieffenplan (wie Anm. 1), S. 147,153,157.

57 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 348.

58 Ritter, Der Schlieffenplan (wie Anm. 1), S. 149; Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart (wie Anm. 26), S. 20.

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Aber wie dem auch sei, die leitende Idee ist in beiden Fällen dieselbe: sowohl für Bernhardi als auch für Schlieffen ist der strategische Flankenangriff durch Holland und Belgien der eigentliche Schlüssel zu einem Sieg über Frankreich. Bern- hardi entschied sich nicht für so etwas wie die »zentrale Operation von Metz aus«, die Karl Justrow rückblickend als eine bessere Alternative zum Schlieffenplan vor- schlug. Nach diesem »anderen Operationsplan« sollte »eine Angriffsarmee [...] mit allem notwendigen Gerät, sehr viel Pionieren und schwerer Artillerie« den Auf- trag erhalten, »Verdun und die anschließende Maaslinie [...] zu überrennen und aufzurollen«. Das hätte »ein Loch zum unmittelbaren Einbruch in Frankreich zwi- schen Luxemburg bis Toul geschaffen, hinter dem wir zentral unsere gesamte Macht versammeln konnten, um nach allen Seiten freie Hand zum Handeln zu haben«59. Für jeden unbeugsamen »Anhänger des frontalen Durchbruchs« wäre diese oder eine ähnliche Lösung naheliegend gewesen: statt dessen machte sich Bernhardi ei- ne Version des Schlieffenplans zu eigen.

An diesem Punkt scheint es aber geboten, näher auf den Stellenwert des Bern- hardischen »Schlieffenplans« einzugehen. Man könnte nämlich einwenden, daß Bernhardis Konzept kein eigentlicher Kriegsplan, sondern eine bloße Gedan- kenübung gewesen sei, die gar nicht so ernst zu nehmen ist wie die große Denk- schrift »Krieg gegen Frankreich«, die der Generalstabschef am Ende seiner Amts- zeit verfaßte und seinem Nachfolger überreichen ließ. Bernhardis Operationsski- zze entstand im Zusammenhang mit seinen allgemeinen Betrachtungen darüber,

»ob sich auch der strategische Flankenangriff mit den Massenheeren der Neuzeit durchführen läßt«; er bezeichnete sie als »ein Beispiel, das natürlich nur theoreti- sche Bedeutung hat«, wohl nicht zuletzt weil sie »alle politischen Verhältnisse außer Betracht läßt«60. Dieser Vorbehalt ist aber kein Beweis dafür, daß es Bernhardi nicht ernst war mit seinem Entwurf einer Westoffensive. Auch Schlieffen hat sich ähn- lich vorsichtig geäußert, als er bei der Generalstabsreise-West von 1905 den »Vor- schlag« eines Angriffs durch das neutrale Belgien besprach: »Politisch kann dies ja verboten sein, aber akademisch können wir uns mit dieser Frage beschäftigen61

Daß Bernhardi in Wirklichkeit ebensowenig wie Schlieffen an diese schwer- wiegende Frage nur »theoretisch« oder »akademisch« heranging, ergibt sich aus den Bemerkungen, mit welchen er gleich zum Anfang seines Hauptwerks den ganzen Sinn und Zweck der Untersuchung ins Auge faßt. Wenn er dort von Operationen

»mit den Massenarmeen der großen europäischen Militärstaaten auf einem reich angebauten und dicht bevölkerten Kriegsschauplatz« spricht, so denkt er eindeu- tig an den bevorstehenden Krieg mit Frankreich. Er fährt fort: »Dieser Krieg ist es, der vor allem unsere Phantasie beschäftigt, denn es ist der Krieg, den wir selbst zu führen haben werden, und gerade er steht vor uns fast wie eine unerklärliche rät- selhafte Sphinx«. Da sich während der langen Friedensperiode seit 1870/71 die vielfältigen technischen Bedingungen eines solchen Konflikts grundlegend geän- dert hätten, könnte es zunächst fast unmöglich erscheinen, ihn im voraus zu er- fassen oder gar zu berechnen. Bernhardi gibt sich jedoch mit dieser Perspektive nicht zufrieden. Seine Aufgabe erblickt er darin, die neuen Erscheinungen auf ihre Wirkungsmöglichkeiten hin genau zu prüfen, um auf dieser Basis nicht nur »eine allgemeine Vorstellung von dem Wesen des modernen Krieges« darzubringen, son-

59 Justrow, Feldherr und Kriegstechnik (wie Anm. 44), S. 259, 270 f.

60 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 345, 347.

61 Zit. nach Zoellner, Schlieffens Vermächtnis (wie Anm. 29), S. 49.

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dern auch »die Methode zu ermitteln, nach der am zweckmäßigsten zu verfahren sein wird«62.

Aus all dem geht hervor, daß die Problematik der Westoffensive der eigentliche Angelpunkt von Bernhardis Abhandlung war. Diese Orientierung wird um so be- greiflicher, wenn wir sie mit Bernhardis Bekenntnis zum deutschen Weltmacht- streben in Zusammenhang setzen. Er erklärte in seinem 1912 erschienenen Buch

»Deutschland und der nächste Krieg«, das deutsche Volk sei »vom Standpunkt sei- ner Kulturbedeutung aus voll berechtigt, [...] einen vollgültigen Anteil an der Be- herrschung der Erde weit über die Grenzen seiner jetzigen Einflußsphäre hinaus zu erstreben«. Zunächst aber »muß mit Frankreich abgerechnet werden, wenn wir Armfreiheit für unsere Weltpolitik gewinnen wollen. [...] Frankreich muß so völ- lig niedergeworfen werden, daß es uns nie wieder in den Weg treten kann63.« Bem- hardi fühlte sich als Militärtheoretiker dazu berufen, zuverlässige Richtlinien für diesen epochalen Kampf zu erarbeiten, und wäre kaum imstande gewesen, das Thema irgendwie herunterzuspielen. Demnach scheint es nicht zutreffend, seine gegen Frankreich gerichtete Umfassungsstrategie als unverbindliches »Beispiel«

einer bestimmten Operationsart zu charakterisieren, wie er es selbst mit unge- wohnter diplomatischer Zurückhaltung tat. In diesem Konzept ist vielmehr die versprochene Ermittlung der für den Krieg gegen Frankreich »zweckmäßigsten«

Verfahrensmethode zu erkennen. Es ist Bernhardis eigener Kriegsplan, der an en- gagierter Ernsthaftigkeit dem Schlieffens keineswegs nachsteht.

Die weit verbreitete Ansicht, daß Bernhardi eine extreme Gegenposition zu Schlieffens Umfassungstheorie vertrat, ist nicht aufrechtzuerhalten. Auf dem Spek- trum zwischen Durchbruch und Umfassung läßt sich vielmehr eine Konvergenz ih- rer Gedanken verzeichnen - mit der einzigen Ausnahme, daß Bernhardi, gerade weil er die Kosten des Frontalangriffs so hoch veranschlagte, die Schlieffensche Kom- bination des Flanken- und Frontalangriffs als eine Uberspannung der Kräfte be- urteilte und strikt ablehnte. Seine Haltung war von der Überzeugung getragen, daß die Deutschen, die im nächsten Krieg gegen eine »bedeutende Überlegenheit«

kämpfen würden, eine Kriegslehre brauchten, die diesen Faktor stets in den Vor- dergrund rückte64. Schlieffen war von derselben Überzeugung geleitet. Die dop- pelte Umfassung, die 1870 zu dem entscheidenden Sieg bei Sedan geführt hatte, wurde, so dozierte er, durch die numerische Überlegenheit der Deutschen ermög- licht. Jetzt aber galt es klarzumachen, wie »mit unserem kleineren Heere« ein ver- gleichbarer Schlachterfolg zu erringen war. Die Lösung hieß: »mit möglichst star- ken Kräften einen feindlichen Flügel angreifen« und die feindlichen Rückzugslinien

»ernstlich gefährden«65. Daran hätte Bernhardi gewiß nichts auszusetzen gehabt, denn es war auch seine eigene Lösung. Er hätte nur mahnend hinzugefügt, daß die Forderung nach größtmöglicher Verstärkung des Angriffsflügels einen zu- sätzlichen Frontalangriff naturgemäß verbiete. Gänzlich versöhnt sind aber die Po- sitionen Schlieffens und Bernhardis in ihrer gemeinsamen Orientierung an der Schlacht bei Leuthen, die als klassischer Sieg einer kleineren, zumal einer preußi-

62 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 1, S. 16 f.

63 Friedrich von Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart, Berlin 1912, S. 85, 114.

6" Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 7), Bd 2, S. 189.

65 Schlieffen, Dienstschriften (wie Anm. 30), Bd 2: Die großen Generalstabsreisen - Ost - aus den Jahren 1891-1905, S. 171.

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sehen Armee auf beide Strategen eine gleich starke Suggestionskraft ausübte. Bei- de haben nach diesem Vorbild den Plan eines großen Flankenangriffs im Westen entworfen, wobei Schlieffen seinen anderwärts nachdrücklich verlangten kom- plementären Frontalangriff in einen refüsierten Flügel umkehrte, so daß es zu einer frappanten Ähnlichkeit ihrer Grundkonzepte kam. Angesichts der schicksalhaften Herausforderung des Krieges gegen Frankreich haben sich Bernhardi und Schlief- fen in der Umfassungsstrategie, dem vermeintlichen Hauptaspekt ihres Antago- nismus, vollends zusammengefunden. Von dem legendären Streitfall bleibt somit nicht mehr viel übrig.

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