A-2284
S P E K T R U M AKUT
(4) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 38
Schädel-Hirn-Trauma
Zytokin begünstigt periphere Infektion
N
ach einer Schädel-Hirn-Verletzung oder Hirnoperation kommt es häufig zu einer kurzzeitigen schweren Immunschwäche. Sie führt dazu, daß die Hälfte der Patienten in der ersten Woche nach dem Trauma an einer Lungenentzün- dung erkrankt. Warum die Funktion des Immunsy- stems plötzlich abnimmt, war bisher unklar. Forscher der Berliner Charité haben jetzt eine mögliche Er- klärung gefunden. In der Fachzeitschrift „Nature Medicine“ (1998; 7: 808–813) berichten Christian Woiciechowsky und Mitarbeiter, daß es nach Hirn- verletzungen regelmäßig zu einer gesteigerten Frei- setzung von Interleukin 10 (IL-10) aus den Mono- zyten im Blut kommt. IL-10 ist ein zellulärer Hemm- stoff gegen heftige Entzündungsreaktionen.D
as „immunsuppressive“ Zytokin wird bei In- fektionen von den Monozyten ausgeschüttet und soll den Körper vor einem Schaden durch die Überreaktion des Immunsystems bewahren. Bei den meisten Hirnverletzten liegt jedoch keine Infek- tion vor. Da es sich meistens um ein stumpfes Trauma handelt, besteht noch nicht einmal eine Eintrittspfor- te für potentielle Erreger. Die Arbeitsgruppe von Christian Woiciechowsky suchte deshalb an Mono- zytenkulturen nach weiteren Auslösern für eine IL- 10-Freisetzung. Sie fand, daß die Behandlung der Zellkulturen mit Katecholaminen innerhalb von we- nigen Minuten zu einer starken Freisetzung von IL- 10 aus Monozyten führt. Dies ist ein plausibler Er- klärungsansatz, denn nach Hirnverletzungen kommt es häufig zu einer starken Ausschüttung von Streß- Hormonen aus der Nebenniere.D
ie Forscher konnten ferner zeigen, daß die Freisetzung von IL-10 über eine Bindung von Adrenalin und Noradrenalin an den Beta- rezeptor vermittelt wird. Schließlich fanden sie im Rattenmodell, daß die Behandlung mit dem Beta- blocker Propranolol den Anstieg von IL-10 verhin- derte. Die Untersuchungen zeigen, daß IL-10 ein wichtiges Bindeglied zwischen Neuroendokrineum und Immunsystem ist. Ob sich daraus auch therapeu- tische Konsequenzen ableiten lassen – etwa eine Therapie von Hirnverletzten mit Betablockern oder noch zu synthetisierenden „IL-10-Blockern“ –, ist je- doch unklar. In einem Editorial warnt Carlos R. Pla- ta-Salaman von der Universität Newark im US-Staat Delaware vor voreiligen Schlüssen. Die Nebenwir- kungen der IL-10-Inhibition seien noch völlig uner-forscht. Rüdiger Meyer