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Die Macht der Kleinen: Der Schweizer Föderalismus gerät aus den Fugen | Die Volkswirtschaft - Plattform für Wirtschaftspolitik

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FÖDERALISMUS

4 Die Volkswirtschaft  6 / 2018

institutionelle föderale Gefüge zugleich formell wie informell überlagern und sich kaum mehr politisch steuern lassen. Gleichzeitig hat die Zu- sammenlegung kleiner Kantone zu grösseren funktionalen Räumen mittels Gebietsreformen keine Chance auf politische Mehrheiten, wie die gescheiterten Fusionsbeispiele von Waadt und Genf sowie der beiden Basel in den vergan- genen Jahren gezeigt haben. Damit besteht für die Zukunft die Gefahr, dass die Zentralisierung aufgrund der Defizite der kleinen und ressour- censchwachen Kantone durch ein stärkeres Ein- greifen des Bundes weiter zunimmt.

Bald im Massstab 1:100

Ein weiteres Unikum des schweizerischen Fö- deralismus sind die grossen interkantonalen Unterschiede. Im Jahr 1850 kamen auf einen Einwohner des Kantons Appenzell Innerrhoden etwa 40 Menschen aus Bern, dem damals be- völkerungsstärksten Kanton. Schon in wenigen Jahren wird der Faktor zwischen dem bevölke- rungsärmsten und dem bevölkerungsreichsten Kanton aufgrund der einseitigen Abwanderung in die urbanen Gebiete bei 1:100 liegen. Während der Kanton Zürich heute rund 1,5 Millionen Ein- wohner zählt, wohnen im Kanton Appenzell In- nerrhoden knapp 16 000 Einwohner – was we- niger als der jährlichen Wachstumsrate Zürichs entspricht.

Dieses Ungleichgewicht zwischen den Stän- den wird durch die geltenden föderalen Mit- wirkungsrechte zusätzlich verschärft, weil alle Kantone – mit Ausnahme der sechs Kantone mit halber Standesstimme – unabhängig ihrer Grös- se durch die Vertretung in der zweiten Parla- mentskammer bei Verfassungsänderungen, in

B

is heute gilt für den Schweizer Föderalis- mus das Motto «Small is beautiful».1 Die durchschnittliche Bevölkerungszahl eines Kan- tons liegt bei weniger als 300 000 Einwohnern.

Zum Vergleich: Der bevölkerungsreichste Kan- ton Zürich würde unter den deutschen Ländern den drittletzten Rang einnehmen, und nahe- zu alle übrigen Kantone sind um ein Vielfaches kleiner als das kleinste deutsche Bundesland Bremen. Gleichzeitig haben die kleinen Kan- tone aufgrund der rasanten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen ihre ur- sprüngliche Bedeutung als umfassender Le- bens- und politischer Entscheidungsraum der Bürger eingebüsst. Die Verwurzelung im eige- nen Heimatkanton hat aufgrund der gestiege- nen Mobilität abgenommen, und eine Vielzahl von Menschen wohnt und arbeitet in unter- schiedlichen Regionen.

Damit klaffen die politischen und funktio- nalen Handlungsräume immer weiter ausein- ander. Leistungsbezüger sowie Entscheidungs- und Kostenträger stimmen nicht mehr überein, was das wichtige föderale Prinzip der fiskali- schen Äquivalenz verletzt. Diese Entwicklung hat aufgrund des gestiegenen Koordinations- drucks zu einer Zunahme von unübersicht- lichen Formen der horizontalen Zusammen- arbeit zwischen den Kantonen geführt, die das

Die Macht der Kleinen: Der Schweizer Föderalismus gerät aus den Fugen

Das wirtschaftliche und politische Leben in der Schweiz geht über die Kantonsgrenzen hinaus: Aufgrund solcher Föderalismusdefizite besteht die Gefahr einer zunehmenden Zentralisierung.  Adrian Vatter

Abstract  Der fortschreitende gesellschaftliche und wirtschaftliche Wan- del stellt den Schweizer Föderalismus vor grosse Herausforderungen. Es sind dabei vor allem fünf Strukturprobleme, die den schweizerischen Bun- desstaat grundlegend an seine Grenzen bringen: die föderale Kleinräumig- keit, die zunehmenden Unterschiede zwischen den Kantonen, das Demo- kratieparadoxon, das Privileg der ehemaligen Sonderbundskantone und der Sprachenkonflikt. Föderalismusreformen scheinen in der Zukunft un- vermeidlich.

1 Der Beitrag ist eine vom Autor überarbei- tete und erweiterte Fassung seines Artikels

«Schweizer Föderalis- mus: Asymmetrien, Paradoxe und Privile- gien», der am 24. Juli 2017 in der «Neuen Zür- cher Zeitung» erschie- nen ist. Im Juni 2018 er- scheint bei Routledge sein neues Buch «Swiss Federalism. The Trans- formation of a Federal Model».

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Appenzell Innerrhoden zählt etwa 16 000 Einwohner.

Alpabzug in Schwende.

KEYSTONE

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FÖDERALISMUS

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Vernehmlassungsverfahren, beim Kantonsre- ferendum, bei der Standesinitiative und in der Aussenpolitik über denselben Einfluss verfü- gen. Die seit Langem unveränderten Föderalis- musregeln haben dazu geführt, dass im Stän- derat und bei Verfassungsabstimmungen heute faktisch eine kleine Minderheit von weniger als 20 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten in den kleinsten Kantonen den Entscheidungspro- zess aufgrund ihres föderalen Vetos blockieren kann.

Es erstaunt deshalb nicht, dass die grossen finanziellen und personellen Unterschiede zwi- schen den Kantonen zu beträchtlichen Proble- men im föderalen Gesetzgebungsprozess und -vollzug geführt haben. Wenn aber neben den territorialen Grössenunterschieden der Glied- staaten auch zunehmende Differenzen in der Wirtschafts- und Finanzkraft (Stichwort Fi- nanzausgleich) auftreten, erweisen sich diese Asymmetrien als eine zentrale Herausforde- rung für die Wahrung des bundesstaatlichen Gleichgewichts.

Das Demokratieparadoxon

Im Gegensatz zur stabilen Architektur des Fö- deralismus hat sich das Demokratieverständ- nis aufgrund gesellschaftlicher Modernisie- rungsprozesse in den letzten 170 Jahren stark gewandelt. Eine fortschreitende Demokratisie- rung und eine verstärkte Beteiligung der Bür- ger am politischen Entscheidungsprozess sind Ausdruck dieser Entwicklung. Dieser Demo- kratisierungsschub ist nicht ohne Folgen für die föderativen Institutionen geblieben: Wäh- rend die kantonalen Staatsorgane – und nicht das (männliche) Volk – im 19. Jahrhundert die eigene Regierung wählten, die Ständeräte in die zweite Kammer delegierten und teilweise sogar die Standesstimme bei eidgenössischen Ver- fassungsabstimmungen festlegten, üben diese Rechte heute die Bürger in den Kantonen aus.

Damit ist der direkte Einfluss der kantonalen Behörden auf die bundesstaatlichen Föderalis- musinstitutionen wie den Ständerat und das Ständemehr verschwunden.

Diese «Demokratisierung» der kantona- len Einflusskanäle in der Bundespolitik stärk- te dabei nicht nur die parteipolitische Logik auf

Kosten der territorialen Interessen der Kanto- ne, sondern war auch Ursache dafür, dass sich die kantonalen Organe neue, informelle Wege gesucht haben, um ihre Interessen gegenüber dem Bund geltend zu machen. Dazu zählen ers- tens die Gründung der Konferenz der Kantons- regierungen als funktionales, aber nicht ver- fassungsmässig vorgesehenes Äquivalent zum Ständerat, zweitens der Ausbau der interkanto- nalen Kooperationen mittels Konkordaten zur Abwehr bundespolitischer Zentralisierungs- schübe, drittens die (angedrohte) Aktivierung des Kantonsreferendums gegen missliebige Be- schlüsse des Bundesparlaments und viertens die Finanzierung von eigenen Kantonslobbyis- ten in Bundesbern. Damit hat paradoxerweise gerade die Demokratisierung föderaler Bundes- institutionen den Einfluss des kantonalen Ver- waltungsapparats gestärkt, während die kan- tonalen Volksvertretungen die eigentlichen Verlierer dieser Entwicklung sind.

Das «Sonderbunds»-Privileg

Während die zentralen politischen Konfliktli- nien im neu gegründeten Bundesstaat von 1848 im Grossen und Ganzen entlang der Kantons- grenzen verliefen, dominieren heute aufgrund des fundamentalen Wandels andere Span- nungslinien die politische Landschaft. Dabei er- weist es sich zunehmend als Problem, dass die Architektur des schweizerischen Föderalismus heute noch immer auf den Schutz der Verlierer des Sonderbundskriegs von 1847 ausgerichtet ist, das heisst in erster Linie auf die historische Minderheit der kleinen, katholisch-konservati- ven Landkantone der Innerschweiz. Der föde- rale Minderheitenschutz ist damit blind für den Wandel in der Konfliktgeografie der vergange- nen 170 Jahre.

Minderheiten, die heute eine wichtige Rolle spielen und zentrale Spannungslinien moderner Gesellschaften wiedergeben – so etwa die aus- ländische Bevölkerung, mit rund 25 Prozent der Wohnbevölkerung etwas grösser als die franzö- sischsprachige Minderheit –, fallen durch das föderale Netz des territorialen Minderheiten- schutzes. Im Weiteren werden aber im Schwei- zer Föderalismus auch diejenigen gesellschaft- lichen Gruppen nicht besonders geschützt, die

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FOKUS

Die Volkswirtschaft  6 / 2018 7 territorial konzentriert auftreten und über-

durchschnittlich häufig im Mittelpunkt politi- scher Spannungen stehen. Dazu zählen etwa die Bewohner der urbanen Kernstädte sowie die la- teinischen Minderheiten (z. B. Romandie, Tes- sin) bei Verfassungsabstimmungen mit Volks- und Ständemehr.

Der neue «Röstigraben»

Historisch zeichnet sich das politische System der Schweiz dadurch aus, dass seine Grundlage nicht auf einer gemeinsamen Sprache oder Re- ligion beruht, sondern auf dem gemeinsamen politischen Willen zu einem multinationalen Staat und gemeinsamen nationalen Institutio- nen. Trotzdem bestehen in der politischen Pra- xis seit Langem verschiedene kulturelle Wert- haltungen, abweichende Staatsverständnisse und unterschiedliche sozioökonomische Inter- essen zwischen der deutschen und der französi- schen Schweiz. Zu den wichtigsten Spannungs- linien zwischen den Sprachregionen zählen insbesondere Fragen der internationalen Öff- nung und des Umweltschutzes. Dabei hat sich die Polarisierung bei Volksabstimmungen zwi- schen den beiden grössten Sprachregionen seit den Achtzigerjahren wieder verschärft.

Neben der Aussenpolitik haben in den letz- ten Jahren auch in der Migrationspolitik die sprachkulturellen Einstellungsunterschiede zu- genommen. Die Gemeinsamkeit dieser beiden Politikfelder liegt dabei in der Frage nach der Identität beziehungsweise der Rolle der Schweiz in einer zunehmend globalisierten und interde- pendenten Welt. Während sich die Westschwei- zer eher für eine Öffnung aussprechen, befürch- tet die Mehrheit der Deutschschweizer einen Verlust der nationalen Identität. Die unter- schiedlichen Einstellungen der lateinischen und der deutschen Schweiz zur Aussen- und Migra- tionspolitik bergen dabei beträchtliches Kon- fliktpotenzial, kann doch die sonst erfolgreiche Strategie von regional differenzierten Vollzugs- lösungen in diesen Bereichen kaum angewendet werden.

Neue Entwicklungen wie die abnehmen- de Bedeutung von Konfessions- und Klassen-

konflikten, die wirtschaftliche Dominanz der Deutschschweiz und die Transformation von ursprünglich vielfältigen kantonalen zu sprach- lich segmentierten Mediensystemen (zum Bei- spiel Gratiszeitungen) haben in den letzten Jahren zu einer Stärkung der Sprachgemein- schaften auf Kosten der quer zu den Sprachräu- men stehenden Kantone geführt. Dieser Iden- titätswandel drückt sich insbesondere in der Stärkung einer «identité romande» aus, die die früheren politisch-kulturellen Unterschiede in- nerhalb der französischen Schweiz stark einge- ebnet hat.

Insbesondere die Harmonisierung des ob- ligatorischen Schulunterrichts innerhalb der Sprachgemeinschaften und in diesem Zusam- menhang die kontroverse Frage des Fremdspra- chenunterrichts in den einzelnen Sprachräumen haben in jüngster Zeit zu heftigen Reaktionen und einer verstärkten Repolitisierung des Spra- chenkonflikts geführt. Für die Zukunft scheint die gestiegene Bedeutung des Sprachenkon- flikts als Ausdruck einer zunehmenden kollekti- ven Identität der einzelnen Sprachgruppen eine der grössten Herausforderungen für die mehr- sprachige Schweiz darzustellen.

Der kurze Überblick über zentrale Heraus- forderungen des Bundesstaates führt abschlies- send zur grundlegenden Frage, ob die seit Mitte des 19. Jahrhunderts geltenden und seither un- veränderten Föderalismusregeln zur Problem- lösung einer modernen Gesellschaft auch im 21.

Jahrhundert noch angebracht sind. Es ist wohl keine zu gewagte Prognose, zu behaupten, dass die skizzierten Herausforderungen uns zwin- gen werden, in Zukunft auch grundlegende und politisch unpopuläre Föderalismusreformen zumindest ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Adrian Vatter

Professor für Politikwissenschaft und Direktor am Insti- tut für Politikwissenschaft, Universität Bern

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