ARBEITSMARKTFLEXIBILITÄT
6 Die Volkswirtschaft 4 / 2017
Arbeitsmarktes weltweit an Bedeutung. Deshalb sprechen auch Politiker gerne davon: Während die Unternehmer sagen, flexible Arbeitsmärk
te sicherten ihr wirtschaftliches Überleben, wi
dersetzen sich die Gewerkschaften einer «zu weit gehenden» Flexibilität.
Aber was heisst Arbeitsmarktflexibilität aus wissenschaftlicher Sicht? Ein flexibler Arbeits
markt gewährleistet, dass Arbeitnehmende, die durch einen konjunkturellen Schock ihre Stelle verlieren, rasch eine andere Beschäftigung fin
den. Die sogenannte Mikroflexibilität ist die Fä
higkeit einer Volkswirtschaft, Arbeitnehmende auf effiziente Weise zu anderen Arbeitsstellen zu verlagern. Unter Makroflexibilität versteht man die Fähigkeit, sich von einem allgemeinen Konjunktureinbruch zu erholen, ohne dass die
W
as sich heute gut verkaufen lässt, findet morgen möglicherweise bereits keine Abnehmer mehr: Angesichts der dynamischen Wirtschaftsentwicklung aufgrund der Infor
mationstechnologie gewinnt die Flexibilität des
Wie flexibel ist der Schweizer Arbeitsmarkt?
Der Schweizer Arbeitsmarkt meistert Konjunktureinbrüche dank einer hohen Makro
flexibilität relativ gut. Auf der Mikroebene schneidet die Schweiz jedoch nur mittelmässig ab, wie ein Vergleich von 12 OECDLändern zwischen 1995 und 2007 zeigt. So verharrten Betroffene relativ lange in der Arbeitslosigkeit. Rafael Lalive, Frédéric Martenet
Abstract Dramatische Entwicklungen in der Informationstechnologie schaffen grosse Herausforderungen für globalisierte Volkswirtschaften. Flexible Arbeits- märkte sind angesichts der dynamischen Entwicklungen in der Informationstech- nologie wichtig, da sie wirtschaftliche Veränderungen gut absorbieren können.
Ein Vergleich von OECD-Ländern über zwanzig Jahre zeigt: In der Schweiz war der Wohlstandsverlust aufgrund von Schwankungen der Arbeitslosigkeit relativ ge- ring. Ein Grund dafür dürfte die Sozialpartnerschaft sein. In Bezug auf die Mikro- flexibilität – d. h. die effiziente Verlagerung von Arbeitnehmenden auf die vorhan- denen Stellen – befindet sich die Schweiz im internationalen Vergleich lediglich im Mittelfeld. So dauerte die Arbeitslosigkeit der Betroffenen im Untersuchungszeit- raum zwischen 1995 und 2007 relativ lange.
Abb. 1: Erwerbslosenquote in der Schweiz und exportgewichteter, ausländischer Einkaufsmanagerindex (PMI)
Exportgewichteter, ausländischer Einkaufsmanagerindex (PMI) Erwerbslosenquote (gemäss ILO) Rezession
SECO (2017), HANSLIN UND SCHEUFELE (2016) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
2002 Q1
2004 Q 1
2007 Q 1
2010 Q1
2013 Q1 2003 Q1
2006 Q 1
2009 Q 1
2012 Q1 2005 Q
1
2008 Q 1
2011 Q1
2014 Q1 6 Erwerbslosenquote
5
4
3
2
PMI 64
56
48
40
32
ARBEITSMARKTFLEXIBILITÄT
8 Die Volkswirtschaft 4 / 2017
Abb. 2: Erwerbslosenquote und Kündigungsschutz
Regressionslinie
OECD (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Durchschnittliche Erwerbslosenquote (1995–2007), in %
USA
0,5 0,75 1 1,25 1,5 1,75 2 2,25 2,5 2,75 3 3,25 3,5
Kanada Australien Tschechien
Mexiko Finnland
Kolumbien 25
15 20
10
5
0
Polen
Norwegen Ungarn Schweiz
Slowakei
Kündigungsschutz
Arbeitslosigkeit stark ansteigt. Flexible Arbeits
märkte sind durch eine tiefe Arbeitslosigkeit, um
fangreiche Bewegungen von Arbeitnehmenden zwischen der Erwerbslosigkeit und dem Arbeits
markt sowie durch eine kurze Dauer der Arbeits
losigkeit gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu weisen starre Arbeitsmärkte eine hohe Arbeits
losigkeit, verhältnismässig geringe Bewegungen von Arbeitnehmenden und eine lange Dauer der Erwerbslosigkeit auf.
Ein Test für die Flexibilität des Arbeitsmark
tes war die weltweite Finanz und Wirtschafts
krise, welche der Schweiz die tiefste und längs
te Rezession seit den Neunzigerjahren bescherte.
Ende 2008 ging das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) gemäss dem Staatssekretariat für Wirt
schaft (Seco) krisenbedingt zurück und verzeich
nete in den ersten drei Quartalen des folgenden Jahres negative Wachstumsraten.
Zuvor war die Nachfrage nach Schweizer In
dustrieerzeugnissen eingebrochen. Entsprechend sackte der exportgewichtete ausländische Ein
kaufsmanagerindex (PMI) innerhalb des Jahres 2008 um ein Viertel ab (siehe Abbildung 1).1 Der PMIIndikator bildet die Situation im Produktions
sektor unserer wichtigsten Handelspartner ab, was stark mit den Schweizer Exporten korreliert.
Als Folge der Rezession, von der unsere Han
delspartner ab Ende 2008 besonders stark ge
troffen wurden, stieg die Erwerbslosenquote in der Schweiz von 3,5 Prozent Anfang 2008 auf rund 4,5 Prozent Ende 2009 (siehe Abbildung 1).
Anschliessend sank sie bis Ende 2011 wieder auf 4 Prozent, was ungefähr dem Durchschnittswert zwischen 2002 und 2014 entspricht. Angesichts des konjunkturellen Einbruchs infolge der Wirt
schaftskrise waren die Auswirkungen auf die Arbeitslosenquote somit nur begrenzt.
Kündigungsschutz schränkt Mikroflexibilität ein
Die effiziente Verlagerung von Arbeitnehmen
den auf andere Stellen (Mikroflexibilität) wird unter Umständen durch gesetzliche und verwal
tungsrechtliche Bestimmungen zum Arbeitneh
merschutz beeinträchtigt. Eine zentrale diesbe
zügliche Regulierung ist der Kündigungsschutz:
Er schränkt die Flexibilität der Unternehmen ein, Angestellte einzustellen oder zu entlas
sen. Für die Arbeitnehmenden bietet er zwar den Vorteil, dass unsichere Beschäftigungsver
hältnisse verhindert werden, gleichzeitig kann er aber die Stellensuche erschweren. Des Weite
ren bewirken auch Regelungen, welche die Mög
lichkeiten der Unternehmen zur Anpassung von Arbeitsverträgen einschränken, gegebenenfalls eine geringere Mikroflexibilität.
1 Seco (2017).
Wie hat sich der Kündigungsschutz auf die Arbeitslosigkeit ausgewirkt? Um diese Frage zu beantworten, haben wir im Zeitraum 1995 bis 2007 zwölf OECDLänder mit unterschiedlichen Kündigungsschutzgesetzgebungen miteinander verglichen. Anschliessend fügten wir zwei In
dikatoren zur Leistungsfähigkeit des Arbeits
marktes hinzu: die Arbeitslosenquote und die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit.
Bezüglich der Arbeitslosenquote zeigte sich:
Die Strenge des Kündigungsschutzes korreliert nicht mit der Arbeitslosigkeit; tiefe Arbeits
losenquoten bestehen sowohl in Ländern mit einem strengen Kündigungsschutz als auch um
gekehrt (siehe Abbildung 2).
Arbeitslosendauer ausschlaggebend
Doch ist die Arbeitslosenquote überhaupt ein gu
tes Mass für die Mikroflexibilität? Denn zur ent
scheidenden Frage, wie lange die betreffenden Personen schon auf Stellensuche sind, liefert sie keine Informationen; sie gibt lediglich an, wie viele Personen eine neue Beschäftigung suchen.
Tatsächlich wird jeden Monat eine grosse Zahl von Erwerbstätigen arbeitslos, und gleichzeitig finden viele Erwerbslose eine neue Stelle:2 Ge
mäss Angaben des Seco verlieren in der Schweiz monatlich rund 29 000 Erwerbstätige ihren
Arbeitsplatz, und ebenso viele Personen finden eine neue Stelle. Die Dauer der Arbeitslosigkeit ist ein besseres Mass für die Mikro flexibilität, da in flexiblen Arbeitsmärkten Stellensuchende rasch eine neue Beschäftigung finden.
Zwischen der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit und dem Ausmass des Kündi
gungsschutzes besteht eine starke positive Kor
relation (siehe Abbildung 3). In einem Land mit einem strengen Kündigungsschutz ist normaler
weise eine verhältnismässig lange durchschnitt
liche Dauer der Erwerbslosigkeit zu erwar
ten. Mit anderen Worten ist es für Erwerbslose umso schwieriger, eine neue Stelle zu finden, je besser die Arbeitnehmenden vor einer Kün
digung geschützt sind. Dies deutet darauf hin, dass der Kündigungsschutz eine gewisse Rolle spielt, hauptsächlich durch seine Auswirkungen auf die Dauer der Arbeitslosigkeit, während er die Arbeitslosenquote nicht massgeblich beein
flusst.
Arbeitslosengeld mindert Anreize
Abgesehen vom Kündigungsschutz ist für die Mikroflexibilität möglicherweise auch die Arbeitslosenversicherung (ALV) von Bedeutung.
Denn das Arbeitslosengeld reduziert den An
reiz, möglichst schnell einen neuen Arbeitsplatz
Abb.3: Dauer der Arbeitslosigkeit und Kündigungsschutz
Regressionslinie
USA
Kanada
Australien
Tschechien
Mexiko Polen
Norwegen Ungarn Schweiz
Slowakei
Durchschnittliche Arbeitslosigkeit (in Monaten, 1995–2007, in %
0,5 0,75 1 1,25 1,5 1,75 2 2,25 2,5 2,75 3 3,25 3,5
25
15 20
10
5
0
Kündigungsschutz
OECD (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Kolumbien Finnland
2 Vgl. dazu Beitrag von Bernhard Weber (Seco) in diesem Schwer- punkt.
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Literatur
Blanchard, O. J., Jaumotte, F., Loungani, P. (2014). Labor Market Poli- cies and IMF Advice in Advanced Economies During the Great Reces- sion. IZA Journal of Labor Policy, 3(1), 2.
Hanslin, S., Scheufele, R. (2016). Foreign PMIs: A Reliable Indicator for Exports? (No. 2016-01), SNB Working Papers.
Rafael Lalive
Volkswirtschafts professor, Universität Lausanne
Frédéric Martenet Forschungs- und Lehrassistent, Universität Lausanne
zu suchen – was die Dauer der Erwerbslosigkeit verlängert und auf die Gesamtbeschäftigung drückt.
Allerdings bezahlt die ALV nicht nur Geld, sondern unterstützt die Versicherten mit Know
how und Ausbildungsprogrammen bei der Arbeitssuche. Dadurch finden Erwerbslose ra
scher eine neue Stelle und verbessern mittelfris
tig ihren Erfolg im Arbeitsmarkt.
In Bezug auf den Einfluss der Arbeitslosenver
sicherung lässt sich somit sagen: Für Erwerbstä
tige, die wegen eines Konjunktureinbruchs ihre Stelle verlieren, ist die ALV die wichtigste Ein
kommensquelle. Sie verbessert die Flexibilität, indem sie Stellensuchende dabei unterstützt, rasch eine andere Stelle zu finden. Doch gleich
zeitig mindert sie die Arbeitsmarktflexibilität, indem sie den Anreiz reduziert, eine neue Stelle anzunehmen.
Die Auswertung zeigt: Im Vergleich mit Öster
reich und Norwegen ist der Kündigungsschutz in der Schweiz nicht sehr streng. Doch die Schwei
zer Bestimmungen sind viel strikter als die Re
gelung in den USA, wo für die Einstellung und Entlassung von Mitarbeitenden flexiblere gesetz
liche Vorschriften gelten. Der Schweizer Arbeits
markt ist gleichzeitig durch eine tiefe Arbeitslo
sigkeit und eine lange durchschnittliche Dauer der Erwerbslosigkeit gekennzeichnet. Er ist also weder starr noch vollständig flexibel.
Hohe Makroflexibilität dank Sozialpartnerschaft
Wie krisenresistent ist der Arbeitsmarkt auf der Makroebene? Um dies zu beantworten, haben wir bezüglich des Zeitraums 1995 bis 2015 einen einfachen MakroflexibilitätsIndex für 39 OECD
Länder entwickelt. Im Index, der den gesamten Wohlstandsverlust aufgrund von Schwankun
gen der Arbeitslosigkeit erfasst, liegt die Schweiz hinter Norwegen auf dem zweiten Rang. Das Ver
einigte Königreich und die USA, deren Arbeits
märkte im Allgemeinen als flexibel gelten, bele
gen lediglich die Ränge 11 und 18. Dies zeigt, dass die Schweizer Wirtschaft in der Lage ist, exter
ne Schocks mit begrenzten Auswirkungen auf die Arbeitslosenquote zu absorbieren (siehe Ab- bildung 1).
Was sind die Gründe für die hohe Makrofle
xibilität? Die Arbeitsmarktinstitutionen spielen dabei vermutlich keine zentrale Rolle, da sie, wie oben gezeigt, die Mikroflexibilität beschränken.
Hingegen ist ein anderer Faktor möglicherweise von erheblicher Bedeutung: die Sozialpartner
schaft.
In der Schweiz sind die Arbeitnehmerver
treter und die Arbeitgeber in der Lage, in einer konstruktiven Atmosphäre miteinander zu re
den und zu verhandeln. Gemäss dem Global Competitiveness Report des World Economic Forum (WEF) ist die Schweiz das Land, in dem die Beziehungen zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern am stärksten von Zusammen
arbeit geprägt sind. Die Fähigkeit, gesamtwirt
schaftliche Probleme gemeinsam anzugehen, trägt somit womöglich zur hohen Makroflexibi
lität in der Schweiz bei.