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Eine Mauer aus Diskursen: Zur Intertextualität des Mauer- Bildkomplexes in Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer

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Jahrgang LI – Heft 2 | Peter Lang, Bern | S. 111–126

Eine Mauer aus Diskursen: Zur Intertextualität des Mauer- Bildkomplexes in Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer

Von Shengzhou Lu, Nanjing University

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fungierte die Chinesische Mauer in der deutschsprachigen Literatur als prominentes Motiv, etwa im Essay Die chinesische Mauer von Karl Kraus, im Theaterstück Die chinesische Mauer von Max Frisch, in Elias Canettis Roman Die Blendung, und nicht zuletzt in Franz Kafkas fragmentarischer Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer, die „aus nichts anderem zu bestehen scheint als aus Zitaten und Umschriften der Medien, Diskurse und Texte der Tradition und der Gegenwart.“1 Seitdem dieses 1917 entstandene Erzählfragment im Jahre 1931 erstmals von Max Brod und Hans-Joachim Schoeps herausgegeben worden war, hat diese intensive Intertextualität einen spezifischen Fokus in der Kafka-Forschung gebildet, nicht zuletzt auch für chinesische Literaturwissenschaftler.2 An diese For- schungstradition möchte der folgende Beitrag anschließen und dabei zwei relativ neue Perspektiven aufzeigen. Als „Nietzsches erster Leser“ greift Kafka das Mauer-Bild in Nietzsches Schrift Der Wanderer und sein Schatten auf, mit

© 2019

1 Benno Wagner: Beim Bau der chinesische Mauer. In: Manfred Engel/Bernd Auerochs (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010, S. 250-260, hier S. 257.

2 Außer Benno Wagner, der eine Vielzahl von Beiträgen zu diesem Thema veröffentlicht hat, gibt es viele Germanisten, darunter auch chinesische, die zu diesem Thema bei- getragen haben. Vgl. dazu Weiyan Meng: Kafka und China. München 1986, S. 77-82.

Weijian Liu: Kulturelle Exklusion und Identitätsentgrenzung. Zur Darstellung Chinas in der deutschen Literatur 1870-1930. Bern u.a. 2007, S. 356-388. Weidong Ren: Das kon- struierte China. Zur Darstellung des Paradoxen am Beispiel von Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer. In: Uwe Japp/Aihong Jiang (Hrsg.): China in der deutschen Literatur 1827-1988. Frankfurt a.M. u.a. 2012, S. 79-85. Yan Zhang: Das Chinabild in Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer. In: Uwe Japp/Aihong Jiang (Hrsg.): China in der deutschen Literatur 1827-1988. Frankfurt a.M. u. a. 2012, S. 93-102. Zhan Liang: 帝国的想象——

卡夫卡《中国长城修建时》中的政治话语 (engl.: Imagination of the empire. On political discourse in Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer). In: 外国文学评论 (engl.: Foreign Literature Review) (2015), Heft 4, S. 5-43. Weidong Ren/Chun Sun: China als Utopia und Heterotopia. Kafkas China im Diskurs des China-Bildes um 1900. In: Kristina Jobst/

Harald Neumeyer (Hrsg.): Kafkas China. Würzburg 2017, S. 217-228.

pen

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dem Nietzsche die Biopolitik des modernen Sozialstaats kritisiert;3 hier werde ich zeigen, wie Kafka dieser Kritik eine neue, aktualhistorische Dimension hinzufügt, nämlich seine Auseinandersetzung mit der Einwanderung der ost- jüdischen Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg, der sogenannten ‚Ostjudenfrage‘.

Aber das bedeutet keineswegs, dass Kafka kein Interesse am historischen und realen China hat. Bei genauerem Hinsehen wird sichtbar, dass es außer den in der Forschung mehrfach behandelten China-Diskursen, die sich vom 18. Jahr- hundert bis zu Kafkas Zeit erstrecken,4 in Kafkas China-Texten noch Spuren von Mauer-Diskursen gibt, die auf Reiseberichten und Wissenschaftsstudien der europäischen Missionare und Historiker aus der Antike und der Frühen Neuzeit basieren.

I

Eine zentrale Rolle in Kafkas Darstellung der Chinesischen Mauer spielt das Teilbausystem. Die Chinesische Mauer ist bekanntlich fragmentarisch, gleich- sam als Stückwerk gebaut. In diesem „System des Teilbaues“ (NSF I 337)5 sieht der Ich-Erzähler „eine Kernfrage“ (NSF I 342) des ganzen Bauunternehmens.

So traum- und rätselhaft dieses Teilbausystem auf den ersten Blick auch anmuten mag – es verlockt den Ich-Erzähler zur ausführlichen historischen Untersuchungen –, ist es eher kein Produkt dichterischer Einbildungskraft, sondern – um mit Kafkas eigenem Wort zu sprechen – „wahrheitsgetreu[]“

(NSF I 347). Denn die Chinesische Mauer „stellt historisch nicht einen einzigen durchgängigen Mauerzug dar, sondern besteht streckenweise aus mehreren einander nicht verbundenen Mauerabschnitten“6 unterschiedlicher Dynastien und unterschiedlicher Bauweisen, deren Bau vom 7. Jahrhundert v. Chr. zur Zeit der Streitenden Reiche beginnen und erst in der Ming-Dynastie 1644 be- endet werden sollte. Es gibt sogar ein Einzelbauwerk, das dem Teilbauprinzip

3 Vgl. dazu Benno Wagner: Die Versicherung des Übermenschen. Kafkas Akten. In: Fried- rich Balke/Joseph Vogl/Benno Wagner (Hrsg.): Für Alle und Keinen. Lektüre. Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Zürich/Berlin 2010, S. 259-294, hier S. 259.

4 Vgl. dazu stellvertretend Rolf J. Goebel: Constructing China. Kafka’s Orientalist Dis- course. Columbia 1997, S. 65-90.

5 Hier wie überall im Text werden Franz Kafkas Werke zitiert nach der Kritischen Ausgabe seiner Werke, hrsg. von Jürgen Born et. al., Frankfurt a.M. 1982ff. Verwendet werden die üblichen Siglen mit Seitenangaben: NSF I [Nachgelassene Schriften und Fragmente I], T [Tagebücher]. Kafkas Briefe werden unter der Sigle Br und römischer Bandangabe nach der von Hans-Gerd Koch besorgten Kritischen Ausgabe zitiert.

6 Folker Reichert: Chinas Große Mauer. In: Ulrich Müller/Werner Wunderlich (Hrsg.):

Burgen, Länder, Orte. Konstanz 2008, S. 190.

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streng folgte, nämlich die Große Mauer des Qi-Herzogtums in der heutigen Provinz Shandong, die ältesten bis heute erhaltenen Mauerabschnitte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten errichtet wurden.7 Das Wissen um die Diskontinuität der Mauer geht auf Reiseberichte von europäischen Missionaren in der Frühen Neuzeit zurück. Bereits der por- tugiesische Missionar Gaspar da Cruz (1520-1570) wiess in seinem Tractado (1569), dem ersten in Europa gedruckten Buch über China seit Marco Polos Reiseberichten, auf die durch natürliche Faktoren bedingte Diskontinuität der Chinesischen Mauer hin.8 Auf der China-Landkarte (1584) des flämischen Geographen Abraham Ortelius, der ersten in einem abendländischen Atlas erscheinenden Karte von China, ist klar zu sehen, dass die Chinesische Mauer wegen Bergkämmen als Barriere diskontinuierlich blieb. „Es ist oft die Frage aufgeworfen worden, ob die chinesische Mauer wirklich überall ein zusam- menhängender Wall ist“,9 schrieb dazu Georg Wegener, ein deutscher Geograph und Forschungsreisender in seiner Schrift Zur Kriegszeit durch China (1902).

Der Verfall der Mauer – „in öder Gegend verlassen stehende[] Mauerteile“

(NSF I 338) war zu Kafkas Zeit tatsächlich vorhanden: „Seitdem die Mandschu Herren von China geworden sind, ist sie [die Chinesische Mauer; Vf.] völlig überflüssig. Es geschieht daher schon seit längerer Zeit so gut wie nichts für ihren Unterhalt und sie beginnt mehr und mehr zu verfallen.“10 Julius Dittmar bezeichnete in seinem Reisebericht Im neuen China, einer wichtigen Quelle für Kafkas China-Texte, die Chinesische Mauer von damals als „nur noch eine Ruine wie bei uns die Ritterburgen am Rhein.“11Als „historische Ruine“12 hatte auch Bruno Navarra, ein Zeitgenosse Kafkas und Herausgeber einer deut- schen Zeitung in Shanghai, die Große Mauer bewertet und vermerkte weiter in seiner Monographie China und die Chinesen (1901): „Die gegenwärtige Mandschu-Dynastie hatte keine Veranlassung, die Große Mauer als Grenzbe- festigung im Stand zu halten.“ „[D]ie Mauer [wurde] dem Verfall überlassen, der denn von Jahr zu Jahr zugenommen hat.“13

7 Qingbo Duan/Weimin Xu: 中国历代长城发现与研究 (engl.: Discovery and Research of the Great Wall). Beijing 2014, S. 2.

8 „[T]he Chinas have a hundred leagues (others saying there are more) of a wall between them and the other, where are continually garrisons of men for defence against the raids of the Tartars. It may be believed that this wall is not continuous, but that some mountains or hills are intermixt between […]” (C.R. Boxer [Hrsg.]: South China in the Sixteenth Century [1550-1575]. London 1953, S. 85). In diesem Sinne auch João de Barros: Terceira Decade da Asia de Ioam de Barros. Lisbon 1563, S. 44-45.

9 Georg Wegener: Zur Kriegszeit durch China. Berlin 1902, S. 239.

10 Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Band 4. Leipzig 1876, S. 627.

11 Julius Dittmar: Im neuen China. Köln 1912, S. 30.

12 Bruno Navarra: China und die Chinesen. Bremen 1901, S. 161.

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Wenn Kafka dann schrieb, dass das „ganze[] China [...] ummauert werden sollte“ (NSF I 339), so ist auch das kein reines Phantasiespiel, sondern eine tradierte Imagination, die auf Antike zurückgeht und in Kafkas Zeit hinein- wirkt. Bereits der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus (um 330 bis um 395) sprach in seinen Res gestae von den „Gipfeln hoher Wälle“, die das Land der Serer rings umgäben.14 In China illustrata (1667), dem vielleicht einflussreichsten Buch über China im 17. Jahrhundert, hatte der deutsche Jesuit und Sinologe Athanasius Kircher (1602-1680) ein Kapitel über die Chinesische Mauer verfasst, in dem zu lesen ist, dass die Mauer sogar das ganze Reich umspannt.15 Auch Kafkas Zeitgenosse Karl Kraus imaginierte die chinesische Mauer als eine Mauer, die das „Reich der Mitte umgab“.16 „Wenn man um Dorf und Stadt, ja um Paläste und Privathäuser Mauern zog, warum nicht um das ganze China?“17 So fragte Friedrich Perzyński, ein anderer Zeitgenosse von Kafka, in seinem Reisebericht Von Chinas Göttern. Kafka erwähnt auch die Kosten und die Mühen von Hunderttausenden beim Mauerbau; dieser Gedanke wird von dem spanischen Missionar Martin de Rada (1533-1578) in seinem Relacion18 sowie von dem Historiker Juan Gonzalez de Mendoza (1545-1618) in seinen Schriften über China erwähnt.19 An einer anderen Textstelle bei Kafka heißt es: „Warum also, da es sich so verhält, verlassen wir die Heimat, den Fluß und die Brücken, die Mutter und den Vater, das weinende Weib, die lehrbedürftigen Kinder und ziehen weg zur Schule nach der fernen Stadt und unsere Gedanken sind noch weiter bei der Mauer im Norden.“ (NSF I 347) Das

„weinende Weib“ könnte sich auf die in China populäre Volkssage von Meng Jiangnü beziehen.20

Mitten im Text bringt Kafka dann den Babelturm ins Spiel, indem er einen Gelehrten auftreten lässt, der behauptet, „erst die große Mauer werde zum erstenmal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen neuen Babelturm schaffen. Also zuerst die Mauer und dann der Turm“ (NSF I 343).

13 Navarra (s. Anm. 12), S. 162.

14 Ammianus Marcellinus: Res gestae XXIII 6, S. 64: “Ultra haec utriusque Scythiae loca contra orientalem plagam in orbis speciem consertae celsorum aggerum summitates ambient Seras”. Zitiert nach Reichert (s. Anm. 6), S. 190.

15 Athanasius Kircher: China Illustrata, translated by Charles D. Van Tuyl, Muskogee 1987, S. 204: „it circles the entire empire”.

16 Karl Kraus: Schriften. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Frankfurt a.M. 1987, S. 291.

Kraus hielt insgesamt 57 Vorlesungen in Prag, davon sieben noch vor Kriegsausbruch, bei seiner ersten Lesung am 12. Dezember 1910 trug er seinen Essay Die chinesische Mauer vor, den Kafka wahrscheinlich hörte.

17 Friedrich Perzyński: Von Chinas Göttern. Leipzig/München, S. 161.

18 Zur Schrift von Martin de Rada siehe Boxer (s. Anm. 8), S. 263 und 279f.

19 Juan González de Mendoza: Historia de las cosas más notales. Madrid o. J. 1944, S. 37.

20 Zu dieser Volkssage vgl. Arthur Waldron: The Great Wall of China. From History to Myth.

Cambridge 1990, S. 197.

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Auch in die vielstimmigen mythologischen und symbolischen Referenzen zu diesem Bildkomplex spielen das zeitgenössische China-Wissen eine besondere Rolle, denn es stellt ein architekturgeschichtlich prominentes Mauer-Turm-En- semble zur Verfügung. Die Chinesische Mauer hat viele Wacht- und Alarm- feuertürme, letztere dienen zur Übermittlung militärischer Nachrichten, sind normalerweise viereckig oder rund und haben eine Höhe von einigen Metern bis über zehn Meter – ganz in Gestalt von einem Turm. „Im Norden setzt sich die große alte chinesische Mauer im Anschluss an die Stadtmauer fort, noch etwas 3-5 km in der Ebene, dann klettert sie an den ungemein steilen, sehr hohen [...]

Bergen empor, wo man sie überall mit ihren noch vorhandenen Wachttürmen verfolgen kann. An vielen Stellen ist die Mauer allerdings sehr defekt, nur noch der Erdkörper vorhanden, die Türme stehen an den meisten Orten noch, wenn auch ruinenhaft“,21 heißt es in einem zeitgenössischen Reisebericht des Krupp-Direktors Georg Bauer. Und, denkbar prägnant, bei Julius Dittmar:

„Dies trotzige Mauerwerk, gespickt mit Zinnen und Schießscharten und ge- schmückt mit mächtigen Türmen, konnte nur die Große Mauer sein!“22 Es ist interessant zu sehen, dass auch der scheinbar poetisch inspirierte Vergleich des Mauerbau-Projekts mit dem Babelturm-Projekt bereits in der zeitgenössischen Reiseliteratur auftaucht.23

Natürlich hatte Kafka nicht nur implizit zitiert, sondern das Teilbausystem auch literarisch umgestaltet. Auf beinahe groteske Weise beschreibt er zwei gro- ße Arbeitsheere, Ostheer und Westheer, beide jeweils eine Teilmauer von etwas fünfhundert Metern Länge entgegenbaue, und sobald diese Arbeit fertig wird, werden Arbeiter „wieder in ganz andere Gegenden zum Mauerbau verschickt“

(NSF I 338). Aber auch in dieser Hinsicht verrät Kafka sein China-Wissen:

Eine Teilmauer von etwa fünfhundert Metern, diese Länge entspricht gerade 1 Li, dem alten chinesischen Längenmaß. Große Mauer heißt auf Chinesisch wan li chang chen, wörtlich übersetzt Große Mauer mit zehntausend Li. Au- ßerdem benutzte Kafka das Wort „Heer“ – historisch gesehen war die Mauer von Qin tatsächlich von Heeren gebaut. Der erste Kaiser der Qin-Dynastie, Shi Huangdi, errichtete durch seinen Feldherrn Meng Tien die Große Mauer,

21 Georg Baur: China um 1900. Aufzeichnung eines Krupp-Direktor. Hrsg. von Elisabeth Kaske. Wien u a. 2005, S. 200f.

22 Dittmar (s. Anm. 11), S. 29.

23 Nämlich in dem Reisebericht des Amerikaners William Edgar Geil, der sich 1905 anschick- te, die Mauer in ihrer gesamten Länge zu bereisen. Über die Absichten des Ersten Kaisers heißt es dort: „[…] it may have been his thought to put into material shape the spiritual idea of a dragon monster whose gigantic length would serve as a mascot and guardian to a reconstructed Empire! Or did he plan to build a Barrier hundreds of feet high, as the men of Babel did, to shut off the Southern life-giving influences from the fierce Tatars of the North?” (William Edgar Geil: The Great Wall of China. New York 1909, S. 6).

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und „wir lesen bei den älteren Historikern bloß, dass er [Meng Tian; vf.] die Große Mauer mit 10000 Mann – seinem Heere – in zehnjähriger Arbeit (213- 203 v. Chr.) von Lin-tao am südwestlichen Knie des Gelben Flusses bis zum Meere geführt habe.“24

Was die personelle Organisation des Mauerbaus angeht, so wird bei Kaf- ka eine Hierarchie entworfen: Es gibt Maurer, Bauführer untersten Ranges, mittlere Bauführer, obere Bauführer, und eine gewisse Führerschaft, die den Mauerbau angeordnet hat; diese Hierarchie erinnert an das Beamtensystem im alten China, das in der kurzen Erzählung Die Abweisung, die von Kafka im März 1920 verfasst wurde und ebenfalls zu seinem ‚China-Komplex‘ gehört, in eher direkter Weise thematisiert wird. Bezieht man die ganze Organisation des Mauerbaus auf das System der Mandarine im alten China, so bietet sich hier auktoriale Selbstironie als Lektürehypothese an. Bei Kafka wird das Maurerhandwerk zur „wichtigsten Wissenschaft erklärt“ (NSF I 339), tatsäch- lich aber war das Verfassen von Aufsätzen die höchste Wissenschaft im alten China. Wenn man sich auf eine Tätigkeit als Beamter vorbereitet, muss man das Schreiben der klassischen Schriftzeichen und klassische Texte des chinesi- schen Altertums lernen, während Handwerker und andere untere Stände in der Regel keinen Zugang zu der erforderlichen Vorbildung und den erzieherischen Möglichkeiten hatten. Deswegen sind chinesische Beamte meistens Gelehrte, oft Literaten und Dichter, und diese Tatsache war Kafka gewiss wohlvertraut.25 Indem in Kafkas China das Bauen an die Stelle des Schreibens tritt und sowohl die Mauer als auch der literarische Text fragmentarisch bleiben, ist hier eine kalkulierte Selbstreferenz (der Erzählhandlung auf den Entstehungsprozess der Erzählung) anzunehmen.

Nicht nur homogene, sondern eben auch heterogene und einander wi- dersprechende Diskurse treffen bei Kafka aufeinander. Das wird ersichtlich, wenn von der Schutzfunktion der Mauer die Rede ist. Einerseits gesteht der Ich-Erzähler zu, dass die Chinesische Mauer „Schutz für die Jahrhunderte“

(NSF I 339) bieten wird, nämlich, „wie allgemein verbreitet wird und bekannt ist“ (NSF I 338), zum Schutz gegen die Nordvölker. Diese Auffassung wird in

24 Wassilii Pawlowitsch Wassiljew: Die Erschließung Chinas. Kulturhistorisch und wirt- schaftspolitische Aufsätze zur Geschichte Ostasiens. Leipzig 1909, S. 168.

25 Dafür spricht auch Kafkas Vertrautheit mit dem chinesischen Gelehrten und Beamten Mei Yuan (袁枚,1716-1797). Vgl. dazu seinen Brief an Felice Bauer vom 24. November 1912: „Es [ein kleines chinesisches Gedicht: Vf.] stammt von dem Dichter Yan-Tsen-Tsai (1716-97) über den ich die Anmerkung finde:,Sehr talentvoll und frühreif, machten eine glänzende Karriere im Staatsdienst. Er war ungemein vielseitig als Mensch und Künstler‘“

(Br I 258f.), und seinen Brief am 14/15. Januar 1913: „[I]mmer wieder fällt mir gegen 2 Uhr Nachts der chinesische Gelehrte ein“ (Br. II 40). Siehe auch Kafkas Traum im Jahr 1917: Ein unerwarteter Besuch eines chinesischen Gelehrten „mit steifem, schütterm, grauschwarzem Ziegenbart“ (NSF I 324), eine Erscheinung, die stark an Mei Yuan erinnert.

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fast allen oben genannten Schriften von Missionaren und Historikern vertreten.

Andererseits stellt der Ich-Erzähler die Schutzfunktion im Laufe der Erzählung permanent in Frage. Auch diese Skepsis ist keine reine Erfindung von Kafka, sondern sie taucht seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Chinadiskurs auf.

Im Anschluss an die Sinophilie der Aufklärungszeit in Europa „entwickelt sich im 18. Jahrhundert ein negatives Chinabild“26, das sich über das 19. Jahr- hundert bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Dementsprechend wird das Bild der Mauer negativer und deren Unzweckmäßigkeit wird stets hervorgehoben, wie etwa bei Voltaire in seinen Dictionnaire Philosophique27 und bei Daniel Defoe in seinem Roman Robinson Crusoe28. Friedrich Perzyński stellte in seinem Reisebericht Von Chinas Göttern auch fest: „Ihren angebli- chen Zweck, das Reich der Mitte vor tatarischen Einfällen zu schützen, hat sie schwerlich erfüllt.“29

II

Es ist leicht zu erkennen, dass die Rede von der Großen Mauer bei Kafka nicht nur ein fremdkultureller Diskurs ist, sondern auch Selbstbezug zur eigenen Kultur hat. Mit anderen Worten, Kafka hat sein China-Wissen funktiona- lisiert, um an der zeitgenössischen jüdischen Diskussion teilzunehmen. In diesem Zusammenhang mag man sich an einen bekannten Satz aus Kafkas Korrespondenz mit Felice Bauer zurückbesinnen: „Ich denke, wenn ich ein Chinese wäre und gleich nach Hause fahren würde (im Grunde bin ich ja ein Chinese und muss nach Hause fahren), müsste ich es doch bald erzwingen, wieder herzukommen“ (Br III 161). Diesen Satz hat Kafka im Mai 1916 in Marienbad niedergeschrieben, an einem „jüdischen Ort“30 also, der zusammen mit Karlsbad und Franzensbad das Zentrum der jüdischen Kurortlandschaft Mittel- und Osteuropas zur Zeit des Fin de Siècle bildete, mit der „ganze[n]

Breite möglicher Identitäten, die zur Zeit im europäischen Judentum bestanden

26 Adrian Hsia (Hrsg.): Deutsche Denker über China. Frankfurt a.M. 1985, S. 380.

27 Voltaire: Dictionnaire Philosophique, Band 1. Amsterdam 1789, S. 334.

28 Daniel Defoe: Der vollständige Robinson Crusoe. Neu nach dem Englischen bearbeitet.

Konstanz 1829, S. 309 f: „Am dritten Tage gelangten wir an die berühmte große Mauer, wodurch China sich gegen die Einfälle der Tataren nicht sichern konnte.[…] Da dies Riesenwerk nicht zu verhindern vermochte, dass die Tataren eindrangen und das Reich eroberten, jetzt also keine Feinde mehr sind, sondern mit den Chinesen eine Nation aus- machen, so ist die Mauer zum Theil überflüssig und versinkt größtentheils in Trümmer.“

29 Perzyński (s. Anm. 17), S. 161.

30 Vgl. Mirjam Triendl-Zadoff: Nächstes Jahr in Marienbad. Göttingen 2007, S. 14.

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– von konservativ über sozialistisch, kommunistisch und zionistisch bis hin zu fromm in allen religiösen Strömungen“,31 oder, um mit Kafka zu sprechen,

„eine Art Mittelpunkt der jüdischen Welt“ (Br III 183). Die im Brief erhoffte Wiederkehr kam bald zustande. Im Juli desselben Jahres traf Kafka hier Felice Bauer, mit der er alle drei westböhmischen Bäder besuchte. Nachdem Felice Bauer nach Berlin zurückgereist war, machte Kafka allein Spaziergänge in der Judengasse und erlebte zusammen mit seinem Hebräischlehrer Georg Langer, der ihm eine wichtige Auskunftsquelle über den Chassidismus war,32 eine unmittelbare Nähe zum Belzer Rabbi, dem damaligen Hauptträger des Chassidismus, der zu jenem Zeitpunkt seine traditionelle repräsentative Reise nach Marienbad machte.

In der bisherigen Forschung wird mehrfach thematisiert, dass der Chinese bei Kafka eine Chiffre für das jüdische Volk sei.33 Mit seinem selbst schon übertriebenen traditionellen geopolitischen Begriff Tianxia (

天下

)34 bietet China einen guten Schauplatz für Kafkas verhüllende, kryptische Darstellung des Schicksals der Diasporajuden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwun- derlich, dass der Ich-Erzähler, ein alter ego des Autors Kafka, in einer Provinz, also in der Peripherie bleiben muss, denn das eigentliche jüdische Zentrum ist Jerusalem. Zudem ist es interessant zu sehen, dass in Julius Dittmars Reise- bericht Im neuen China Chinesen genau wie Juden als „eine Art auserwähltes Volk“35 charakterisiert werden. Allerdings bleibt zu fragen, ob diese Chiffre weiter zu präzisieren ist, denn das jüdische Volk ist eine lose Einheit, die es auf topographischer und kulturell-religiöser Ebene zu differenzieren gilt. Ebenso wäre nach den historischen Zusammenhängen zwischen dem jüdischen Volk und der Chinesischen Mauer zu fragen.

Zunächst gilt es festzustellen, dass Kafkas Mauer-Bild intertextuell sehr vielschichtig ist. Allein im traditionellen jüdischen Kontext hat die Mauer schon viele mögliche Bezugsobjekte, wenn man an die Klagemauer in Jerusalem oder historische Ghettomauern denkt. In der zeitgenössischen zionistischen Auseinandersetzung fehlt es auch nicht an Mauern als Metaphern, die entweder

31 Triendl-Zadoff (s. Anm. 30), S. 85.

32 Zu Langer als mythischem Mittler bei Kafka vgl. die neue Forschung: Walter Koschmal:

Der Dichternomade: Jiří Mordechai Langer, ein tschechisch-jüdischer Autor. Wien u.a.

2010, S. 102-118.

33 Vgl. dazu Günter Andreas: Kafka Pro und Contra. München 1962, S. 10. Marcel Krings:

Franz Kafka. Der,Landarzt‘-Zyklus. Freiheit-Schrift-Judentum. Heidelberg 2017, S. 180- 182. Hideo Nakazawa: Kafka und Buber. Beim Bau der chinesischen Mauer und seine Satellitenwerke. München 2018, S. 27-29.

34 Wörtlich bedeutet dieser Begriff „alles, was unter dem Himmel ist“ und bezeichnet somit eine die ganze Welt umfassende Räumlichkeit. Deshalb ist er eine geeignete Anspielung auf die Verstreuung der Juden über die ganze Welt.

35 Dittmar (s. Anm. 11), S. 36.

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eine politische Bedeutung implizieren oder geistige Strukturen zum Ausdruck bringen. „Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Cultur gegen die Barbarei besorgen“36 hieß ein viel zitierter Satz in Judenstaat von Theodor Herzl, Hauptbegründer des politischen Zionismus, auf den der Gelehrte in Kafkas Text anspielen dürfte. So hat Benno Wagner darauf aufmerksam gemacht, dass Kafka in seiner China-Erzählung „ein komplexes und enges Geflecht von Zitaten und Anspielungen sowohl durch Herzls Judenstaat wie auch durch seinen Roman Altneuland“37 treibt. Andererseits verweist die Chinesische Mauer auf die De- batten des Kulturzionismus, dessen Hauptvertreter Martin Buber und einige Prager Intellektuelle im Umfeld Kafkas einschließt. So schrieb ein Kulturzio- nist namens Jakob Klatzkin, ein Schüler Hermann Cohens, in der von Martin Buber herausgegebenen Monatsschrift Der Jude im Jahr 1916 einen Artikel mit dem Titel „Grundlagen des Nationaljudentums“ und behauptete: „Unsere Religionsverfassung ist reich an nationalen Scheidewänden, an Schutzmauern und Zäunen, die unser Eigenleben allseitig umgrenzen.“38 An einer anderen Stelle hieß es: „Die äußeren Ghettomauern, die von unseren Feinden errichtet wurden, hätten es nie bewirken können. Die inneren Mauern aber, die in unserer Religion gegründet und die wir auf den Wanderweg mitgenommen und in den Siedlungen immer fester ausgebaut haben, diese beweglichen ,Zelte Jacobs‘ sind es, die uns überall ein eigenes Heim sicherten. Die jüdische Religion ist reich an Umzäunungen, die unser Gemeinwesen gegen die Umwelt abgrenzen.“39

Dass Kafka ausgerecht die Chinesische Mauer zum Thema macht, ist wohl darauf zurückzuführen, dass er hier eine zur Jahrhundertwende geläufige Analogie im Prager Zionismus aufgreift, und zwar die Definition des Juden als Orientale. Mit dieser Neubestimmung des Standortes der jüdischen Minderheit versuchten zeitgenössische jüdische Intellektuelle und Schriftsteller, darunter Martin Buber, Jakob Wassermann40 und Arnold Zweig, mit deren Gedanken Kafka wohl vertraut war, ihre asiatische Wurzel

36 Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig / Wien 1986, S. 29.

37 Wagner (s. Anm. 1), S. 258. Vgl. dazu noch Benno Wagner: „Ende oder Anfang?“ Kafka und der Judenstaat. In: Mark H. Gelber (Hrsg.): Kafka. Zionism and Beyond. Tübingen 2004, S. 219-238.

38 Jakob Klatzkin: Grundlagen des Nationaljudentums. In: Der Jude, Heft 9 (Dezember 1916), S. 609-618, hier S. 610. Vgl. dazu noch Jost Schillemeit: Der unbekannte Bote. Zu einem neuentdeckten Widmungstext Kafkas. In: Rosemarie Schillemeit (Hrsg.): Kafka Studien.

Göttingen 2004, S. 254-256.

39 Klatzkin (s. Anm. 38), S. 613.

40 Vgl. dazu Jakob Wassermann: Der Jude als Orientale. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch.

Hrsg. von Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig 1913, S. 5-8.

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hervorzuheben und damit eine Art Renaissance des Judentums gegen den Westen wiederherzustellen.41

Zur oben skizzierten Vielschichtigkeit des Mauer-Bildes bei Kafka gehört auch – so mein Befund – der Verweis auf die Politik der Grenzsperre gegen Ostjuden im Ersten Weltkrieg. Es ging um die sogenannte Ostjudenfrage, die damals in jüdischen und deutschsprachigen Periodika eine brisante gesell- schaftliche Diskussion entfachte.42 Seit den ersten Kriegsjahren wanderten große Massen von Ostjuden ins Deutsche Reich, besonders in die Hauptstadt Berlin. Dagegen forderten Antisemiten und Alldeutsche rigoros die Unterbin- dung jeglicher Einwanderung. In der Jüdischen Rundschau vom 15. Oktober 1915 erschien ein Leitartikel von Leo Herrmann, dessen Überschrift kurz und bündig lautete: Die chinesische Mauer. Herrmanns Artikel stellte vor allem ein rassistisches Pamphlet von Georg Fritz mit dem programmatischen Titel Die Ostjudenfrage. Zionismus&Grenzschluß (1915) an den Pranger.43 In diesem 48-seitigen Pamphlet forderte Georg Fritz Einwanderungsbeschränkungen zum Schutz der deutschen Rasse und brachte ebenfalls die Chinesen mit den Juden in Zusammenhang, indem es die „Gelbe Gefahr“ der „jüdischen Gefahr“

gegenüberstellte. Die „Gelbe Gefahr“ bezieht sich vor allem auf Japan und China. Obwohl Georg Fritz an mehreren Stellen direkt von Japan sprach, wahr- scheinlich weil die deutsche Kolonie Qingdao 1914 von Japan besetzt wurde und Japan mithin eine militärische Bedrohung darstellte, sprach er doch auch die von China ausgehende Gefahr an, wenn auch in einer indirekten Weise.

Fritz meinte, „deutsches Wesen und deutsche Kultur sind [...] nicht unmittel- bar bedroht von Japan, wohl aber von den vierhundert und mehr Millionen zähflüssiger, bedürfnisloser, träggeistiger Massen“.44 Deren „vierhundert und mehr Millionen“ entsprechen gerade der Zahl der Bevölkerung von China in der Qing-Dynastie. Weiterhin schrieb Fritz, dass man mit der kolonialen Ausdehnung Deutschlands nach Osten die Gefahr einer Masseneinwanderung heraufziehen sah. Das Deutschtum stehe nun in einem Mehrfrontenkampf ge- gen entartete Slawen, gegen die Gelbe Gefahr aus dem Osten, und schließlich

41 „Das Zeitalter, in dem wir leben, wird man einst als das der asiatischen Krisis bezeichnen.“

Siehe Martin Buber: Vom Geist des Judentums. Leipzig 1916, S. 64.

42 In der Forschung hat Schillemeit angedeutet, dass „die neue, konkrete Begegnung mit Religion und Kultur des Ostjudentums […] vor allem durch die Ströme von ostjüdischen Flüchtlingen, die in diesen Kriegsjahren ständig aus Galizien und anderen osteuropäischen Ländern in Großstädten wie Prag und Berlin eintrafen, Einfluss auf Kafkas Schreiben im Winter 1916/17 hatte.“ Siehe Schillermeit (s. Anm. 38), S. 249. Allerdings hat er diese These nicht weiter präzisiert.

43 Darüber hinaus Wolfgang Heinze: Ostjüdische Einwanderung. In: Preußische Jahrbücher 1915, Heft 4, S. 98-117. Paphnutius: Die Judenfrage nach dem Kriege. In: Die Grenzboten 1915, Nr. 39 (29. September), S. 392-408.

44 Georg Fritz: Die Ostjudenfrage. Zionismus&Grenzschluss. München 1915, S. 5.

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gegen die Gefahr einer wachsenden jüdischen Einwanderung Galiziens und der Balkanstaaten. Den Zionismus fasste er deswegen als eine Kolonisationsbewe- gung auf, die man vom deutschen Judentum fernhalten sollte. Er befürwortete eine Grenzsperre gegen alle ‚Fremdrassigen‘ oder doch eine scharfe Auslese der Zuwanderer. Herrmann replizierte genau mit der Waffe seiner Gegner, indem er Fritz als einen Fremden (Chinesen) bezeichnete: „Man sieht, dass dem Herrn Regierungsrat Georg Fritz gewissermaßen die Errichtung einer chinesischen Mauer vorschwebt, die um Alt-Deutschlands Grenzen zu ziehen wäre.“45 Aber „die richtige chinesische Mauer wehrt auch dem Eingeborenen den Austritt in die Welt.“46

Die zeitgenössische Debatte zur Grenzsperre gegen Ostjüdische Flüchtlin- ge hatte Kafka wahrscheinlich verfolgt, denn einerseits war er ein treuer Leser der Jüdischen Rundschau. Diese damals größte und bedeutendste zionistische Wochenzeitung in Deutschland ließ sich Kafka regelmäßig zuschicken.47 Zusammen mit der Selbstwehr bildete sie seine Informationsquelle über die zeitgenössischen zionistischen Bewegungen. Im Brief an Felice Bauer vom 2. August 1916 hatte Kafka diese Zeitung erwähnt: „Gestern habe ich Dir eine Nummer der Jüdischen Rundschau geschickt, der Aufsatz von Max zeigt was er gearbeitet hat“ (Br III 194), und Leo Herrmann, der Verfasser des Artikels Die chinesische Mauer, gehörte zu Kafkas Freundeskreis. Ab 1910 war er lei- tender Redakteur der zionistischen Wochenschrift Selbstwehr, als Sekretär der zionistischen Leitung kam er 1913 nach Berlin und übernahm die Redaktion der Jüdischen Rundschau während des Ersten Weltkriegs. Auch Georg Fritz hat Kafka möglicherweise zur Kenntnis genommen: Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Kafka in der Erzählung Die Abweisung, einem Text, der ebenfalls zum so genannten „China-Komplex“48 gehört, einen Obersteuereinnehmer vorführt, der „gegenüber der Bitte [...] wie die Mauer der Welt“ (NSF I 264) steht – Fritz hatte Finanzwissenschaft studiert und war zu dem Zeitpunkt geheimer Regierungsrat.

Andererseits sollte Kafka die Situation der ostjüdischen Flüchtlinge in Berlin, Prag und anderen Städten nicht fremd gewesen sein, denn nach der Marienbadreise forderte er Felice Bauer dazu auf, in einem jüdischen Volksheim in Berlin als Helferin tätig zu sein und sich um ostjüdische Flücht- linge zu kümmern. In Prag, wo die jüdische Gemeinde ein Hilfskomitee für jüdische Flüchtlinge gegründet und eine Verpflegungsstelle eingerichtet hatte, hatte er selbst die ostjüdische Einwanderung in unmittelbarer Nähe

45 Leo Hermann: Die chinesische Mauer. In: Jüdische Rundschau 1915, Nr. 42 (15. Oktober), S. 335.

46 Hermann (s. Anm. 45), S. 335.

47 Max Brod: Franz Kafka. Eine Freundschaft. Frankfurt a. M. 1989, S. 189, 193, 200.

48 Jobst/Neumeyer (s. Anm. 2), S. 11.

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erfahren.49 Sogar in Marienbad dürfte Kafka mit dem Flüchtlingsproblem konfrontiert gewesen sein, denn schon seit September 1914 kam eine große Zahl jüdischer Flüchtlinge aus den galizischen und bukowinischen Kriegsge- bieten nach Karlsbad, Marienbad und Franzensbad.50 „Es gibt Gespenster der Gesellschaft und solche des Alleinseins“ (Br III 159), so schrieb Kafka am 14. Mai 1916 in Marienbad, also einen Tag bevor er sich selbst als Chinesen bezeichnete. Die Wendung „Gespenster der Gesellschaft“ spielt möglicherwei- se auf ostjüdische Flüchtlinge an, weil gerade drei Monate zuvor in Ost und West – einer in Berlin erscheinenden zionistischen jüdischen Monatsschrift, die Kafka regelmäßig las – ein Artikel veröffentlicht worden war, der in An- spielung auf das Kommunistische Manifest auf das sprunghafte Ansteigen der ostjüdischen Flüchtlinge in den Anfangsjahren des Ersten Weltkriegs einging:

„Ein Gespenst geht um in Deutschland bei hellem Tage. Seit Monaten läßt es den Weltverbesserern und Menschheitsrettern keine Ruhe und setzt tausend Federn und Zungen in Bewegung. Es ist die,Ostjudenfrage‘.“51

Bezieht man die chinesische Mauer bei Kafka auf die Politik der Grenzsper- re gegen ostjüdische Flüchtlinge, so bemerkt man dann leicht die Strukturana- logien zwischen den Nomaden in Kafkas Darstellung und dem Ostjudenbild sowohl im zeitgenössischen publizistischen Diskurs über die ‚Ostjudenfrage‘

wie auch in Kafkas eigenem Verständnis. Wie Trude Maurer festgehalten hat, waren „[d]ie dominierenden Züge des Ostjudenstereotyps, das Grundlage dieser Politik [die Politik der Grenzsperre: Vf.] war, [...] Schmutz, gesundheitliche Gefahren“,52 dementsprechend haben die Nomaden in Kafkas Darstellung

„immer ängstlich rein gehaltenen Platz [...] einen wahren Stall gemacht“ (NSF I 358). „Oft machen sie Grimassen, dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde“ (NSF I 359), so wird dadurch ein epilepsie- ähnlicher Anfall bzw. andere Krankheiten geradezu am Rand des Todes ange- deutet 53 – tatsächlich kam es am 23. April 1918 zu einer von dem preußischen Innenministerium verhängten Grenzsperre gegen ostjüdische Einwanderer.

Der Hauptgrund dafür war „die große Fleckfiebergefahr, die von Ostjuden

49 Siehe Kafkas Tagebucheintragungen: zuerst 24. November 1914, ein Besuch „in der Tuchmachergasse, wo die alte Wäsche und Kleidung an die galizischen Flüchtlinge ver- teilt wird“ (T 698), ein Abend „Ost- und Westjuden“ des Jüdischen Volksvereins am 11.

März 1915 (T 730), „[d]ie Homerstunde der galizischen Mädchen“ (T 734) am 14. April 1915 und eine Eintragung „Tuchmachergasse, dann Volksküche“ (T 745) wieder am 14. Mai 1915.

50 Vgl. Triendl-Zadoff (s. Anm. 30), S. 122.

51 N.N.: Die Ostjudenfrage. In: Ost und West 1916, Heft 2-3, S. 73-112, hier S. 73.

52 Trude Maurer: Medizinalpolizei und Antisemitismus. Die deutsche Politik der Grenzsperre gegen Ostjuden im Ersten Weltkrieg. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (1985), Heft 2, S. 205-230, hier S. 206.

53 Vgl. Krings (s. Anm. 33), S. 93.

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ausgehe“,54 also eine hygienepolizeiliche Begründung, die einen allzu direkten Antisemitismus verschleierte. Die Charakterisierung der Sprache der Noma- den – „Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen“ (ebd.) – erinnert stark an Kafkas eigene Beschreibung des Jiddischen, der Muttersprache der überwiegenden Mehrheit ostjüdischer Flüchtlinge. In seinem am 18. Februar 1912 im Festsaal der Jüdischen Rathau- ses gehaltenen Vortrag über die jiddische Sprache bezeichnete Kafka, dessen Namen im Tschechischen für „Dohle“ steht und der sich zu einer Minderheit von assimilierten Juden rechnete, die Interesse an diesem ostjüdischen Jargon fanden, Jiddisch als eine grammatiklose Sprache, die nur aus fremden, einge- bürgerten Worten bestehe (Vgl. NSF I 189). Allerdings sind sich die Nomaden – ein Sinnbild für ostjüdische Flüchtlinge – der Eigenheit ihrer Sprache nicht bewusst. „Sie tun es, weil es so ihre Art ist“ (NSF I 359), gerade das ist die Natürlichkeit des Ostenjudentums, die Kafka in seinem Tagebuch notiert hatte und die bei ihm zugleich Bewunderung und Verwirrung hervorrief.55 Kafka gehörte zu jener jüdischen Gruppe in Prag, die sich für ostjüdische Kultur in- teressierten und keine oder wenig konkrete Erfahrung mit den Ostjuden hatten.

Gerade der Zustrom ostjüdischer Flüchtlinge forderte das Prager Judentum heraus, sich intensiv mit den eigenen kulturellen Wurzeln auseinanderzuset- zen.56 Wahrscheinlich in diesem Sinne sagt der Ich-Erzähler in Beim Bau der chinesischen Mauer: „Aber mehr wissen wir von diesen Nordländern nicht.

Gesehen haben wir sie nicht, und bleiben wir in unserem Dorf, werden wir sie niemals sehen“ (NSF I 347).

Aufgrund seines Interesses am Ostjudentum, das auf seine Begegnung mit dem jiddischen Theater fünf Jahre zuvor zurückzuführen war, könnte Kafka in seinen China-Texten eine verborgene Solidarität mit den ostjüdischen Flücht- lingen verschlüsselt haben. Dafür spricht zunächst, dass er mit der Betonung der Lückenhaftigkeit die Schutzfunktion der Mauer in Frage stellt, was seine Kritik der Politik der Grenzsperre bedeuten kann. Mit einem relativ gelassenen Ton wird von der Bedrohung der Nomaden gesprochen, denn „zu groß ist das Land und läßt sie nicht zu uns, in die leere Luft werden sie sich verrennen.“

(NSF I 347), ganz im Sinne von Leo Hermann, wenn er angesichts der

54 Sarah Panter: Zwischen Selbstreflexion und Projektion. Die Bilder von Ostjuden in zio- nistischen und orthodoxen deutsch-jüdischen Periodika während des Ersten Weltkrieges.

In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung (2010), Heft 1, S. 65-91, hier S. 85.

55 Siehe Kafkas Tagebucheintragung am 25. März 1915: „Die Gruppe der Ostjuden beim Ofen. Götzl, im Kaftan, das selbstverständliche jüdische Leben. Meine Verwirrung“

(T 733).

56 Ritchie Robertson stellt fest, dass die Begegnung mit Ostjuden eine wichtige Wende in Prager Zionismus bedeutet. Siehe dazu Ritchie Robertson: Kafka. Judentum-Gesell- schaft-Literatur. Stuttgart 1988, S. 210.

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ostjüdischen Einwanderung feststellte: „Die Gefahr ist nicht so groß, wie man sich malen möchte.“57 Statt Bedrohung und Gefahr wird ein Zusammenleben ohne Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen Bewohner und Nomaden – Sinnbilder jeweils für assimilierte Westjuden und orthodoxe Ostjuden – in Ein altes Blatt inszeniert. Aber dieser Gegensatz zwischen Westjuden und Ostjuden auf der symbolischen Textebene wird in Beim Bau der chinesischen Mauer unterlaufen. Im Laufe der Erzählung wird die kulturelle Abgrenzung zwischen Chinesen und Nomaden immer unschärfer, so dass die Chinesen, die am Anfang für Westjuden stehen, ebenfalls Ostjuden repräsentieren können. Die zuerst als kulturell überlegen markierten Chinesen gehen im Laufe des Textes zu einem Volk im anachronistischen Zustand über, das an Ostjudentum erinnert, denn im Ostenjudentum erscheint jüdische Kultur als ein anachronistischer Zustand, der sich über Jahrhunderte nicht verändert und keinerlei Bezug zur Moderne hat. Das Dorf, das am Ende des Textes beschrieben wird, erinnert stark an die Schtetl, Dörfer mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil in Osteuropa, wo die Dorfbewohner „nur der Weisung und Warnung gehorch[en], die aus alten Zeiten [...] herüberreicht.“ (NSF I 355) Dadurch zeigt Kafka wiederum seine Solidarität mit den ostjüdischen Flüchtlingen, denn in der Debatte zur ‚Ostjudenfrage‘

zeigten die deutschen Zionisten ihre Solidarität mit ostjüdischen Einwanderern auch durch die Ablehnung der strikten Gegenüberstellung zwischen West- und Ostjuden. So erschien beispielsweise vier Ausgaben vor der Grenzschließung gegen Ostjuden im Jahre 1918 ein Artikel in der Jüdischen Rundschau mit der Überschrift „Grenzschluß gegen Juden in Deutschland“58. Durch diese Über- schrift wurde gezeigt, dass die Flüchtlingsproblematik bei deutschen Zionisten nicht als spezifiscs ostjüdisches, sondern auch als westjüdisches, oder besser ge- sagt, allgemeines jüdisches Anliegen zu verstehen war. Auch bei der Gleichung

„Chinesen=Ostjuden“ handelt es sich um Kafkas Übernahme des Diskurses in der Debatte zur Ostjudenfrage, wenn man berücksichtigt, dass der Begriff

„chinesische Mauer“ in der zeitgenössischen zionistischen Publizistik oft als eine Chiffre für die kulturelle Barriere verwendet wurde, die angeblich vom Ostjudentum selbst errichtet worden war. Zum Beispiel in Ost und West erschien im Jahr 1916 im Heft 4-5 ein Artikel mit dem Titel „die Ostjudenfrage II. Teil“, in dem über das Schicksal der ostjüdischen Flüchtlinge, verbunden mit der Aufforderung zur Integration, diskutiert wurde. Der Verfasser schrieb: „Allein das Interesse des Deutschen Reichs und der deutschen Nation, dem die Ostjuden zu dienen verpflichtet sind, soll erfordern, dass sie sich von dem Geistesleben und der Kulturentwicklung ihres Landes durch den Jargon wie durch eine

57 Hermann (s. Anm. 45), S. 336.

58 N.N.: Grenzschluß gegen Juden in Deutschland. In: Jüdische Rundschau 1918, Nr. 30 (26. Juli 1918), S. 229.

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chinesische Mauer absondern.“59 In Martin Bubers Monatsschrift Der Jude, den Kafka regelmäßig las, gab es auch Artikel, wo die Chinesische Mauer auf das Ostjudentum anspielt. So berichtete in einem Artikel mit dem Titel „Die jüdischen Gemeinden in Österreich“ der Verfasser Max Rosenfeld über die his- torische Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Österreich: Schon am Ende des 19. Jahrhunderts versuchte die galizische jüdische Bevölkerung ihre Ge- meinden mehr auszugestalten, etwa die spezielle Kultusgemeinde in Lemberg im Jahr 1878. Aber die Orthodoxen waren dagegen und beschlossen im Februar 1882 auf einer Rabbinerversammlung ein Projekt bezüglich der Organisation der Kultusgemeinden, damit die Hegemonie der Rabbiner gesichert wurde. Als Antwort darauf ist in einem Memorandum der Lemberger Gemeinde zu lesen,

„dass sie [die Orthodoxen; Vf.] eine chinesische Mauer gegen die Zivilisierung der galizischen Judenschaft zu errichten und deren Assimilierung in den mo- dernen Rechtsstaat zu verhindern suchen.“60 Die Jüdische Korrespondenz, das Wochenblatt für jüdische Interessen, veröffentlichte am 10. Oktober 1916 einen Bericht über die katastrophalen Folgen des Ersten Weltkriegs für das ostjüdische Leben, nachdem im Krieg „der seit 140 Jahren bestehende Ansiedlungsrayon durchbrochen worden [ist]. [...] Eine ganze,chinesische Mauer‘ von Gesetzen, ministeriellen Verfügungen, Gerichtsentscheidungen, Polizeiverordnungen usw., [...] die nun durch den Weltkrieg gewaltsam zerstört worden ist.“61

Es ist zu resümieren, dass Kafka in seinen China-Texten, in denen sich eigen- und fremdkulturelle Diskurse verschränken und die Chinesische Mauer eine Mischung von Geschichte und Mythos darstellt, seine zugrundeliegende Chinakenntnisse funktionalisiert, um sich einerseits mit seinem eigenen Identi- tätsproblem zwischen Tradition und Assimilation, andererseits mit der aktuellen

‚Ostjudenfrage‘ auseinanderzusetzen. Kafkas Beim Bau der Chinesischen Mauer kann sich als verborgene Antwort auf die von Georg Fritz und anderen propagierte Politik der Grenzsperre gegen Ostjuden im Ersten Weltkrieg lesen.

Indem Kafka die Unzweckmäßigkeit der Mauer und die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Chinesen und Nomaden, mithin Westjuden und Ostjuden inszeniert, bringt er innerjüdische Solidarität zum Ausdruck und demonstriert ein imaginiertes Kollektiv zwischen West- und Ostjuden. Gerade das gehört zur Kafkas aktualhistorischer Intervention als Schriftsteller.

59 N.N.: Die Ostjudenfragen. II. Teil. In: Ost und West 1916, Heft 4-5, S. 145-174, hier S. 166.

60 Max Rosenfeld: Die jüdischen Gemeinden in Österreich. In: Der Jude 1917, Heft 3, S. 152-162, hier S. 156.

61 N.N.: Chronik. In: Jüdische Korrespondenz 1916, Heft 37, 10.10.1916, S. 3.

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