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Archiv "Suchterkrankungen: Mit alten Vorstellungen aufräumen" (12.12.2008)

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A2702 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 50⏐⏐12. Dezember 2008

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ereits in der Antike wurde Sucht als potenzielle uner- wünschte Folge des Konsums von Schlafmohn, vergorenem Gersten- saft und anderen Rauschstoffen be- schrieben. „Suht“ oder „Suot“ von dem sich das Wort „Sucht“ sprach- lich ableitet, hat in den germani- schen Dialekten die Ursprungsbe- deutung „Krankheit“. Das zeigt sich auch heute noch bei Gelbsucht, Tob- sucht und Fallsucht. Im 16. Jahrhun- dert änderte sich die Bedeutung hin zu Laster oder verdammenswerter Charaktereigenschaft.

Sucht wird auch in der heutigen Gesellschaft häufig als selbst ver- schuldetes Übel betrachtet. Darun- ter müssen vor allem Privatversi- cherte leiden. Sie erhalten teilweise Schreiben von ihren Krankenversi- cherungen, in denen ihnen mitge- teilt wird, dass die Behandlungskos- ten für eine Suchterkrankung nicht erstattet werden. Für gewöhnlich wird dies mit dem Versicherungs- vertrag begründet, in dem es – meis- tens in Anlehnung an § 5 der Mus- terbedingungen – heißt: „Keine Leis- tungspflicht besteht . . . für auf Vorsatz beruhende Krankheiten und

Unfälle einschließlich deren Folge sowie für Entziehungsmaßnahmen einschließlich Entziehungskuren.“

Fast alle Betroffenen lesen dies als Hinweis auf ein eigenes „vor- sätzliches Verschulden“ und reagie- ren mit Scham- und Schuldge- fühlen. Diese wiederum bilden eine wirksame Hürde, Leistungsansprü- che einzufordern. Zudem wird auch die Scheu erhöht, eine professionel- le Behandlung in Anspruch zu neh- men: Der Konsum wird fortgesetzt, und die Folgeerkrankungen wer- den verschlimmert. Neurologische Krankheiten, Leberzirrhose, Krebs der Mundhöhle oder Suizidalität un- terliegen dann aber wieder der Leis- tungspflicht.

Viele Privatversicherte drängen daher ihre behandelnden Ärzte früh- zeitig dazu, dass die Diagnose Sucht nicht in der Abrechnung mit der Krankenversicherung auftaucht und stattdessen eine andere Diagnose vermerkt wird. Auf diesem Weg wird versucht, die Behandlungskos- ten der Alkoholkrankheit doch von der Krankenversicherung erstattet zu bekommen. Therapeutisch gese- hen werden damit jedoch die Ten-

denz des Suchtkranken, seine Er- krankung zu verleugnen, gestärkt und die Selbstwahrnehmung in eine falsche Richtung geleitet.

Bereits das Krankenversiche- rungsgesetz von 1883 bestimmte, dass Krankengeld nur teilweise oder nicht zu gewähren war, wenn es sich um eine durch „Trunkfälligkeit“ zu- gezogene Krankheit handelte. In der Reichsversicherungsordnung von 1911 verschwand jedoch die „Trunk- fälligkeit“ als Ausschlussgrund. Ei- ne neue Klarstellung auf rechtlicher Ebene erfolgte durch die Entschei- dung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1968, die Sucht als Krank- heit anerkannte.

Die neurobiologische Forschung der letzten zehn Jahre hat das Ver- ständnis von Sucht als Krankheit untermauert. Suchtstoffe verändern die Verschaltung und die Reaktions- weisen im Belohnungssystem des Gehirns. Bis auf die Ebene von neu- ronalen Rezeptoren und Neuro- transmittern ist belegt, dass die bio- logische Basis der Handlungssteue- rung bei Abhängigen verändert ist.

Das betrifft auch die Prozesse der

„freien“ Willensbildung, die bei

Dr. phil. nat. Köhler:

Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkran- kungen und Konsiliar- psychiatrie am Bürger- hospital Frankfurt am Main e.V.

Dr. med. Drexler: Beauf- tragter der Landesärz- tekammer Hessen für Drogen und Suchter- krankungen der Berufs- angehörigen

SUCHTERKRANKUNGEN

Mit alten Vorstellungen aufräumen

In der Gesellschaft gilt Sucht immer noch als selbst verschuldetes Übel. Privatversicherte haben mit dieser Definition besonders zu kämpfen. Ihre Behandlungskosten werden häufig nicht übernommen.

Wilfried Köhler, M. Siegmund Drexler

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Foto:Mauritius Images

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 50⏐⏐12. Dezember 2008 A2703

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Süchtigen krankheitsimmanent of- fensichtlich zum Suchtkonsum hin verändert ist.

Abhängigkeitserkrankungen sind chronisch verlaufende Erkrankun- gen, zu deren Entstehung und Ver- lauf konstitutionelle und verhaltens- bestimmte Faktoren beitragen. Sie ähneln darin anderen chronischen Erkrankungen, wie Diabetes mel- litus Typ II oder Bluthochdruck.

Rückfälle geschehen eben nicht aus

„freiem Willen“, sondern aus anhal- tend fortbestehenden Hirnfunkti- onsänderungen in Verbindung mit auslösenden Schlüsselreizen und sozialen Stressoren. Sucht ist dem- nach eine Krankheit, deren Entste- hung und Verlauf in komplexer Wei- se von konstitutionellen und umge- bungsbedingten Faktoren gesteuert wird. Folgerichtig klassifiziert die Weltgesundheitsbehörde (WHO) die Suchterkrankung als eine „Krank- heit“. Im Klassifikationssystem der WHO, der ICD-10, werden Sucht- erkrankungen in der Gruppe F1 der psychischen Störungen aufgeführt.

Aus historischen Gründen wer- den die Behandlungskosten der Ab- hängigkeitserkrankungen in Deutsch- land auf verschiedene Kostenträger- gruppen aufgeteilt: einerseits die Krankenversicherung und anderer- seits die Rentenversicherung. Die Behandlungskosten der Suchtfolge- erkrankungen wie Intoxikationssyn- drome, Entzugssyndrome und alko- holbedingte Organschäden werden durch die gesetzliche Krankenver- sicherung getragen. Für die Behand- lung des zugrunde liegenden psy- chischen Krankheitsprozesses und der psychischen Bindung an das Suchtmittel – gewöhnlich als „Ent- wöhnungsbehandlung“ bezeichnet – sind die Träger der Rentenver- sicherung zuständig. Hat der Er- krankte keinen Anspruch auf dies- bezügliche Leistungen der Ren- tenversicherung, ist wiederum die Krankenkasse für die Behandlungs- kosten leistungspflichtig. Es ließe sich diskutieren, ob die Aufspaltung auf verschiedene Kostenträger unter sachbezogenen und medizinischen Betrachtungen sinnvoll ist (1).

Betroffene, die sich in einer frühen Lebensphase für eine private Krankenversicherung entschieden

haben, oder zum Beispiel Beamte, die sich beruflich bedingt mit Bei- hilfeleistungen der Kommunen, der Länder oder des Bundes in einer pri- vaten Krankenversicherung versi- chern mussten, finden sich in einer präkeren Situation wieder. Anders als in der gesetzlichen Krankenver- sicherung schließen private Kran- kenversicherungen die Entwöhnungs- behandlung als Leistung auch dann aus, wenn kein sonstiger Kostenträ- ger, wie zum Beispiel ein berufs- ständisches Versorgungswerk oder eine Beihilfestelle, zuständig ist.

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, lei- tender Arzt des Verbands der priva- ten Krankenversicherungen, weist in einem Kommentar zu der Thema- tik formal stringent darauf hin, dass der Leistungsausschluss für Ent- wöhnungsbehandlung Ausdruck der Vertragsfreiheit in einem Privatver- trag sei (2). Er bestätigt ausdrück- lich, dass die Entwöhnungsbehand- lung medizinisch sinnvoll und not- wendig sei, verweist auf den häufig erfolgten Kulanzweg für eine erste

Entwöhnungsbehandlung. Er ver- neint, dass privat Krankenversicher- te durch die Vertragsgestaltung eine unberechtigte Benachteiligung er- fahren würden. Diese formale Be- trachtung erscheint in einem ande- ren Licht, wenn man berücksichtigt, dass bei Vertragsabschluss der Wis- sensstand der meisten Antragsteller hinsichtlich des Risikos, suchtkrank zu werden, sehr gering ist. Er ent- spricht in etwa dem Grad der Be- wusstheit zu dem Thema, der in der Bevölkerung verbreitet ist.

Der Personenkreis, der sich auf- grund beruflicher Faktoren privat versichern muss, hat keine andere Entscheidungsmöglichkeit und ist auf eine Absicherung seiner Ge- sundheitsrisiken durch die private Krankenversicherung angewiesen.

Abhängigkeitserkrankungen stellen nach den Depressionen die häufigs- te psychische Erkrankung dar. Sie

verursachen erhebliche sekundäre Behandlungs- und soziale Folge- kosten. Es widerspricht vor allem dem Stand der medizinischen Wis- senschaft und der Handhabung von Suchtkrankheiten in der Europä- ischen Union und durch die WHO, wenn privat Krankenversicherte vertraglich und strukturell benach- teiligt werden.

Die privaten Krankenversiche- rungen sollten überdenken, ob die ins Feld geführten Ausschlussklau- seln nicht eine gründliche, dem heutigen Wissensstand angemesse- ne individuelle Aufklärung über die Natur und die Häufigkeit des Suchtrisikos voraussetzen, wenn der Vertragsabschluss fair und an- gemessen sein soll. In vielen Berei- chen wirkt die private Krankenver- sicherung erzieherisch auf ihre Ver- sicherten ein und motiviert sie, ein gesundes Leben zu führen und frühzeitig Erkrankungsrisiken ent- gegenzuwirken. Das Verhalten bei Suchterkrankung steht dem diame- tral entgegen.

Die Anträge des diesjährigen 111.

Deutschen Ärztetages in Ulm wei- sen in die richtige Richtung. Sucht- erkrankungen sind Krankheiten wie andere auch. Hinweise auf Selbst- verursachung zielen ins Leere.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2008; 105(50): A 2702–3

LITERATUR

1. Krasney O, Schmidt L: Rahmenbedingungen der Krankenversicherung suchtkranker Pa- tienten. Sucht 2007; 53(2): 111–7.

2. Fritze, J: Kommentar zum Artikel „Rahmen- bedingungen der Krankenversicherung suchtkranker Patienten“, Sucht 2007;

53(2): 118–22.

Anschriften der Verfasser

Dr. phil. nat. Wilfried Köhler, Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen und Konsiliarpsychia- trie am Bürgerhospital Frankfurt am Main e.V., Nibelungenallee 37–41, 60318 Frankfurt am Main Dr. med. M. Siegmund Drexler, Beauftragter der Landesärztekammer Hessen für Drogen und Suchterkrankungen der Berufsangehörigen, Post- fach 90 06 69, 60446 Frankfurt am Main

Suchterkrankungen sind Krankheiten wie andere auch.

Hinweise auf Selbstverursachung zielen ins Leere.

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