• Keine Ergebnisse gefunden

Volk ohne Raum Raum ohne Volk

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Volk ohne Raum Raum ohne Volk"

Copied!
32
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)Michael Fahlbusch. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk Der lange Schatten der Deutsch-Völkischen in der Weimarer Republik. 1 Prolog Als der Dollar am 24. März 1923 bereits zu einem Wechselkurs von 20.874 RM gehandelt wurde erschien nach fünfwöchiger Pause wieder die Essener Volks-Zeitung, das Zentralorgan der Zentrumspartei für Rheinland und Westfalen. Die Besetzung des Rhein- und Ruhrgebiets durch französisch-belgische Truppen im Januar wurde zum Anlass genommen, an die ‚geistige Landesverteidigung‘ gegen die seit den napoleonischen Kriegen unerwünschten Besatzer zu erinnern. Die Essener Volks-Zeitung würdigte auf ihrer Titelseite die „Worte von Joseph von Görres“ und die „gewaltige Kraft, die seiner Feder einst im Dienste des Vaterlandes entströmte“. Wir entnehmen dem Wiederabdruck des Vorworts Görres’ von 1814: „Auch die Länder diesseits des Rheines haben seit dem Beginne der geschriebenen Geschichte dem deutschen Stamme angehört; öfter ihre Regenten wechselnd, haben sie durch alle die Jahrhunderte Sitten, Sprache, Nationalcharakter unverändert beibehalten.“ Im Nachgang der Revolution hätten die Parteien, jeglicher Couleur „die Vereinigung mit einem fremden Volke als ein grosses Übel“ betrachtet. Jahrelang habe der Widerstand der „Eingeborenen“ gegen die ausländische Macht gedauert, „als endlich politische Verhandlungen ihr Schicksal unwiderruflich bestimmten, fügten sie sich dem Unabwendbaren, und wurden ruhige, gehorsame Untertanen, aber ihr Herz blieb bei ihrer Nation, und sie hörten nicht auf, Deutsche zu sein.“ Die Masse des Volkes sei ihrem „Volksgeist“ auch unter Fremdherrschaft treu geblieben. Die „Einheit und Unteilbarkeit jedes grossen Völkerstammes“ setzt die Essener Volks-Zeitung als Axiom in ihrem Kommentar dazu. Die Verwurzelung des Volkes oder Stamms mit dem Boden sei laut Görres ein alter Besitzstand: „In sich ist jeder Stamm ein völlig geschlossenes und gerandetes Ganzes; alle Glieder umschlinget ein gemeinsames Band der Blutsverwandtschaft.“ Dieses würde durch den „Volksinstinkt“ gewahrt; selbst künstliche Verträge könnten diesen Urtrieb nicht brechen. Durch Gewalt könne kein Stamm innerhalb des anderen sich ein bleibendes Recht erwerben. Den Stamm bewahre die „Naturstimme im Inneren“ als Kluft vor dem Fremdling, so die Ausführung apodiktisch weiter: „im Friedenschlusse gibt sich der. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(2) 254. Michael Fahlbusch. Unterliegende hin, was er nicht halten kann“. Als quasi Naturrecht werde der grössere „Stamm der Völkerschaften“ aus denen er sich zusammensetzt, kleinere auf „rechtlichem Wege nicht loslassen aus der Gemeinschaft“. „Denn kein Volksstamm kann durch Gewaltsamkeit aus seinem uralten Stammsitz vertrieben, und in der Gesamtheit seiner Rechte“ versehrt werden. „[A]lle sogenannten Reunionen, wo ein fremdes Volk ein Land mit Mann und Maus verschlingt, und das Fremdartigste sich anzueignen strebt, sind an sich nichtig, und dauern vor dem Rechte nur so lange als die Gewalt, die sie erzwungen hat.“ (Essener Volks-Zeitung: 24.3.1923) „Wir sind seit undenklichen Zeiten ein deutsches Volk gewesen; unsere Urväter haben den Rhein nicht als Deutschlands Grenze anerkannt, kaum dass an der Maas ihre Wanderung ein Ziel gefunden.“ Begründet wurde der Rhein als Deutschlands Strom und nicht als Deutschlands Grenze: „Der gallische Stamm hatte keinen Rechtsanspruch auf uns zu machen, wenn er ein sogenanntes Recht der Eroberung sich erworben, wir haben noch ein weit älteres aufzuweisen.“ Schliesslich habe der fränkische Stamm einst Gallien erobert. Soweit die in der Essener Volks-Zeitung veröffentlichten Ausführungen aus Görres Vorwort im Rheinischen Merkur aus dem Jahre 1814. Dieses erschien zeitgleich mit der in München produzierten Rhein-Sondernummer der Zeitschrift „Die Meister“. Deren Herausgeber „griffen in die Vergangenheit und liessen lebendig wieder auferstehen, was Dichter und Denker Hölderlin, Tacitus, […] E.M. Arndt […] und andere über unseren Strom“, den Rhein, gesagt hätten. Ein Beitrag der Frankfurter Zeitung rundete das Bild ab; auch Görres, so lautete es darin, habe Großes aus leidvoller Erfahrung beigetragen. Das offensichtliche Agenda-Setting wurde initiiert durch die „Arbeitsgemeinschaft der Herausgeber deutscher Zeitschriften“ Rudolf Pechels, dem „Arbeitsausschuss deutscher Verbände“ und durch die Regierung Cuno, welche die Reichszentrale für Heimatdienst und regionale think tanks in die ,geistige Landesverteidigung‘ einbanden. (Fahlbusch 1994a: 35–42, 66–67) Parteiübergreifender Konsens war zwar die Wiedervereinigung mit Österreich. Jedoch war die Sozialdemokratie noch 1923 nicht bereit gewesen, dem völkischen Zirkel Pechels Arbeitsgemeinschaft beizutreten. (PAAA, Kult VIA, 2/11 Bd. 1, Protokoll 21.–23.9.1923: 10) Zu gross waren die Vorbehalte den nationalistischen Kräften gegenüber, die der österreichische Sozialdemokrat Karl Renner auf den Punkt brachte: Nicht demokratischer Nationalismus sei entstanden, „sondern durch die reaktionäre dynastische Gewalt der Waffen begründet […]. Nicht die Nation trat in Deutschland die Herrschaft an, nicht sie benutzte den Staat als Werkzeug ihrer Kultur, wie Philosophen und Dichter geträumt. Binnen kurzem war das Reich das Werkzeug der Junker und diente anderen Zwecken. Das bürgerliche Nationalitätsprinzip ging in mannigfacher Verballhornung über in die Hände alldeutscher Gruppen und irredentistischer Sekten; die kulturelle und politische Idee der Nation entartete bei ihnen zum Rassenfanatismus und Teutonismus, zu lächerlichem Sprachreinigungs- und Wodansfirlefanz und derlei geschmacklosen Spielereien mehr. Der nationale Gedanke aber, als die hervorragende Ideologie der Zeit und beherrschende Denkweise der bürgerlichen Klassen, gewann einen neuen, im Wesen verschiedenen Inhalt. Der siegreiche Junker, als Ökonom wie als Bürokrat, bestimmte das nationale Ideal und die nationale Denkweise.“ (Renner 1918: 91). Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(3) 255. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. Der Alldeutsche Verband, der in der jungen Weimarer Republik in den fünf Jahrzehnten seines Bestehens insbesondere in den Industrie- und Handelszentren und im agrarisch geprägten Osten seinen höchsten Mitgliederbestand erreichte, schätzte in seiner Zeitschrift „Alldeutsche Blätter“ die französische Besetzung als zersetzend ein: „Im Westen strömt dauernd das unreine Blut der Besatzungstruppen in den Volkskörper, und last [but] not least der illegitime Blutzufluß von jüdischer Seite ist gerade in den Städten ein recht erheblicher.“ (Zitiert nach Hering 2003: 210, 110–153) Um die seit 1920 rund 2.000 geborenen Kindern von farbigen französischen Soldaten und deutschen Müttern entspann sich ein verfemender, der christlichen Logik zuwiderlaufender Diskurs (vgl. El-Tayeb 2001). Es handelt sich hierbei um einen Ethos, der typisch für eine Art von völkischem Nationalismus war. Propagiert wurde die „Restauration einer ‚organischen Nation‘ und ihrer Homogenität und Verwurzelung“. (Griffin 2005: 42) Die „assimilierten Juden [wurden] als Katalysatoren der Modernisierung“ der Zersetzung bezichtigt. Letztere stellten zunehmend für die christlichen Kirchen die Basis für Antisemitismus dar. (Gross 2000: 384). Dieser Nationalismus überspannte die Bürgerlichen in der Weimarer Republik von der Mitte über das Zentrum bis hin zu den radikalen Rechten in der DNVP genauso wie die Nationalsozialisten. Als parteiübergreifende Katalysatoren fungierten Jungkonservative, die konservativen Rechten der Weimarer Republik. (Vgl. Gross 2000; Hering 2003; Kauffmann et al. 2005) Als Reaktion auf die von vielen Akademikern als traumatisch empfundene Kriegsniederlage und die anschließenden Revolutionsereignisse entstanden neue Vereine. Das politische Klima nicht nur nach den schweren Ruhrkämpfen in der Novemberrevolution und dem Kapp-Putsch 1920, an denen neben den Freikorps auch die rechtsextreme Akademische Wehr Münster aus dem Umfeld der Deutschvölkischen Studentenschaft und DNVP beteiligt gewesen waren, hatten deutliche Zweifel an einem ‚einigen‘ deutschen Volke aufkommen lassen. (Vgl. Vieten 1982: 81–82, 85–118) Zur „Hebung des nationalen Gedankens“ in der Studentenschaft hatten sich Ende 1918 männerbündische Gruppierungen wie die „Fichte-Hochschulgemeinde“ in Berlin gebildet, die sich unter Berufung auf Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ (1808) als „Erziehungsgemeinschaft zur geistigen Erneuerung des deutschen Volkes auf völkischer Grundlage“ verstanden. Im Sommer 1919 schloss sich die „Fichte-Hochschulgemeinde“ mit mehreren Studentenverbindungen zum ersten „Hochschulring deutscher Art“ (DHR) zusammen. Von Berlin aus verbreitete sich die Hochschulringidee schnell auf andere Universitäten des Reichs. Der DHR wurde neben der Deutsch-Akademischen Gildenschaft das Sammelbecken völkischer Studenten, und aus ihm gingen hochkarätige Nationalsozialisten wie Werner Best hervor. (Hermand 1988: 103–130; Herbert 1996: 53–54, 57–63; Haar 2000: 70–76) Während die DNVP den Antisemitismus in ihrem Parteiprogramm 1924 festgeschrieben hatte, beteiligte sich die Zentrumspartei, die den Katholizismus in der Weimarer Republik stark politisierte, zusammen mit der Deutschen Volkspartei und Sozialdemokratie an den Regierungen bis 1932. Sie blieb jedoch politisch in einen staatstragenden – den Regierungen der Weimarer Republik verpflichteten – und einem radikal antiparlamenta-. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(4) 256. Michael Fahlbusch. rischen, die Demokratie ablehnenden Flügel, gespalten. (Vgl. Gross 2000: 150–154; vgl. Hering 2003: 60–85; Conze 2005: 27–56) Das Zentrum galt mit dem Rechtskatholiken Martin Spahn, der 1922 zur DNVP wechselte, und dem Münsteraner Prälaten und Volkstumspolitiker Georg Schreiber als rechtskonservativ. 1923 erreichten rechtskatholischeNaziaktivitäten ihren Zenith. (Hastings 2012: 108, 115) Der in den frühen 1920er Jahren an der Universität Bonn lehrende Jurist Carl Schmitt förderte diese Richtung markant: Nicht nur hatte Schmitt in seiner „Politischen Theologie“ die Volksnomostheologie als konkretes Ordnungsdenken zu einer Annäherung zwischen völkisch-protestantischen und rechtskatholischen Kreisen weiterentwickelt. Sie mündete unter der Parole ‚Christentum und Deutschtum‘ Ende der 1920er Jahre in die „Christlich-deutsche Bewegung“. (Vgl. Gross 2000: 69, 79–92; Hering 2003: 80–83; Schneider 2008: 721–729) Schmitts Arbeiten zum Katholizismus und der Inquisition stellten ein antifranzösisches, antidemokratisches Ordnungsmodell in der frühen Weimer Republik zur Disposition, welches insbesondere auch von konservativen Rechten der iberischen Halbinsel rezipiert worden ist. (Vgl. Gross 2000, 142–154, 163–181; Mikunda-Franco/Casanova/Poblet 2010: 379–397). 2 Das deutsche Volk wird völkisch Der in der Weimarer Republik dominierende Volks- und Raumdiskurs schließt an die politische Romantik an. So existierten mehrere Stränge: Jener auf dem Jus Sanguinis beruhende, der ‚Volksnation‘ verpflichtete mit der möglichen Aberkennung staatsbürgerlicher Rechte, wenn das kollektive Interesse gefährdet sei, die sich schließlich im Dritten Reich durchsetzte; die Vorstellung der Kulturnation, der die Gleichheit innerhalb der durch die „deutsche Sprache gestifteten Kulturgemeinschaft“ postulierte; ferner die erst nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzte „Klassennation“ im Osten und die der „Staatsbürgernation“ im Westen Deutschlands – einer politischen Perspektive des Kalten Kriegs. (Vgl. Hering 2003: 41–43, 450–453) Ein zentraler Unterschied bestand darin, dass die beiden ersten Diskurse auf Vorstellungen eines organizistischen ‚Volkskörpers‘ basierten. Sie beruhten auf darwinistischen Prinzipien und rückwärtsgewandten elitären, ständestaatlichen Gesellschaftsvisionen, die keinerlei rechtsverbindlich anerkannte Außengrenzen des etatistischen Begriffs „deutsche Nation“ lieferten, respektive diese sukzessive auflösten zugunsten eines imaginären Sprach- und Kulturbodens. (Hering 2003: 44–58; 59–88) Im deutschen Kaiserreich existierten überwiegend katholische Minderheiten aus Polen, die nicht nur als Landarbeiter im Osten Preußens lebten, sondern in die Industriezentren in Schlesien und im Ruhrgebiet migrierten, sowie Wenden (Sorben), Elsässer und Lothringer, die alle der Zentrumspartei nahestanden. Neben Polen und Wenden existierte eine slawische (überwiegend protestantische) Emanzipationsbewegung in Böhmen und Mähren, die einen starken Auftrieb in der nationalen Mobilisierung durch Schutzvereine und Lobbyisten erfuhr. Nicht Sprache, sondern Religion stellte das Trennende insbeson-. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(5) 257. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. dere in agrarisch geprägten bilingualen Gebieten dar. (Vgl. Hahn 2007; Hering 2003: 63, 426–433, 441, 450–453; Wingfield 2004; Haslinger 2009) In Frankreich wie auch in den USA setzte sich indes mit der Politisierung des Begriffs ‚peuple‘ und ‚people‘ eine semantische Verbindung mit republikanisch-liberalen Werten durch, indem der Volksbegriff in der ‚Nation‘ aufging, die als Träger der politischen Souveränität konzipiert waren, gleichwohl auch eine Differenz darin sich niederschlug. (Vgl. Agamben 2002: 186–189) Diese Semantiken wurden seit den 1780er Jahren, nachdem die Romantik dem deutschen „Volk“ eine neue Funktion durch Sprache und Kultur in der gesellschaftlichen Hierarchie zuteilwerden liess, über Jahrzehnte hinweg religiös, ethnisch, rassisch oder biologisch begründet. Religiöse Devianz von deutscher Bürgerlichkeit und gesellschaftliche Delinquenz wurde durch polizeiliche Massnahmen verfolgt. Zugleich entwickelte sich neben der „aufklärerischen Geschichtsschreibung […] schon am Ende des 18. Jahrhunderts eine von außenpolitischen Interessen“ geleitete Geschichtsschreibung. (Willkomm 1979: 33–52; vgl. Weymar 1961: 40–49, 150–157, 178–182) Der um 1800 entstehende Korpus von ethnopolitischen Wissensdiskursen, die mit Grellmann in den 1780er Jahren über die imaginierte deutsche Ethnizität begonnen hatten, lieferten schliesslich in der politischen Romantik mit den „Germanomanen“ – wie der Zeitgenosse Saul Ascher kritisch Fichte und dessen Weggefährten bezeichnete – die Grundlage für nationale Wiedergeburtsphantasien. (Hagemann 2002: 231, 244–280) Wurde die französische Revolution anfänglich von vielen deutschen Denkern begrüsst, wandten sie sich jedoch bald vom jakobinischen Modell ab und bildeten im Umfeld der Patrioten Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt, Joseph Görres oder Friedrich Ludwig Jahn einen Volks- und Nationsbegriff als Alternative zum französischen Volksbegriff. (Link 2012: 305–310) Auf Sprache und Ethnizität abgestellt, verschob sich die Bezeichnung vom gemeinen Landvolk, dem Pöbel, zum Untertanenvolk, welches durch urtümliche Bilder deutscher und nichtdeutscher Stereotypen in den Selbstbegründungsdiskurs der Nationsgründungen des 19. Jahrhunderts mündete. Bezüglich der Überlegenheitsmerkmale der imaginären ‚ursprünglichen‘ Deutschen, ihrer (Rasse-)Reinheit und absoluten Eigenständigkeit, die mit Xenophobie vermischt waren, nannte Fichte bereits: „Deutsch heißt schon der Wortbedeutung nach völkisch, als ein ursprüngliches und selbstständiges, nicht als zu einem Andern gehöriges, und Nachbild eines Andern.“ (Fichte zitiert nach Krovoza 2010: 989). Zur Hypertrophierung völkisch-nationaler Ressentiments und Vergemeinschaftungsformen trugen Heinrich von Treitschke im Berliner Antisemitismusstreit 1879 bei sowie Ferdinand Tönnies soziologisches Hauptwerk (Gemeinschaft und Gesellschaft). (Vgl. Felden 1965; Tönnies 1887; Fahlbusch 1997: 283–287; Hering 2003: 190, 358) Gegen diese Trivialisierung verwehrte sich nicht nur Theodor Mommsen. Max Weber argumentierte, nachdem er 1899 aus dem Alldeutschen Verband ausgetreten war, auf dem 1. Soziologentag 1910 gegen simplifizierende Typologien wie Rasse und tribalistische Erkenntnisobjekte. (Vgl. Peukert 1989: 93–97) Er arbeitete zudem in seinem Grundlagenwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“, welches im Hauptbestand vor 1914 entstand, u.a. die Idealtypen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung konzise heraus. Er verwahrte sich bis an sein Lebensende gegen ethnisch-nationale Kollektivbegriffe als. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(6) 258. Michael Fahlbusch. objektive Wahrheiten. (Vgl. Weber 51972: 234, 549; Fahlbusch 2000: 116–126) Noch auf dem 7. Deutschen Soziologentag 1930 in Berlin bestanden gegenüber den Ausführungen der völkischen Wissenschaftsvertreter Hermann Aubin, Willy Hellpach und Josef Nadler kritische Vorbehalte im Wissenschaftsfeld der Soziologie durch Friedrich Hertz und Werner Sombart. (Haar 2000: 90–95; Köster 2002: 172–174; Hering 2003: 169, 179)1 Der Leipziger Siedlungshistoriker Rudolf Kötzschke verwies die Theorie, dass ‚Urgermanen‘ das führende Bauernvolk gewesen seien, in den Bereich der politischen Romantik, stellte aber in Aussicht, dass dieser Mythos von aussenpolitischem Nutzen sein könne. (Vgl. Haar 2000: 25–44) Völkische Vertreter erinnerten deshalb in der Weimarer Republik genauso an die Weggefährten Fichtes, Jahns und Görres’, wie an den Vordenker und Vernichtungsantisemiten Hartwig Hundt-Radowsky. Der im Alldeutschen Verband aktive Weimarer Literaturwissenschaftler Adolf Bartels, der zeitlebens von den Universitäten verschmäht wurde und dennoch 1937 den Ehrendoktortitel der Universität Leipzig erhalten sollte, oder der völkische Antisemit Theodor Fritzsch zählten hierzu. Selbst der Westforscher Paul Wentzcke verwies auf die Bekanntschaft Görres und Hundt-Radowsky in Strassburg. Der frühmoderne Antisemit und streitbare Weggefährte der ‚Germanomanen‘, der wegen seiner demagogischen Schriften nach Strassburg und später in die Schweiz flüchtete, wo er in der Nähe Berns 1835 verstarb, gilt als programmatischer Vernichtungsantisemit des frühen 19. Jahrhunderts. Rezipiert wurde er ausser in Adolf Bartels Deutscher Literaturgeschichte, bei Karl Alexander von Müller und Paul Wentzcke. (Bartels 1924, Bd. 2: 123; vgl. Fasel 2010: 180; Berg et al. 2006) Hartwig Hundt hatte in der „Judenschule“ und dem „Neuen Judenspiegel“ klassische antisemitische Vernichtungsphantasien 100 Jahre vor den Nationalsozialisten publiziert, welche mehrfache Auflagen erreichten. (Vgl. Fasel 2010) Karl Alexander von Müller gehörte zu jener Gruppe völkischer Historiker, die im 1929 von Alfred Rosenberg gegründeten Kampfbund für Deutsche Kultur eine Rolle gespielt hatten.. 3 Phantomgrenzen: Ethnopolitische Wurzeln des völkischen Diskurses Eine Wegmarke bildete 1815, als zu Beginn des Deutschen Bundes die Definition der Westgrenze durch die ‚Germanomanen‘ (Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Ludwig Jahn) Auftrieb erhielt. Sie versuchten der von französischer Seite geforderten Rheingrenze ein deutsches Modell entgegenzusetzen. Die Väter des deutschen Patriotismus gingen noch von einer Sprachgrenze aus, die mit Naturgrenzen von Gebirgs1. W. Oberkrome suggeriert indes eine positive Aufnahme der völkischen Wissenschaftler auf diesem Soziologentag, was indes nur bei den Vertretern der völkischen Deutschen Soziologie wie Freyer und Ipsen der Fall war. Vgl. Oberkrome 1993: 97. Arnold Hausers grosse Sozialgeschichte der Kunst und Literatur in der frühen Bundesrepublik kam schließlich gänzlich ohne die volkstheoretischen Erkenntnisse der Völkischen aus. (Hauser 1951). Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(7) 259. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. kämmen oder Flüssen übereinstimmen sollte. Diese Grenzen stellten deren Auffassung zufolge sowohl sprachliche wie militärische Barrieren dar, die in optimalen Grenzlinien exakt bestimmt werden konnten. Allerdings fiel dieses Konzept wenige Jahre später bereits zugunsten der „Sprachgrenze“. Diese sollten mittels Umsiedlungen anderssprachiger Bevölkerungen oder Assimilation konkretisiert werden. Sie seien bereits zu diesem Zeitpunkt von den Protagonisten (Arndt) durchaus in Erwägung gezogen worden, um die „balance of power“ zwischen den europäischen Staaten zu gewährleisten. Mit Begriffen wie „Grenzland“ und „Grenzmarken“ für die rückwärtigen Schutzzonen wurden erste Raumkonstrukte in den Diskurs nach dem Zweiten Pariser Frieden 1815 aufgenommen. (Müller 2009: 65–70; vgl. Jureit 2012) Erst die durch den völkisch-konservativen Historiker Wolfgang Menzel (1798–1873) im Verlaufe der Rheinkrise 1840 ins Spiel gebrachte Ausweitung der mittelalterlichen Reichsgrenze nach Westen an das Pariser Becken und bis nach Burgund radikalisierte den Grenzdiskurs, welcher jedoch erst wieder 80 Jahre später von den Jungkonservativen aufgenommen wurde. Menzels Ausführungen gerieten weitestgehend in Vergessenheit und sind erst 1929 – irrtümlicherweise die Urheberschaft Helmuth von Moltke zuschreibend – durch Ernst Niekisch im Widerstand-Verlag neuaufgelegt worden. (Vgl. Müller 2009: 78) Grenzverläufe als Grenzlandschaften versinnbildlicht hatte Wilhelm Heinrich Riehl seit den 1860er Jahren. Die Verschränkung verschiedener geographischer, politischer und ethnischer Raumebenen, die Riehl im Begriff der mittelalterlich verstandenen „Mark“ definierte, produzierte je eigene Räume und Abgrenzungen von Deutschen, Ungarn oder Kroaten. (Müller 2009: 92–97) Der Historiker und Vertreter alldeutscher Expansionsbestrebungen, Heinrich von Treitschke, forderte 1870 schließlich eine ethnische Dekomposition Frankreichs, die er zusätzlich mit dem demographischen Argument der rückläufigen französischen Bevölkerung ergänzte, um eine Verkleinerung Frankreichs zugunsten Deutschlands und Belgiens zu begründen. (Vgl. Müller 2009: 100–106) Diese bevölkerungspolitische Argumentation fand schliesslich eine deutlich völkisch-nationalistische Wendung in den 1920er Jahren Eingang, Frankreich mittels ethnischer Parzellierung (Dekomposition) zu verkleinern. (Vgl. Müller 2009: 338–346; Vienne 2010) Bezogen auf Osteuropa entwickelte der völkische Literat und Antisemit Gustav Freytag in seinem Werk „Soll und Haben“ Grenzvisionen, indem er das Ringen zwischen Germanen und Romanen auf den Kampf gegen Slawen in Mittel- und Osteuropa übertrug. Freytag legitimierte die Kolonisation des Ostens mit der ,Nichtanwesenheit‘ der einheimischen Nationen. Diese Phantasien wurden von den völkischen Verbänden im Kaiserreich weiter entwickelt. (Weger 2010: 263–264; Köster 2002: 103, 170–172; Achinger 2010; Schwendemann 2010; Jureit 2012: 75–158). 4 Die Verräumlichung der Sprachen Eine lineare Grenze gen Osten sollten jedoch Sprachenstatistiken und -karten liefern. Zwar wurden in Belgien, Preußen und Italien bereits seit 1840 statistische Methoden zur. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(8) 260. Michael Fahlbusch. Spracherfassung eingeführt. Doch erst seit dem Internationalen Statistischen Kongress in St. Petersburg 1872 beruhte die Sprachenkarte ausschliesslich auf der amtlichen Sprachenstatistik. (Vgl. Pinwinkler 2011: 188) Mit dieser identifiziert wurden Stammes- und Volkstumskarten, die sowohl in der aufkeimenden Nationalitätenbewegung im Kaiserreich Österreich Ende des 19. Jahrhunderts als auch in der Weimarer Republik in der Regel in roter Farbe für die ‚eigenen‘ Völker gehalten waren. (Vgl. Fahlbusch 1994a; Haslinger 2010; Keményfi 2010) Tatsächlich hatte Österreich 1923 begonnen, im Zensus nicht mehr nur Sprache, sondern auch die Rasse als Selektionskriterium einzuführen. Damit gelang frühzeitig eine vom katholisch-nationalistischen Lager geforderte Abgrenzung von Slawen und Juden. (Vgl. Pinwinkler 2009: 118; vgl. Stingelin 2004) Mit der Einführung der Sprachenstatistik durch den Preußischen- und Reichsstatistiker Richard Boeckh, dem Mitbegründer des später so genannten Verein für das Deutschtum im Ausland, beginnt eine neue Phase der Auffassung von nunmehr linearen Sprachgrenzen, die das Problem der bilingualen Sprachgebiete umgingen und sich nicht mehr an natürlichen Grenzverläufen orientierte. Besonders hervorgehoben wurden sogenannte deutsche Sprachinseln in Osteuropa und die Deutschen im Ausland, worunter auch die deutschsprachige Schweiz verstanden wurde.2 Der zwischen Deutschland und England am 1. Juli 1890 abgeschlossene HelgolandSansibar-Vertrag führte zu einer zweiten Gründungswelle hegemonialer Vereinigungen, an deren Spitze der bereits erwähnte ADV stand. Interessant sind die Mitglieder wie Gustaf Kossinna, Dietrich Schäfer, Friedrich Ratzel, Karl Lamprecht, Max Weber, Siegfried Passarge, Heinrich von Treitschke, die den expansionistisch wie kolonialistisch ausgerichteten Diskurs ihres Verbands prägten. Die Mitglieder das ADV lesen sich wie ein who is who des deutschen Bildungsbürgertums, der Industrie und des Handels. (Vgl. Hering 2003: 171–185; Davis 2012). 5 Der Kampf gegen den kleindeutschen Diskurs Prononcierte Vertreter dieses ethnozentrischen Wissenschaftsfeldes, die den etatistisch geprägten kleindeutschen Diskurs umzuinterpretieren versuchten, fanden sich in den völkischen Verbänden wieder. Zweifelsohne war den Autoren, die mit der Gründung der Zeitschrift „Deutsche Erde“ eine populäre Plattform für diese Volkstumspolitik schufen, klar, dass eine systematische und statistische ethnographische Erfassung der europäischen Bevölkerung nicht ohne weiteres möglich sei. Denn die Problematik der Dissimilation angesichts des geringen deutschen Bevölkerungsanteils in den östlichen Grenzgebieten war schon während des Kaiserreiches bekannt und wurde von völkischen und liberalen Vertretern vehement mittels der ‚inneren Kolonisation‘ bekämpft. Die Verschärfung des 2. Boeckhs europäische Sprachenkarten mit ihren „Sprachinseln“ und „Übergangszonen“ wurden 1994 wieder gedruckt und gehören als völkisch-nationalistische Dokumente heute zum Kanon neokonservativer und rechtsextremer Kreise (Müller 2009: 90–91,104; Weger 2010).. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(9) 261. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. ‚Kampfs der Karten‘ (vgl. Köster 2003: 179–185; Herb 1997) begann einerseits durch Jubiläen wie der 600-Jahr-Feier der Schweiz 1891, oder anlässlich des 100. Jubiläums der Krönung Leopold II., in deren Folge die tschechoslowakische ethnographische Ausstellung 1895 durchgeführt wurde. (Vgl. Haslinger 2010: 95–100) Treitschke, Langhans und Ratzel forcierten die Deutungshoheit über die Territorialisierung des Nationalen. Es entstand ein Set der Mythenbildung, das die Entstehung von Räumen und Raumidentitäten erklären sollte (Regionalismen). (Vgl. Haslinger 2010: 4–33; Pinwinkler 2012: 28–35) Andererseits verdichteten die Volkszählungen in den 1890er Jahren nicht überprüfbare Behauptungen über deutsche Sprachgrenzen in den Randregionen des Deutschen Reichs und Cisleithanien. (Vgl. Haslinger 2010: 141–150) Diese mündeten in einer Serie von die deutsche Öffentlichkeit beeinflussenden, kartographischen Werken. Paul Langhans gab 1897 den deutschen Kolonial-Atlas heraus, in welchem er die „Karte der deutschen Ostkolonisation“ in Zusammenhang mit den restlichen Kolonialgebieten brachte. In seiner nur drei Jahre später erscheinenden Darstellung des Alldeutschen Atlas wurden die in dem Kartenblatt „Das Deutsche Reich einst und jetzt und seine Bewohner“ die Flächen der Gebiete, in denen überwiegend Deutsche wohnten, rot eingefärbt. Eine Farbe, die seit der Einführung des Mehrfarbendrucks fortwährend in ethnographischen und -politischen Karten wegen ihrer suggestiven, expressiven Wirkung, die Bevölkerung eines Landes als homogene Struktur zu präsentieren, auch in anderen Staaten eingesetzt worden ist, während andere Nationalitäten als „Undeutsche“ bezeichnet wurden, die in grün oder anderen Farben gehalten wurden. (Weger 2010: 246; Keményfi 2010; Jureit 2012: 159–178) Ratzel setzte die Sprachenstatistik seines Leipziger Kollegen Ernst Hasse umgehend in Bezug zu Stammes- und Kulturräumen. Der bereits erwähnte Bartels formulierte 1914 seine völkischen Kriegsziele: „Wir müssten das ganze westliche Rußland, ungefähr das Gebiet, das einst das Königreich Polen bildete, das Land, das im Osten von Düna und Dnjepr begrenzt wird, für uns nehmen und es rücksichtslos germanisieren.“ Zudem sah Bartels in seiner Denkschrift anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor, die Bewohner der stark überbevölkerten Gebiete Polens in die zu kultivierenden Sumpflandschaften auszusiedeln und die Ostjuden nach Palästina zu deportieren. (Bartels 1914: 5) Die deutsche Ostgrenze vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer bildete auch in den kommenden drei Dekaden reichlich Stoff zu weiterführenden Visionen und Denkschriften, insbesondere von Vertretern der Völkischen. Die alldeutschen Vertreter verschärften ihre Argumentation mit pejorativ besetzten Zuschreibungen wie ‚dekadente französische Kultur‘, ‚Nachlässigkeit‘ ‚Ungenauigkeit‘ und ‚Unkultur‘, womit diese auf ein diesen Völkern zugeschriebenes fiktives Kulturgefälle verweisen. Gegenüber frankophonen Belgiern und Elsässern und vor allem Franzosen wurde eine kulturelle und teilweise eine rassische „Überlegenheit“ postuliert. Völkische sprachen gar von „verwelschten Dörfern“ in der Schweiz oder verfolgten wie Hektor Ammann und Eduard Blocher im Deutschschweizerischen Sprachverein sorgenvoll die Verschiebungen der Sprachgrenze zur Westschweiz. (Müller 2009: 136, 147–151; Fahlbusch 2002) Mit Kurd von Strantz, der sich dreißig Jahre später noch der SS anzudienen. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(10) 262. Michael Fahlbusch. versuchte (Müller 2009: 173–174), steht ein Verfechter der Theorie des verwelschten Deutschtums in der mit Wehrbauern durchsetzten Westmark, die ihren Verlauf jenseits bisheriger Staats- und Sprachgrenzen hatte. Er hatte gefordert, nicht nur deutschsprachige Bewohner der Nachbarstaaten zu infiltrieren, sondern die flämische und die wallonische Bewegung in der völkischen Politik zu berücksichtigen. Als Argument führten einige völkische Akteure ins Feld, die „deutsche Kultur“ sei im Mittelalter allen anderen, so auch der romanischen, überlegen gewesen, und die unterlegenen Kulturen hätten die „Errungenschaften“ der Deutschen als „Kulturträger“ angenommen, wie dies bereits Julius Langbehn in seinem Werk „Rembrandt als Erzieher“ postuliert hatte. Historische Demographie lag zu jenem Zeitpunkt in der Hoheit der Wirtschaftshistoriker, Landeskundler und damit auch Geographen. Nunmehr bemächtigten sich politische Geographen, Prähistoriker und Geopolitiker dieses sprachgeschichtlich argumentierenden Diskurses. Gustaf Kossinna berief sich auf Friedrich Ratzel, um seine These zu untermauern, indem sich „zu allen Zeiten“ „[s]charf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen […] mit ganz bestimmten Völkern oder Volksstämmen“ deckten. (Weger 2010: 254) Damit waren die von den ‚Germanomanen‘ postulierten Prämissen zum Beginn des 20. Jahrhunderts in das wissenschaftliche Feld aufgenommen. Korrekturen fanden in den 1920er Jahren noch im kulturräumlichen Ansatz der Bonner und Leipziger historischen Landeskunde um Hermann Aubin, dem Germanisten Theodor Frings und Franz Steinbach statt, die nicht mehr die über 2000 Jahre währenden Siedlungskontinuitäten der Kulturräume zugrunde legten, sondern die Sprachgrenze als neuzeitliche ethnische Rückzugslinie betrachteten, um wieder an Menzels Axiom anknüpfen zu können. (Vgl. Oberkrome 1993; Fahlbusch 1999; Müller 2009) Zum völkischen Diskurs gehörte ferner die Instrumentalisierung von Bevölkerungsgruppen, der Einbezug etwa der germanisch-flämischen und -wallonischen Völkergemeinschaft Europas mittels derer Kurd von Strantz und der flämische Nationalist Robert van Roosbroeck die fortschreitende Verwelschung aufzuhalten versuchten. (Vgl. Müller 2009: 349–367) Ein während 100 Jahren kanonisierter Synkretismus historischer, geographischer, wirtschaftlicher, archäologischer, kultureller, biologischer und rassischer Stereotypen fand nach dem Ersten Weltkrieg Eingang in den Diskurs der wissenschaftlichen und politischen Publizistik.. 6 Exklusion im ethnopolitischen Raumdiskurs, Ausschluss von Juden und Roma Das Feld war wohl präpariert, als in der Weimarer Republik die Völkischen ihre Deutungshoheit übernahmen: Inflation, soziale Krisen und ein denkbar ungünstiger Friedensvertrag – als Diktat apostrophiert – taten ihr Übriges, um in intellektuellen Kreisen eine an die politische Situation angepasste Strategie zu entwickeln. In diesem Zusammenhang entstanden „Phantom Germans“ (Chu 2012: 21–62) wie „Schicksalsgemeinschaft“ der. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(11) 263. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. „Grenz- und Auslandsdeutschen“, des „Volk ohne Raum“ oder „Biopolitik“ und „Ethnopolitik“. Eingeführt wurden diese Begriffe von den völkischen Rechten in Weimar: Der Begriff „Biopolitik“ wurde durch Louis von Kohl in der Zeitschrift für Geopolitik im Jahr 1933 eingeführt (Schleiermacher 2005: 29; Müller 2009: 14; Pinwinkler 2012: 81) und stellt mit der 1932 von Max Hildebert Boehm entwickelten „Volkstheorie“ als „Ethnopolitik“ die zentralen Elemente dar, die sowohl bevölkerungspolitische, eugenische, darwinistische als auch ethnopolitische Massnahmen betrafen, die insbesondere vorerst auf das ‚gefährdete‘ Grenz- und Auslandsdeutschtum angewandt werden sollten. Daneben führten Staatsrechtler wie Norbert Gürke 1932 die Prämissen für die künftige NSVolksgruppenpolitik als neue Minderheitenpolitik zusammen, welche auf das Kollektiv des Grenz- und Auslandsdeutschtums bezogen sein sollte. Juden wurden weder „Bodenverbundenheit“ noch eine „völkisch-nationale Lebensfähigkeit“ zugeschrieben. (Rössler 1990: 66; Fahlbusch 1999: 103–106, 263–264; Haar 2000: 46–49, 300–304; Berg 2008: 183–184) Der Antisemitismus spielte in diesen völkischen Dispositiven eine grundlegende Rolle. Nach Klemens Felden gehörte das antisemitische Stereotyp im ausgehenden 19. Jahrhundert im Bürgertum zur „sozialen Norm“, oder nach Shulamit Volkov ist es zum „kulturellen Code“ geworden. (Felden 1965; Volkov 1990) Zu klären ist nun, wie dieses Stereotyp im Ausgrenzungsdiskurs mittels Karten und Statistiken umgesetzt worden ist. Max Hildebert Boehm gehörte zu den Vordenkern der „Konservativen Revolution“ und entwickelte neben Hermann Raschhofer und Norbert Gürke mit seiner Volkstheorie eine Grundlage der Ethnopolitik, letztlich ein völkisches Nationalitätenmodell unter Ausschluss der Juden bereits vor dem „Entscheidungsjahr 1932“ (Mosse). Boehm erklomm den ein Jahr später eingerichteten Lehrstuhl an der Universität Jena. (Vgl. Prehn 2006; Klingemann 2009: 123–164; Conze 2005: 49; Salzborn 2008) Dezidiert brachte sein Beitrag in der Zeitschrift „Der Ring“ über die „Judenfrage und das neue Deutschland“ im Vorfeld des 9. Nationalitätenkongress in Bern 1933 den völkischen Konsens über die künftige Rolle der Juden in Europa auf den Punkt. Boehm vertrat darin die Überzeugung, der jüdischen Bevölkerung in Deutschland stünde im Gegensatz zu den autochthonen deutschen Minderheiten im Ausland, insbesondere was die Minderheitenschutzrechte im Bildungs- und Vereinswesen anbelange, nicht der Status einer „Volksgruppe“ zu, weil es den Juden in Deutschland nicht gelungen sei, sich selbst als ein eigenständiges Volk zu begreifen. Sie seien in sozialer und kultureller Hinsicht den Deutschen nicht gleichgestellt. Boehm konterkarierte den Anspruch der deutschen Juden, sich als gleichberechtigte Minderheit im Deutschen Reich oder in Europa zu legitimieren, weil sie als ‚landloses Volk‘ keinen Schutz einer Nominalnation aufweisen würden. (Vgl. Haar 2006; Berg 2008: 153–161; Klingemann 2009: 132–133, 236–250) Der Unterausschuss für Minderheitenrecht des Ausschusses für Nationalitäten in der Akademie für Deutsches Recht befasste sich in den 1930er Jahren mit dem Problem wiederholt und tilgte Juden und Sinti und Roma (Zigeuner) aus den europäischen Statistiken. Bevölkerungsstatistiken und Bevölkerungsplanungen wurden juristisch untermauert. Dieser Herrenrunde gehörten wiederum völkische Wissenschaftler an: Karl Christian von Loesch und Max Hildebert Boehm, bei denen kroatische Ustascha-Anhänger studiert hat-. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(12) 264. Michael Fahlbusch. ten, sowie Norbert Gürke, Carl Schmitt, Karl Gottfried Hugelmann und der Völkerrechtler Hermann Raschhofer. Letzterer wirkte nicht nur an der Bearbeitung nationalitätenrechtlicher Fragen im Reich mit, sondern auch an Problemen der „Schutzangehörigen“ in Polen und der Tschechoslowakei, die vom deutschen Volk zu scheiden seien. Hervorzuheben ist, dass sowohl Gürke, Boehm als auch Raschhofer ihre konservativ-revolutionär geprägten Arbeiten über das Volksgruppenrecht und die völkische Ethnopolitik bereits vor dem Ende der Weimarer Republik abgeschlossen hatten. Loesch, Boehm und andere völkische Wissenschaftler waren Mitverfasser der Denkschrift „Rasse, Volk, Staat und Raum in der Begriffs- und Wortbildung“ (Denkschrift 1938) des „Ausschusses für Nationalitätenrecht“, die von der „Akademie für Deutsches Recht“ 1938 nach vierjähriger Arbeit vorgelegt wurde. Dieser Ausschuss erarbeitete die neuen bevölkerungspolitischen und terminologischen Richtlinien des Dritten Reichs. Wurde bis dahin im Amtsjargon noch der Begriff „Deutschstämmiger“ für den Staatsbürger deutscher Abstammung verwandt, so trug dieser Ausschuss neben der Aufteilung in eine Rassen-, Volks- und Staatszugehörigkeit auch zur Definition der Begriffe „Reichsdeutsche“, „Auslandsdeutsche“ und „Volksdeutsche“ bei. Und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass eine „einheitliche, unter der gesamtdeutschen Haltung des Nationalsozialismus ausgerichtete Gesetzes- und Rechtssprache“ in der Nationalitätenpolitik des Dritten Reiches, d.h. dem Volksgruppenrecht, erzielt werden sollte. Zudem unterschied die Denkschrift zwischen bodenständigen und nicht bodenständigen Stämmen, womit eine Abwertung der jüdischen Bevölkerungsgruppen und Sinti und Roma erfolgte. (Vgl. Fahlbusch 1999: 103–106, 472–479; Haar 2000: 303–318; Berg 2008: 194–195; Klingemann 2009: 132–138, 152–158; Denkschrift 1938; Salzborn 2008: 52) Die übergreifende Klammer dieser Arbeiten bildete „Bodenständigkeit“. Der „Minderheitenausschuss in der Akademie für Deutsches Recht“, formulierte zudem „Bodenständigkeit“ als „Rechtskriterium und als wissenschaftlichen Terminus“. Begründet durch völkischen Rassismus wirkte sich die Definition in einer konkreten Aussonderungspolitik aus. Das Konzept „Bodenständigkeit“ für Völker diente nicht nur als Scheidelinie für die NS-Volksgruppenpolitik, sondern auch für Gewaltanwendung. Nichtbodenständige Völker stellten nach dieser Rechtsauffassung die gefährdetste Gruppe dar. (Haar 2000; Berg 2008) „Volksbiologie“ im Kontext einer künftigen Ostexpansion bedeutete: Das Überleben eines Volkes könne nur bei „gesunden bäuerlichen Verhältnissen“ gesichert werden. Zur Dissimilation der osteuropäischen Juden diente das „Volksgruppenrecht“. Die auf die Bevölkerungsgruppen in Osteuropa übertragenen Nürnberger Rassengesetze stellten mehr oder weniger die Entscheidungsgrundlage dar, welche in den deutschen „Volkskörper“ aufgenommen, ‚germanisiert‘ werden sollte. Die Denkschrift „Rasse, Volk, Staat und Raum“ enthielt jene statistisch-ethnographischen Kriterien, nach denen Volkstumskarten angefertigt wurden. Zunächst unterteilte man in Groß- und Kleinvölker, sodann wurde die Frage nach der „Bodenständigkeit“ gestellt. Der Ausdruck war – wie eingangs erwähnt – seit dem 19. Jahrhundert keine Metapher, sondern bedeutete „Verbundenheit mit dem Boden“. Er galt nun als entscheidendes Kriterium der nationalsozialistischen Volkstumspolitik. Polen wurden als „bodenständig“ zwar anerkannt, Juden und Roma. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(13) 265. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. nicht. In der suggestiv-kartographischen Visualisierung des völkischen Lebensraumes waren Juden ‚farblos‘, unsichtbar und getilgt. Juden und Zigeuner verschwanden zuerst aus Statistiken und ethnographischen Karten offizieller Regierungsstellen in Europa. Ihre spätere Zwangsumsiedlung und Deportation war am ‚grünen Tisch‘ vorweggenommen worden. Protokolle der Besprechungen in der Volksdeutschen Mittelstelle vermerkten explizit, dass man in der Praxis bei der „Ermittlung der Volksböden so zu verfahren [habe], als gäbe es keine Juden […].“ (Haar 2000: 311–312; Berg 2008: 194–195; Fahlbusch 1999: 103–106, 472–479; Schlögel 2005). 7 Ethnopolitischer Diskurs bei Ratzel und seinen Epigonen Hatte die Gründung des Deutschen Reichs 1871 nicht nur einen Wirtschaftsaufschwung und einen entsprechenden Arbeitskräftemangel beschert, sondern auch eine enorme Binnen- und Zuwanderung insbesondere von Polen aus Galizien und „Kongresspolen“, so stand vielmehr auch die Frage des Umgangs mit den ethnischen Polen zur Debatte. Das „Gesetz zur Förderung des Deutschtums“ aus dem Jahre 1898 dürfte deshalb maßgeblich zur Vorbereitung eines verschärften Jus Sanguinis und des nicht-republikanisch ausgerichteten Staatsbürgergesetzes gewesen sein.3 (Vgl. Kury 2003: 24–25) Unter diesem Aspekt ist im weiteren Ratzel zu lesen. Die Behauptung „Ratzel war kein Antisemit und hat auch den Gedanken von Rassereinheit als Fiktion zurückgewiesen“ findet in der Geographie hin und wieder Anklang und wird besonders in der Fachdidaktik betont. (Köster 2002: 170; vgl. Schultz 2006, 2010b) Sie ist vor dem Hintergrund zu überprüfen, weil sich bei Ratzel eine deutliche Anlehnung an die vorgängig dargelegte „Bodenständigkeit“ der Völker findet. Die Gesetzmäßigkeiten wie wachsende Räume und ihre Entwicklung zu großen Imperien schlugen sich in Elementen wie der geographischen Lage in der Wechselwirkung zur Kultur nieder. Allerdings benötigten nach Ratzel große Rassen mit spezifischen Kennzeichen große Räume, um durch die unausweichliche Rassenvermischung den rassischen Kern im Zentrum zu schützen. Hierin spiegelte sich ein biologistisches und kulturhistorisches Verständnis von der „Einwurzelung“ der Menschen in ihren Boden. Je intensiver die Einwurzelung sei, so Ratzels Anthropogeographie zufolge, desto höher stehe das Kulturniveau. (Vgl. Ratzel 21899: 211, 100, 229–256) Ratzel schuf mit seinen Gesetzen der Bewegung, der Lage und des Raumes eine organische Raumauffassung, die die Einheit von Mensch, Boden und Erde auf ein rein organisches Verhältnis reduzierte. Mit dieser Theorie begründete er selbst die territoriale Zerstückelung Preußens 1806, indem er den Staat mit Organismen niederer Ordnung verglich. Er schlussfolgerte, nur auf einer nied-. 3. Vgl. Burckhardt, Walther (1913): „Die Einbürgerung der Ausländer“. In: Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft 27: 105.. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(14) 266. Michael Fahlbusch. rigeren Stufe des Lebens könne der Körper nach der Zerstörung eines lebenswichtigen Organs weiterleben. (Vgl. Ratzel 1897; vgl. Jureit 2012: 127–158) Durch diese darwinistische Sichtweise eines „organischen Raumes“ und dessen gesetzmäßigen Wachstums hatte Ratzel die „Grenzlinien“ in natürliche „Grenzsäume“ aufgelöst (vgl. Müller 2009: 107–112) und diese Begrifflichkeiten einer permanenten Dynamisierung unterzogen. Die Schweiz bezeichnete Ratzel im Nachgang ihrer 600-Jahrfeier als „Bruchstücke“ neben anderen Kleinstaaten, die „unser Land“ von der Mündung und den Quellen nicht immer trennten, zumindest bis 1499. (Vgl. Müller 2009: 121) Damit traf sich einerseits das völkerrechtliche Selbstverständnis des Mitbegründers des Alldeutschen Verbands mit dem Karl Lamprechts, Dietrich Schäfers, Gustaf Kossinnas, Paul Langhans’ und anderen, welches nicht auf kleine Staaten anzuwenden sei, andererseits bot Ratzel den Germanophilen in der Deutschschweiz damit eine Steilvorlage sich dem Kaiserreich anzunähern. In Ratzels Gedankengebäude schlug aber auch der verbreitete Antisemitismus des Bildungsbürgertums im Kaiserreich durch. Er setzte in seiner „Politischen Geographie“ Juden, Zigeuner, indigene Völker Afrikas und „zahllose ähnliche Existenzen“ der Klasse „[l]andlose Völker in zerstreuter Verbreitung“ gleich. Ratzel postulierte, dass diese ‚kulturarmen‘ Völker zwangsläufig den überlegenen Kulturen weichen müssten und seiner darwinistischen Kulturdefinition zufolge zum Untergang verurteilt seien. (Vgl. Ratzel 1897: 35–40, 118–120) Inwieweit dieser Vorgang des ‚Verschwindens‘ der ‚landlosen Völker‘ durch physische Vernichtung oder Assimilation erfolgen sollte, liess Ratzel jedoch offen, obwohl er das Beispiel der nordamerikanischen Indianer oder der Sklaverei anführte.4 Damit stand er Heinrich von Treitschke in nichts nach, dem zufolge das „Völkerrecht […] zur Phrase [werde], wenn man dergleichen Grundsätze auf barbarische Völker“ anwenden wolle. (Vgl. Lindqvist 1999: 192–199; vgl. Schultz 2010b: 124–126) Mit Treitschke verband Ratzel ferner die Vorstellung, dass Deutschland ein Völkergemisch sei und fremde Bevölkerungsgruppen assimilieren, also germanisieren könne. Nach Schultz (2010b: 130) soll Ratzel jedoch eine „rassisch motivierte Verdrängungspolitik als Vernichtungspolitik“ nicht geführt haben. Allerdings hat Schultz bis heute Ratzels Ausführungen über die Juden ignoriert. Nationalitätenpolitik wurde von Ratzel zwar als „Rückschritt ins Unterritoriale“ dort stigmatisiert, wo sich hinter der „nationalen Idee“ eine politische Einigungsbewegung verbarg, die sich mit „der geographischen“ verband. Allein eine auf „Volk“ und „Sprachgemeinschaft“ orientierte Politik werde sich „dauernd der geographischen Politik gegen4. Vgl. zu Ratzels delegitimierenden völkerrechtlichen Vorstellungen auch meine Ausführungen in der Rezension über Thomas Müller auf der Plattform Raumnachrichten 2011: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1471-michael-fahlbusch-grenze-als-kampfraum <28.8.2013>. Zur Kritik Ratzels und insbesondere seiner im Verhältnis zu anderen humanistischen deutschen Bürgerlichen unverhältnismäßig pejorativen Einstellungen gegenüber indigenen Bevölkerungen (z.B. Abschaffung der Sklaverei) vgl. aktuell: Bradley Naranch, Global Proletarians (2013):Uncle Toms, and Native Savages. Popular German Race Science in the Emancipation Era. In: Mischa Honeck/Martin Klimke/ Anne Kuhlmann (eds.), Germany and the black Diaspora: points of contact, 1250–1914, New York, Oxford: 169–186.. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(15) 267. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. Abb. 1: Friedrich Ratzel: Volkstumskarte Deutschland. Leipzig 1898. über nicht behaupten können, die zunächst den Boden im Auge hat.“ (Zitiert nach Schultz 1989: 20). Ratzels ambivalente politische Haltung gründete darin, dass er für eine Assimilierungspolitik eintrat. Neben der Inklusion verfolgte er eine Exklusion und extern ausgerichtete Politik. Zugleich befürwortete er den Kulturaustausch, weil durch die „Lage der Deutschen in Mitteleuropa […] sie bereit sein müssen, fremde Elemente in sich aufzunehmen, ohne daß diese fremd bleiben, und ohne daß durch ihr Fremdtum die alten Volkseigenschaften angegriffen“ würden. Die Kulturpolitik sah er als „ganz in derselben Lage gegebenen Aufgabe des deutschen Staats. […] Aber beide Aufgaben decken sich nicht.“ (Ratzel 1898: 301–302) Er entwickelte acht Jahre vor der Gründung der kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts eine Vision, wie die künftige Kulturpolitik des deutschen Reiches auszusehen habe. Friedrich Ratzel umschrieb bereits 1898 in seinem Deutschlandbuch neben seinem innenpolitischen Dispositiv der inneren Kolonisation und Assimilation auch die Kulturpolitik, die auf eine kontinentalbezogene kulturelle Hegemonie hindeuten. Seine Leipziger Kollegen Karl Lamprecht und Ernst Hasse bezogen sie mit in ihre Überlegungen ein. Als auswärtige Kulturpolitik bezeichnete Ratzel die doppelte Bilanzierung von „Verlust und Gewinn“ eines Volkes. Während die Messgrössen auf der innenpolitischen Seite durch die. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(16) 268. Michael Fahlbusch. Abb. 2: Willi Ule: Mitteleuropa Völker- und Sprachenkarte. Leipzig 1915. statistischen Angaben seiner Meinung nach leicht erfassbar seien, wäre die Schätzung der „Kraft des deutschen Volks“ hingegen mit „so einfachen Mitteln“ nicht möglich. Er empfahl daher „tiefe Einblicke in die Beziehungen der Deutschen zu allen ihren Nachbarvölkern.“ Die ethnisch „verwirrende Vielseitigkeit unsrer nationalen Probleme [reichen…] von den Vlamen im französischen Norddepartement bis zu den Deutschen an der Wolga und von den Deutschen an der dänischen und friesischen Grenze in Schleswig bis zu den Sprachinseln von Gottschee und Görz […]. Hier gehen uns Deutsche als Einzelne […] verloren, dort schreitet das Deutsche als wirtschaftlicher oder geistiger Einfluß vorwärts, der Einzelnen aus dem fremden Volk die deutsche Sprache aufzwingt.“ (Zitiert nach Fahlbusch 1997) Er differenzierte sowohl in seiner „Anthropogeographie“ als auch in seiner „Politischen Geographie“ in politische Grenzen und in „Völkergrenzen“, die sich in Sprachgrenzen ausdrücken würden. Ratzel betonte, dass es keine absoluten auf ewige Zeiten unveränderlichen politischen Grenzen gebe. „Völkergrenzen“ hatten bei ihm bereits eine größere Bedeutung als vergleichsweise junge Hoheitsgrenzen von Staaten. Als „gute Grenzen“ befand er solche, die möglichst viele „Stammesangehörige“ umschlossen. (Ratzel 1897: 449, 453, 494) Gleichwohl weist seine im Deutschlandbuch 1898 veröffentlichte Sprachenkarte auf die slawischen Minderheiten im Osten des Deutschen Reiches hin. Juden werden indes als „ohne Farbe“ in der Legende gekennzeichnet. Diese Signatur entspricht dem gängigen Verständnis des Bürgertums um die Jahrhundertwende, den „Juden“ als „Luftmenschen“ zu bezeichnen. (Berg 2008). Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(17) 269. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. Diese Zuschreibung findet sich in der wenige Jahre durch Willi Ule 1915 herausgegebenen Völker- und Sprachenkarte Mitteleuropas wieder, mit der Ergänzung, dass nach den Balkankriegen nunmehr neu Rumänen als bodenständiges Volk den Romanen zugewiesen wurden und eine weitere linguistische Differenzierung nach Mundarten und Stämmen erfolgt war. Den politischen Zusammenhang von Volk und Raum präzisierte der germanophile schwedische Politikwissenschaftler und Schüler Friedrich Ratzels, Rudolf Kjellén, als er während des Ersten Weltkrieges die Ratzelsche Theorie weiterentwickelte und die Geopolitik von Boden der Bevölkerungspolitik gleichwertig setzte. Kjellén verband das nationale und das territoriale Element. Nation war bei ihm nicht die Nation des 19. Jahrhunderts, sondern das Volkstum, dem sich das Individuum unterzuordnen habe. Nationalität war das Erscheinungsbild der „ethnischen Individualität“ des Staates, womit Kjellén den Nationalstaat als natürliche, organische Form des Staates kennzeichnete. Gleichwohl popularisierte Kjellén weniger den Raumbegriff als vielmehr den Staat als biologisches Phänomen, als eine „Lebensform“. Dieser geopolitisch im Idealfall autarke Wirtschaftsraum erhielt ethnopolitisch „eine homogene, in sich geschlossene Bevölkerung“ zugewiesen. (Kjellén 41924: 44, 142) Haushofer radikalisierte nicht nur Ratzels biogeographische Vorstellung, sondern griff auch Schmitts Interpretation des organischen Staat voraus: „Als Organ, als lebendes Gebilde, zum Schwinden oder Wachsen bestimmt, nicht starr, keineswegs als Linie erkennen wir die Grenze im Lichte der Empirie – im Gegensatz zu dem Begriff, den die Theorie uns hinstellt, wie die Scheinbarkeit der Grenze zwischen Luft, Meer, Bergen und fernen Vegetationsgürteln.“ Haushofer postulierte den Grenzkörper nunmehr als „dreidimensionalen Kampfraum“. Diese Körpermetaphorik gewinnt in verschiedenen Typen von Grenzen ihren Niederschlag, deren entscheidender jene der Rassengrenze ist, die dem ständigen Kampf unterläge. „Biologisch gesprochen wird also Bereitschaft für alle möglichen Übergänge von dem peripherischen Organ des Staates gefordert, von der Hautatmung und Ausdünstung bis zur Bildung einer schützenden Hornhaut, bis zur Entwicklung zum Greiforgan mit angleichender, hinzuwerbender ‚fressender‘ Kraft.“ (Haushofer 1927: 13, 78) Naheliegender Weise lässt sich diese Kampfmetaphorik im ‚Volks- und Kulturboden‘ als ein ‚fressender‘ und die deutschen Sprachinseln ‚einverleibender‘ Raum im Osten wiederfinden, der darauf abzielte, nicht nur jene Regionen, die im Rahmen der Friedensverträge oder als Folge der Abstimmungen abgetretene Gebiete beinhaltete, sondern den Kulturboden bis an die von alldeutscher Seite propagierten Grenzräume zwischen Düna und Schwarzem Meer projizierte. (Vgl. Schultz 1989; Herb 1997; Fahlbusch 1994;1999; Ribeli 2012) Anknüpfend daran entwickelte der Hamburger Geograph, Vertreter der Alldeutschen und wohl mit Abstand vehementeste Antisemit Siegfried Passarge seine Fragestellung zum Judenproblem, die er in den 1920er Jahren zu einer religionsgeographischen Studie erweiterte, die im völkischen J.F. Lehmanns Verlag in München 1929 erscheinen sollte (Das Judentum als landschaftskundlich-ethnologisches Problem, München, 1929). Diese Studie, in der er den Juden einen raumbildenden Faktor gänzlich absprach, war noch bis. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(18) 270. Michael Fahlbusch. in die 1980er Jahre hinein unter Religionswissenschaftlern als wegweisend angesehen worden. (Vgl. Rössler 1990: 50; Hering 2003: 179, 298–299; Davis 2012) Carl Schmitts rechtsphilosophische Ausführungen in der Weimarer Zeit knüpfen an Ratzels Diskurselement des ‚landlosen Volks‘ an. Schmitt unterstellt den Juden ein „Regel- oder Gesetzesdenken“ (Normativismus), das dem „germanischen Denken“ und dem konkreten „Ordnungsdenken“ – wie Schmitt es bezeichnet – zuwiderlaufe. Ausdrücklich berief sich Schmitt bei der Einstufung der Juden auf das Stereotyp des bodenlosen Volkes, welches er mit religions- und volkstümlichen Argumenten untermauerte. Dass Schmitt in seinen Schriften aus dem Jahr 1923 auch das Politikverständnis spanischer Inquisitoren ins Gedächtnis rief, birgt erst recht Relevanz unter dem Gesichtspunkt, was mit rheinischen Separatisten geschah. (Gross 2000: 110, 143–144; Köster 2002: 209–229) Gross hebt hervor, dass Schmitt zu Beginn der Weimarer Republik den Antisemitismus auf subtile Weise mit dem spanischen Gegenrevolutionär des 19. Jahrhunderts, Donoso Cortés, als Grossinquisitor assoziierte. Zudem argumentierte Schmitt über „das angeblich ‚bodenlose‘, nur im ‚Gesetz‘ existierende jüdische Volk“, indem die „‚verschiedenen Völker und Rassen‘ ‚verschiedenen Denktypen zugeordnet‘ seien. Wenn Schmitt den Juden, da sie ‚ohne Boden, ohne Staat, ohne Kirche, nur im ‚Gesetz‘ existieren‘, das normativistische Denken als das ihnen allein vernünftig scheinende Rechtsdenken zuschrieb, dann folgte er alten volkstümlichen Traditionen und weitverbreiteten theologischen Vorstellungen, die im herumirrenden Ahasver-Dasein des ‚bodenlosen‘ jüdischen ‚Gesetzvolkes‘ eine Bestätigung ihres eigenen Christenglaubens sahen.“ (Gross 2000: 143–144, 79–80). 8 Grenz- und Auslandsdeutschtum, Deutscher Volks- und Kulturboden Hatte Albrecht Penck noch 1887 in seiner „Länderkunde des Erdteils Europa“ zwar auf die 15 Mio. außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschen hingewiesen, aber im Sinne Alfred Kirchhoffs daran festgehalten, dass das Reich eine staatsrechtlich begründete Staatsbildung sei, so änderte sich diese Auffassung im Laufe seiner Lehrtätigkeit in Wien grundlegend. Aufgrund seiner Erfahrungen mit der Dynamik des tschechischen Nationalismus unterschied er nunmehr zwischen Deutschland als „Sprach- und Kulturboden“ des deutschen Volkes und dem Reich als politischem Organisationsraum der Deutschen. Das Reich habe die Aufgabe, die Auslandsdeutschen zu schützen. Penck entwickelte diese Argumentation 1907 nach seiner Rückkehr aus Wien in der Zeitschrift „Die Woche“ in dem Aufsatz „Deutsches Volk und deutsche Erde“ in Berlin. Der Aufsatz enthielt bereits im Kern die Programmpunkte der von Penck in der Weimarer Republik mitbegründeten „Volks- und Kulturbodenforschung“. (Penck 1907). Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(19) 271. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. Abb. 3: Albrecht Penck: Deutscher Volks- und Kulturboden 1925. Albrecht Penck beantwortete die Frage „Was ist deutsch?“ schliesslich 1936 in der Arbeitsgemeinschaft für eine neue kleinmassstäbliche Sprachenkarte im Vorfeld des Münchner Abkommens folgendermassen: Sie ist in den verschiedenen Gebieten verschieden zu beantworten, nicht schematisch nach starrem Kriterium, sondern es gilt nach nationalem Empfinden [sic!] abzuwägen. Unterschieden muß werden, ob Volks- oder Sprachenkarte. Schriftsprache, Volkssprache, Volksbewußtsein [sic!] sind zu berücksichtigen. Die nationale Propaganda erheischt die Volkskarte. Man kann dem Maßstab entsprechend Flächendarstellung statt Punktmethode wählen, aber kleine Sprachinseln sind besonders zu betonen. (Zitiert nach Fahlbusch 1999: 156–173, 157; vgl. Rössler 1990: 66; vgl. Jureit 2012: 192–194, 250–264) Die Territorialutopien und bevölkerungspolitischen Szenarien zielten nicht nur auf eine Restitution der Gebiete innerhalb der Grenzen des Deutschen Kaiserreichs und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Sie bezogen auch die Räume Mitteleuropas mit ein, die durch die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg besetzt worden waren. Diese ethnographische Linie umfasste nach Penck die „Grenzen des alten deutschen Reiches“ bis „tief nach Ungarn hinein“ und verlaufe „auf den Beskiden südwärts“, wo „Mähren vom slowakischen Waagtal“ getrennt werde. Daran schließe sich das Inseldeutschtum aus der Zips in. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(20) 272. Michael Fahlbusch. der Slowakei, Siebenbürgen in Rumänien, der Wolga, Kaukasien, der Krim, Bessarabien und Wolhynien an. Penck wies den deutschen „Kulturboden“ als „größte Leistung des deutschen Volkes“ aus: „Wo immer auch Deutsche gesellig wohnen und die Erdoberfläche nutzen, tritt er in Erscheinung.“ (Penck 1925: 69; vgl. Pinwinkler 2009) Penck lieferte die populären Stichworte für einen der grossen völkischen Romane der Weimarer Republik, die Hans Grimm ein Jahr später mit „Volk ohne Raum“ auf den Markt brachte. Dieser Roman, der im Weserbergland in bäuerlichem Heimatidyll beginnt und über die industrielle Schreckensvision des ethnischen Schmelztiegels Ruhrgebiet schliesslich nach Südwestafrika führte, bis der Protagonist 1923 in Deutschland im Kugelhagel stirbt, unterstrich das Bedürfnis völkischer Kreise nach einer Erneuerung und Furcht vor der Vermassung sowie des „Verlusts an Bodenständigkeit“ nur zu deutlich. (Pinwinkler 2012: 41–43, 52–55; Rössler 1990: 45; Köster 2002: 123–128; vgl. Jureit 2012: 265–274) Die Volks- und Kulturbodenkarte Albrecht Pencks von 1925 grenzte zwar die Niederlande und Belgien als nichtdeutsch ab, unterschlug jedoch die slawischen Minderheiten im Deutschen Reich, welche die Karte von Ratzel und Ule noch enthielten. Sie verfehlte ihre intendierte politische Wirkung nicht. Sie war erstens vom Deutschen Schutzbund (DSB) angeregt worden (vgl. Fahlbusch 1994a; Haar 2000: 25–61), zweitens wurde das Thema „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ in die Curricula der Schulen aufgenommen (vgl. Fahlbusch 1994a; Schultz 2010a: 128–136), drittens förderte die „Mittelstelle für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ in Leipzig (1926 in Stiftung umbenannt) diesen wissenschaftlichen und überparteilichen Diskurs in Deutschland und Österreich. (Vgl. Oberkrome 1993; Fahlbusch 1994a; Haar 2000; Herb 1997; Herb 2005; Pinwinkler 2009), viertens wurden systematisch verfassungstreue Wissenschaftler marginalisiert, die sich entweder für den Völkerbund oder den Youngplan einsetzten: etwa Veit Valentin, Wilhelm Volz, Walter Goetz und Friedrich Meinecke. (Vgl. Fahlbusch 1994a: 49–56, 92–98; Haar 2000: 25–61, 89–90) Neben dem Kartographen der Publikationsstelle Dahlem, Franz A. Doubek, der später für Konrad Meyers Generalplan Ost tätig war, gehörte Arnold Hillen-Ziegfeld (NSDAPMitglied seit 1921) zu den schillerndsten Figuren der Weimarer Rechten. Hillen-Ziegfeld war Mitglied sowohl des Deutschen Schutzbundes (DSB) als auch des Deutschen Klubs. Auf seine kartographischen Fähigkeiten vertrauten nicht nur namhafte deutsche Geographen wie Penck und Karl Haushofer, sondern auch völkische Wissenschaftler wie Hermann Aubin, Erich Maschke, Manfred Laubert und Martin Spahn. Die politischen Differenzen spielten bei der Durchsetzung der Revision der Friedensverträge und des Aufbaus eines Gesamtdeutschlands in dieser Netzwerkskonstellation offenbar keine Rolle mehr. Ziegfeld leitete später die gesamte deutsche Propagandakartographie und arbeitete in den 1930er Jahren für das Propagandaministerium und seit 1940 für das Auswärtige Amt. (Vgl. Herb 1997: 82–84, 89–93, 159–162; Ribeli 2012) Dieser Ressourcenbildung innerhalb von Akteurs-Netzwerken von Nationalsozialisten und völkisch-nationalen Rechten in der Weimarer Republik wurde bisher in der historiographischen Forschung wenig Beachtung geschenkt.. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(21) 273. Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. 9 Primat der Politik Das von völkischen Wissenschaftlern entworfene ethnopolitische Konstrukt diente vorrangig dazu, eine Kulturüberlegenheit des deutschen „Volkstums“ gegenüber „Welschen“ und „Slawen“ zu postulieren. Das Forschungsprogramm erscheint damit eher als deutsche Geschichtspolitik. Der Wissenschaftsdiskurs der Volks- und Kulturbodenforscher blieb nicht folgenlos für die deutschen Sozial- und Kulturwissenschaften, weil den Völkerbund unterstützende und kleindeutsch orientierte Wissenschaftler marginalisiert wurden.5 Gingen zwar die meisten vertragsmässigen Volksabstimmungen bis 1922 in den Grenzgebieten des Deutschen Reichs und Österreichs zugunsten der deutschnationalen Vertreter aus, während etwa Oberschlesien an die Nachbarländer abgetreten wurde, so regten die Völkischen auf der im Januar 1924 abgehaltenen Schutzbundtagung in Würzburg eine ‚nationale Wiedergeburt‘ an: Äusseren und inneren Feinden des „großdeutschen“ Gedankens wurde eine deutliche Abfuhr erteilt: Gegen 120 Politiker und Geisteswissenschaftler forderten dem Kampf gegen die französische Besatzung der Rheinlande auch eine „Befreiung des gesamten geschlossenen [deutschen] Sprachgebietes“ folgen zu lassen. Teilnehmer der Tagung waren unter anderem der Regierungspräsident und der Staatskommissar für die Pfalz, ein Vertreter jeweils der „Rheinischen Volkspflege“ und des Oberpräsidiums in Wetzlar, die Nachrichtenoffiziere der an das Besatzungsgebiet angrenzenden Wehrkreiskommandos und die „Deutschtumspolitiker“, aber auch bekanntere Historiker und Geographen. Namentlich gehörten dem Kreis Philipp Stein aus Frankfurt am Main an, der Kärntner Oberlandesgerichtsrat Rudolf Kraus, der Innsbrucker Karl Ursin, der Schweizer Hektor Ammann, Hans Steinacher und der Elsässer Robert Ernst, der im Colmarer Prozess 1928 durch die Unterstützung elsässischer rechtskatholischer Autonomisten in Erscheinung trat. Hans Steinacher, Leiter der preussischen Abwehrstelle gegen den rheinischen Separatismus und einer der einflussreichsten Vertreter des VDA und der Freikorps referierte über seine „Erfahrungen aus dem Abwehrkampf in Oberschlesien, dem Burgenlande, Kärnten und der preußischen Rheinprovinz“ und warb als Kärntner für die erfolgreiche Kooperation von ethno-nationalistischer Grundlagenforschung, militanter Abwehrarbeit und großdeutschem Revisionismus. Involviert in den Rheinischen Tag in Düsseldorf am 30. September 1923, der blutig eskaliert war, schreckte er nicht vor weiteren Schritten gegen Separatisten zurück. Sein Ansprechpartner war Franz Thedieck, Mitarbeiter des Pendants der Abwehrstelle in Köln und Leiter der „Rheinischen Volkspflege“. Dieser leitete in seiner halbamtlichen Einrichtung die Aktivitäten deutscher Regierungsstellen gegen den „rheinischen Separatismus“. In Thediecks Zuständigkeitsbereich fielen die preußischen Westprovinzen, Eupen-Malmedy und Elsaß-Lothringen. Die Kooperation zwischen nachrichtendienstlicher Arbeit und Volkstumsforschung war fruchtbringend. (Vgl. Haar 2000: 36; Klingemann 2009: 227–253) Die Tatsache, dass Steinachers ge5. Ich übernehme in diesem Abschnitt weitestgehend die Ausführungen Ingo Haars über die Leipziger Stiftung (Haar 2008: 374–383).. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

(22) 274. Michael Fahlbusch. heimdienstliche Abwehr in die Ermordung vermeintlicher „Separatisten“ mündete, wie etwa dem pfälzischen Separatistenführer Franz-Josef Heinz-Orbis, oder dem wenige Tage später getöteten Mayener Landrat Wilhelm Schlich, (Retterath 2010: 159) deutet auf ein grundsätzlich deutsches historiographisches Problem hin: nämlich die völkischnationalen Kräfte von den paramilitärischen nationalsozialistischen Aktionen der Weimarer Republik trennen zu wollen. (Vgl. Griffin 2005) Wilhelm Volz, Albrecht Penck und die DSB-Führung unter Karl Christian von Loesch beabsichtigten eine aus Reichs- und Landesmitteln finanzierte wissenschaftspolitische Institution einzurichten. Weniger stand die Quantifizierung und räumliche Verteilung der europäischen Völker und Minderheiten im Vordergrund, sondern die Revision und territoriale Neuordnung der europäischen Grenzen auf Basis der räumlichen Verteilung der deutschen Siedlungen. Durch die Vermittlung von Karl C. von Loesch integrierte die „Mittelstelle“ Ende 1925 Historiker und Deutschtumspolitiker aus Österreich, dem Deutschen Reich, der Schweiz und den abgetretenen Grenzgebieten im Westen und im Osten, die sich ebenfalls diesem Ziel verschrieben hatten. Zuvor hatte sich bereits auf dem Frankfurter Historikertag von 1924 ein „Ausschuss für Heimat- und Volksforschung“ konstituiert, der explizit gegen die französische Besetzung des Rheinlandes protestierte und großdeutsche Ziele proklamierte. Ihm gehörten die Historiker Hermann Aubin, Paul Wentzcke und Rudolf Kötzschke, der Volkskundler Adolf Helbok und die Germanisten Theodor Frings und Richard Csaki an. Dieses Netzwerk strebte die „planmäßige“ Entfaltung der „Heimat- und Volksforschung sowohl im geschlossenen Siedlungsgebiet als auch im Streu- und Inseldeutschtum“ an. (Oberkrome 1993; Fehn 2000) Die Leipziger Mittelstelle bot der Gruppe um Kötzschke und Aubin bessere Entfaltungsmöglichkeiten als die Deutsche Akademie, die von Hermann Oncken geleitet wurde, da dieser unbeirrt der kleindeutschen Staatsauffassung anhing. Mit Studien über den westdeutschen und ostdeutschen Volksboden lieferte Wilhelm Volz der Politik der deutschnationalen Eliten die Schlüsselbegriffe. Im Westen, so hielt Volz in dem Gemeinschaftswerk von Politkern des preußischen Ostens und der Wissenschaft über den „ostdeutschen Volksboden“ fest, habe sich „seit 1000 Jahren“ eine Volksgrenze gebildet, die sich im Wesentlichen mit der deutschen Sprachgrenze decke. Dem stellte er den „Osten“ gegenüber, wo sich ein „seit 3000 Jahren“ existierender „germanisch-deutscher Volksboden“ befinde, der „bis zur Weichsel“ reiche. Die nicht unbeträchtliche Anzahl slawischer Minderheiten – gemeint waren die Kaschuben, Masuren, Oberschlesier und Wenden –, auf deutschem „Volksboden“, reduzierte Volz auf ein „primitive[s] Slaventum“, das durch die mittelalterliche Ostkolonisation an die „hohe deutsche Kultur“ assimiliert worden sei. Die deutsche Außenpolitik begann sich 1926 mit den Locarno-Verträgen aus der politischen Isolierung der Nachkriegszeit zu lösen. Der Beitritt zum Völkerbund stellte Deutschland in den Kreis der europäischen Mächte. Die Gunst der Stunde schlug auch der Volks- und Kulturbodenforschung. Die außenpolitische Strategie Gustav Stresemanns, die Westgrenze des Reiches nach Frankreich anzuerkennen, aber gegenüber Polen jede Garantie zum Erhalt der im Versailler Vertrag festgelegten Grenze zu vermeiden, ver-. Brought to you by | Universität Osnabrück Authenticated Download Date | 2/3/16 11:17 PM.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Nach den Großdemonstrationen der Bevölkerung vom letzten Som- mer gegen die grassierende Kor- ruption, eine Inflation in Höhe von sechs Prozent sowie die horrenden Kosten für

I nzwischen ist klar geworden, dass Griechenland seit der Aufnahme auf Kosten des Euro Korruptions- und Defizitwirtschaft betrieben hat, die Solidaritätshil- fen der

nungshof-Präsident Max Munding gegenüber den „Stuttgarter Nach- richten“. Auch dies sieht der Ver- fassungsrechtler Hans Herbert von Arnim kritisch: „Es ist

schlag der völkischen Selbstverständlichkeil folgte, verkündete Winston Churchill 1937 dem deutschen Botschafter in London: .Wenn Deutschland zu stark wird, wird es wieder

Das Forschungsprojekt „StadtTeilen – Öffentlicher Raum und Wohnen als neue Gemeingüter in sozial gemischten Nachbarschaften“ lud am 20.02.2020 zur Veranstaltung „Dialog im

Anstatt sich aber zu freuen, dass Trump endlich den Wert der Verbünde- ten entdeckt; anstatt Europas Fähigkeiten nicht nur den Iranern, sondern auch den scheidenden Briten

„Rajapak- se will auf jeden Fall verhindern, dass sich als Zivilisten getarnte LTTE- Kader irgendwo im Lande neu formie- ren.“ Kommen Tamilen tatsächlich ir- gendwann frei,

19 Christen und Juden II, 54. Auf einige jüngste Veröffentlichungen kann ich nur noch hinweisen: WILLI, T., Kirche als Gottesvolk? Überlegungen zu einem Verständnis von Kirche