WISSENSCHAFTLICHE GRUNDLAGEN DER SOZIALEN ARBEIT
GESCHICHTE
Prof. Dr. Elisabeth Schreieder Hochschule für Künste im
Sozialen, Studiengang: Soziale Arbeit
WiSe 20,21
Teil 2
ÜBERSICHT
1. Entwicklung der Profession (1850 – Weimarer Zeit)
2. Christlich denkende Männer, soziale
Frauenschulen und Kindergärtnerinnen 3. Nationalsozialismus
4. Die 68er – Politisierung
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Entwicklung der Profession/ Berufsbild Soziale Arbeit/ Sozialarbeiter*in
1850 – Weimarer Zeit
Ausbildung durch christlich denkende Männer, z.B Wichern
Diakone
Ausbildung von Kindergärtnerinnen, Weiterentwicklung zur
Jugendleiterin Bürgerliche Frauenbewegung
und soziale Frauenschule, Wohlfahrtspflegerinnen
Alice Salomon
ARBEITSGRUPPEN
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Soziale Frauenschulen Wohlfahrtspflegerinnen Alice Salomon
Ansätze christlich denkender Männer, z.B. Johann Wichern Diakone
Kindergärtnerinnen, Weiterentwicklung zur Jugendleiterin
ERGEBNISSE AUS DEN ARBEITSGRUPPEN
Soziale Frauenschulen, Wohlfahrtspflegerinnen Alice Salomon
Christliche pädagogische Ansätze, Diakone
Kindergärtnerinnen, Weiterentwicklung Jugendleiterin
SOZIALARBEIT VON CHRISTLICH DENKENDEN MÄNNERN
1833 Wichern gründet das Rauhe Haus in Hamburg Betonung der pädagogischen Wirkung von
Familiengruppen
Christliche Erziehung: Schule und gemeinsames Leben der Erzieher mit den Kindern
Berufsausbildungsmöglichkeiten für Männer
1920er Jahre: 21 evangelische Diakonen-Anstalten 1927 Eröffnung von Wohlfahrtsschulen für Männer Caritas und Diakonie betreiben insgesamt neun Ausbildungsstätten für Wohlfahrtspfleger
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Johann Hinrich Wichern
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CHRISTLICH DENKENDE MÄNNER/
KLEINKINDERERZIEHUNG
Friedrich Fröbel (*1782 +1852)
‚Kindergarten‘ als unterste Stufe des Bildungswesens
Richtige Pflege: Am Wesen des Kindes orientiert, abwartend,
beobachtend und nachgehend – also stützend, ohne vorschreibend und eingreifend zu sein.
Kindliches Spiel: Neben Arbeit und Kunst die Grundform menschlicher Selbstdarstellung
Drei Bereiche des Kindergartens:
➢ Spiel und Pflege von „Gaben“ (von Gott gegeben, z.B. Garten, Pflanzen)
➢ Beschäftigungs- und Bildungsmittel
(Kugeln, Würfel, Quader = Vom Einfachen zum Komplexen)
➢ Kreis- und Bewegungsspiele
JUGENDLEITRINNEN/ WEITERENTWICKLUNG
➢Zusatzausbildung für bereits berufserfahrende Kindergärtnerinnen Voraussetzungen:
19. Lebensjahr vollendet, Abschlusszeugnis einer Frauenschule, Berufliche Bewährung
Einsatz in vielfältigen Arbeitsfeldern (ähnlich wie heute)
➢Leitende Beschäftigung in Kindergarten und Hort
➢Tagesheime, Kindererholungsheime
➢Jugendpflege, Fürsorgeerziehungsanstalten
➢Jugendämter
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BÜRGERLICHE FRAUENBEWEGUNG UND SOZIALE FRAUENSCHULEN
Gesellschaftliche Situation der Frauen um 1850 –1900
Bürgerliches Gesetzbuch 1896
Der Ehemann hat innerhalb der Familie das letzte Wort in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten
Er ist berechtigt, den Arbeitsvertrag seiner Frau ohne Kündigungsfrist zu kündigen
In allen Fällen von Ernährung, Erziehung, Bildung, Berufswahl und Wahl des Ehepartners der Kinder entscheidet der Mann
Pressegesetz Sachsen § 12:
„Die verantwortliche Redaktion einer Zeitschrift dürfen nur
männliche Personen übernehmen“
Frauen dürfen sich nicht politisch betätigen (Preußisches Vereinsgesetz)
Auch für Bürgerstöchter kein Abitur und Zugang zu
Universitäten
Prof. Sybel 1870:
„So hat es die Natur gewollt, und so wird es im
Wesentlichen bleiben. Das Gebiet der Frau ist das scheinbar Enge und Einförmige
des häuslichen Lebens; die Domäne des Mannes ist die
weite Welt da draußen, Wissenschaft, die Rechtsordnung, der Staat“
BÜRGERLICHE FRAUENBEWEGUNG UND SOZIALE FRAUENSCHULEN
Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) Ziele:
Einsatz für Frauen: Zugang zu Bildung und bezahlter Arbeit
Louise Otto-Peters
Auguste Schmidt
Henriette Goldschmidt
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BÜRGERLICHE FRAUENBEWEGUNG/ FRAUENRECHTE
Historische Marker:
1908 Bestätigung der Politfähigkeit von Frauen 1918 Einführung des Frauenwahlrechts
1922 Zugang zum Richteramt für Frauen
1900 Immatrikulationsrechte für Frauen in Bayern, Baden, Sachsen, Preußen etc.
1920 Promotions- und Habilitationsmöglichkeit für Frauen 1893 Gründung der Zeitschrift „Die Frau“ (Helene Lange)
1895 Gründung der Zeitschrift „Frauenbewegung“ (Minna Cauer)
1893 Gründung von Mädchen und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit/ Berlin
ALICE SALOMON *1871 BERLIN, +1948 NEW YORK, JÜDIN
Studierte Nationalökonomie und promovierte in Berlin
Führendes Mitglied der
bürgerlichen Frauenbewegung 1937 Emigration in die USA
aufgrund des Nationalsozialismus
1908 Gründung der sozialen Frauenschule/ Berlin
1925 Gründung der
deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit Entwicklung eines theoretischen Fürsorgemodells
Publikation des ersten Methodenbuches „Soziale Diagnose“
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BERUFSENTWICKLUNG – FRAUEN UND BEZAHLTE SOZIALE ARBEIT
Ende 19. Jhd. : Öffentliche Armenpflege war ehrenamtlich und männlich organisiert;
Aber: Kritik von Öffentlichkeit wegen Ausschluss der Frauen
Jahrhundertwende: Erlass von Verordnungen zur Regelungen der Mitarbeit von Frauen bei der Armenpflege
Argumente:
➢Mütterlichkeit: Wärmende, hegende, pflegende Eigenschaften, die alle Frauen haben
➢Wesentlich für Familie, aber auch für soziale Aufgaben (Kranke und Notleidende)
➢Weltkrieg (1914-18): Massenverwundungen und Not beschleunigte den Ausbau der Wohlfahrtspflege
➢Stellen und Aufgaben in der Fürsorge konnten nicht von Männern übernommen werden (Kriegseinsatz)
➢Frauen wurden für die diese Tätigkeiten gesucht und immer mehr qualifiziert
➢Der „Nationale Frauendienst“ organisierte den Einsatz der Helferinnen
BERUFSENTWICKLUNG – FRAUEN UND BEZAHLTE SOZIALE ARBEIT
Erster Weltkrieg/Weimarer Zeit
➢Frauen verfolgten mit ihren Hilfsdiensten auch das Ziel der Gleichberechtigung
➢Unbezahlte Arbeit wird zurückgewiesen – Es wird die Chance gesehen Soziale Arbeit als bezahlten Frauenberuf zu etablieren
➢Aufgrund des hohen Bedarfs erhalten auch Frauen aus der Arbeiterschicht Zugang zu sozialen Ausbildungen
➢1908: Gründung der ersten sozialen Frauenschule in Berlin /Institutionalisierte Ausbildungsstätte
➢1916: Gründung des ersten Berufsverbandes „Deutscher Verband der Sozialbeamtinnen“
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SOZIALE ARBEIT IM NATIONALSOZIALISTISCHEN
HERRSCHAFTSSYSTEM
Weimarer Republik:
Mangelnde Akzeptanz der republikanisch-demokratischen Staatsform
Wirtschaftskrise (1929), Hohe Arbeitslosigkeit
Zusammenbruch der Bismarck'schen Sozialversicherungssysteme
Gekränkter Nationalstolz aufgrund des verlorenen Weltkrieges
Hitler als „charismatische Führergestalt“
Nationalsozialistische Ideologie:
Rassenlehre und sozialdarwinistisches Ausleseprinzip
Medizin als Leitwissenschaft –
Lehrmeinung: Eugenik, z.B. 100%ige Vererbungswahrscheinlichkeit bei Schizophrenie, Fallsucht etc.
1933: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (Sterilisationsgesetz)
Ausschluss Fremdrassiger (Juden), erblich Belasteter und Behinderter aus dem
Volkskörper
Verstärkte Unterstützung für den
„gesunden Volkskörper“ bei Abbau und Vernichtung von „sozial Untüchtigen“
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MERKMALE NATIONALSOZIALISTISCHER VOLKSWOHLFAHRT
➢Reduzierung der privaten Fürsorge zugunsten nationalsozialistischer Vorherrschaft
Dreischritt nationalsozialistischer Volkswohlfahrt (NSV)
1. Ausgrenzen durch Diagnostizieren und Definieren
2. Aussondern durch Zwangseinweisungen in Anstalten
3. Ausmerzen durch Euthanasie
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MERKMALE/ ORGANE DER NATIONALSOZIALISTISCHEN VOLKSWOHLFAHRT
Einfluss auf die Wohlfahrtspflege:
Gründung der nationalsozialistischen Volkswohlfahrtspflege (NSV)
Einrichtung staatlicher
Gesundheitsämter in den Kommunen Unterwerfung der freien
Wohlfahrtspflege
Zerschlagung und Vernichtung jüdischer und sozialistischer Wohlfahrtsverbände
Nationalsozialistische Volkswohlfahrtspflege
(NSV)
Öffentlicher Gesundheitsdienst
Unterstützende Leistungen für erbgesunde und wertvolle Menschen
Aufgaben der Erfassung und Begutachtung der
Bevölkerung
Filter- und Schleusenfunktion
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NS-ZEIT – AUSWIRKUNGEN AUF DIE PROFESSION
DEQUALIFIZIERUNG DER SOZIALEN BERUFE UND
ENTPROFESSIONALISIERUNG
Öffentliche Fürsorge wird gleichgeschaltet und
erfolgt unter sozialdarwinistischen Deutungsmustern/
Eugenik
Fürsorgerinnen übernehmen zuarbeitende Funktionen, z.B. für Ärzte im Rahmen der Gesundheitsämter
Rückgriff auf weibliche ehrenamtliche Helferinnen
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RELEVANZ HEUTE
Positionen von Politikern, z.B. Bernd Höcke/ „neue Rechte“
➢Geschichtsrevisionismus (Den Holocaust hat es so nicht gegeben)
➢Durch ungehinderte Einwanderung („Flüchtlingswellen“) gelangt nicht kontrollierbares (krankes) Erbgut nach Deutschland
➢„Deutschland schafft sich ab“ – zu viel muslimische Immigration und Kinderreichtum
➢Bekenntnis zur deutschen Leitkultur /Staat benötigt mehr „Schaltstellen“ zum Kontrollieren und Sortieren
➢Klassische deutsche Familie (drei Kinder) als Leitbild
➢Kein Gendermainstreaming/ Homosexualität ist unnatürlich
➢Keine inklusive Pädagogik (gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht- behinderten Kindern)
SOZIALE ARBEIT – 68ER JAHRE/ POLITISIERUNG
Rudi Dutschke, 1968 Berlin
Studentenversammlung: Columbia University, New York
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Wie entwickelte sich die Soziale Arbeit nach 1945 ?
➢ Welchen Einfluss hatten 68er-Bewegung, Kritische
Theorie und Studentenproteste ?
SOZIALE ARBEIT- 68ER JAHRE
„
Dialektik der Aufklärung“/ Kritische Theorie
➢ Verschränkung von wissenschaftlicher Rationalität (an Zwecken ausgerichtetes Denken) und
Herrschaftsausübung (Diktatur)
Anwendung der Vernunft (Aufklärung) hat nicht nur Emanzipation bewirkt, sondern Vernunft
wurde zugleich für Zwecke der Natur- und Menschenbeherrschung benutzt (Eugenik:
wissenschaftliche Legitimation des Holocaust)
Max Horkheimer *1895 + 1973 (links) Theodor W. Adorno *1903 +1969 (rechts) Institut für Sozialforschung, „Frankfurter Schule“
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BEZUG KRITISCHE THEORIE –
KRITISCHE ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT
Ziel der Erziehung/ Bildung: Mündigkeit und Emanzipation des Subjekts UND der Gesellschaft Emanzipation:
➢ Befreiung der Subjekte aus Bedingungen, die ihre Rationalität und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Handeln beschränken
Kritische Reflexion der sozialen Ungleichheit im kapitalistischen System
➢ Aufdeckung von Unterdrückung und Benachteiligung
➢ Kritik an autoritären Leitbildern und Handlungsmustern
➢ Kritik an fragmentierten (entfremdenden) Arbeitsprozessen
➢ Fehlender Blick auf die Menschen hinter dem Fall
Klaus Mollenhauer *1928 +1998
Pädagoge, Großer Einfluss auf die Sozialpädagogik
SOZIALE ARBEIT – NACH 68ER - PRAXIS
Bildung von Projektgruppen, Initiativen und kritischen Arbeitskreisen
Etablierung alternativer Praxis
Antipsychiatriebewegung Frauenbewegung
Selbstverwaltete Jugendzentren Kinderladenbewegung
Stichwort: „Demokratie von unten“
Jugendzentrum Dampfmühle, Verden (Bremen) Seit 2008 wieder in städtischer Trägerschaft
Grunddilemma Soziale Arbeit - Kritische Perspektive:
➢ Die pädagogische Bearbeitung sozialer Probleme verändert nicht deren gesellschaftliche Ursachen
➢ Soziale Arbeit stützt das problemverursachende System, anstatt es zu verändern
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ZUSAMMENFASSUNG
➢Soziale Arbeit in den 70er Jahren ist geprägt von Studentenrevolten und
außerpolitischen Forderungen „Aufbrechen von verkrusteten autoritären Strukturen“
➢Großer Einfluss der Kritischen Theorie „Dialektik der Aufklärung“ an den Universitäten
➢Etablierung einer kritischen Erziehungswissenschaft: Kritisch-reflexives Hinterfragen von gesellschaftlichen Strukturen
➢Kritik an die geisteswissenschaftliche Pädagogik, die sich zu sehr auf die Erzieher- Zögling-Perspektive konzentriert
➢Viele „Anti-Bewegungen“ und soziale Projektinitiativen jenseits der etablierten Strukturen entstehen
➢Dilemma der Sozialen Arbeit: Diese stützt qua Auftrag bestehende gesellschaftliche Strukturen
LITERATUR
Amthor, Ralph-Christian (2012): Einführung in die Berufsgeschichte der Sozialen Arbeit. Weinheim und Basel
Engelke, Ernst et al. (2014): Theorien der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.
Lambertus Verlag, 6. Auflage, Freiburg im Breisgau
Engelke, Ernst et al. (2016): Die Wissenschaft Soziale Arbeit, Werdegang und Grundlagen. Lambertus Verlag, 4. Auflage, Freiburg im Breisgau
Hering, Sabine et al. (2007): Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.
Juventa Verlag, Weinheim/München
Kuhlmann, Carola (2012): Soziale Arbeit im nationalsozialistischen
Gesellschaftssystem. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, Leske und Budrich, Opladen, S. 87-107
Schilling, Johannes (2012): Soziale Arbeit. Geschichte, Theorie, Profession, Reinhardt-Verlag. 3. Auflage, Basel
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