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Archiv "Psychiatrische Versorgung: Ärzteschaft mahnt neue Initiativen an" (21.04.1988)

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AKTUELLE POLITIK

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

In der psychiatrischen Versor- gung in der Bundesrepublik Deutschland bestehen noch viele Defizite; die Versorgungssituation ist von Region zu Region von Bun- desland zu Bundesland zum Teil sehr unterschiedlich. Die von der von der Bundesregierung auf Initia- tiven des damaligen CDU-Bundes- tagsabgeordneten Walter Picard im Juni 1971 eingesetzte „Psychiatrie- Enqu&e"-Kommission, die im No- vember 1975 einen mehrbändigen Bericht vorlegte, nannte als vorran- gige Reformziele:

• Gleichstellung von psychisch Kranken mit körperlich Kranken;

• Gemeindenahe Versorgung der psychisch Kranken;

• Kontinuität der Behand- lungskette;

• Schaffung von Übergangs- einrichtungen (Tages- und Nachtkli- niken, Wohnheimen, Ubergangshei- men u. a.) und

• Verkleinerung beziehungs- weise Abschaffung der Psychiatri- schen Großkrankenhäuser, Verstär- kung der ambulanten (institutionali- sierten) „Dienste" und

• Integration der psychisch Kranken in Abteilungen an Allge- mein-Krankenhäusern in der Peri- pherie.

Davon sind die soziale Wirklich- keit und die gesetzgeberischen Grundlagen des Jahres 1988 noch weit entfernt. Mit dieser Feststel- lung verband Dr. med. P. Erwin Odenbach, Geschäftsführender Arzt der Bundesärztekammer und Leiter deren Abteilung „Fortbildung und Wissenschaft" einen Katalog von angezeigten Sofortmaßnahmen — auch und gerade im Zusammenhang mit dem geplanten „Gesundheits- Reformgesetz".

Gelegentlich des 36. Internatio- nalen Fortbildungskongresses der

Die soziale Wirklichkeit und die gesetz- geberischen Grundlagen

des Jahres 1988 sind von den Reformzielen noch sehr

weit entfernt

Bundesärztekammer und der Öster- reichischen Ärztekammer in Davos beleuchtete Dr. Odenbach den aktu- ellen Problemhaushalt der psychia- trischen Versorgung nach Beendi- gung des von der Bundesregierung in Gang gesetzten Modellpro- gramms Er konstatierte: Es ist eine sozialhistorische Tatsache: Die Ver- sorgung geistig Behinderter und psy- chisch Kranker wurde schon immer als eine halbstaatliche oder als eine ausschließlich staatliche Aufgabe angesehen. So sei es nicht verwun- derlich, daß von hoher und höchster Stelle die Psychiatrie unter die „Ob- hut" des Staates (der Landesge- sundheitspolitik) genommen worden ist. Nicht zu verkennen sei es auch, so unterstrich Odenbach, daß die Misere in der Psychiatrie im Zeitver- lauf auch ein Spiegelbild der Misere des öffentlichen Gesundheitsdien- stes stets gewesen ist. Die staat- lichen Instanzen und supervisieren-

den Organe hätten es sogar in Kauf genommen, die Abhängigkeit und Gängelung der in der psychiatri- schen Anstaltsversorgung einge- schalteten Fachkräfte durch einen hierarchisch strukturierten Stellen- kegel in den Anstalten zu zementie- ren. Die Versorgung der psychisch Kranken sei stadtfern hinter den ho- hen Mauern anonymer Landesklini- ken vonstatten gegangen — nach der Devise: „Die Jecken wollen wir in Köln nicht haben!".

Enquöte bewirkte auch Positives

Die negative Einstellung gegen- über den Psychiatrischen Kranken- häusern und die daraus resultieren- de Tendenz, diese ganz abzuschaf- fen, beruhte überwiegend auf einer weitverbreiteten Fehleinschätzung:

Es wurde die Meinung verbreitet, der Begriff der chronisch psychisch Kranken sei eine „Erfindung" oder zumindest ein Ergebnis der der ku- stodialen Anstalten beziehungsweise der Krankenhaus-Psychiatrie. Mit der Abschaffung der Psychiatrischen Krankenhäuser, insbesondere der Landeskrankenhäuser, glaubten vie- le „Experten", daß damit gleichzei- tig auch die vielen chronisch Kran- ken abzuschaffen seien.

Die Psychiatrie-EnquAte hatte aber auch Positives bewirkt:

D Es fand eine erste bundes- weite Bestandsaufnahme in den Psychiatrischen Krankenhäusern und Kliniken über die tatsächliche Versorgungssituation statt.

D Durch die Kapazitäten der Großkrankenhäuser wurden zu Recht reduziert.

D Die geforderte Kontinuität der Behandlung psychisch Kranker wurde durch die Einrichtung von Ambulanzen an den Psychiatrischen Krankenhäusern gefördert.

D Die Psychiatrischen Kran- kenhäuser „öffneten" sich stärker nach draußen; der bislang übliche Sicherungs- und Verwahrungscha- rakter tritt allmählich in den Hinter- grund.

D Der bereits in den sechziger Jahren begonnene Aufbau von semi-

Psychiatrische Versorgung

Ärzteschaft mahnt neue Initiativen an

Dt. Ärztebl. 85, Heft 16, 21. April 1988 (17) A-1085

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stationären Einrichtungen wurde all- mählich intensiviert.

Dr. Odenbach nannte folgende aufschlußreiche Zahlen: Von 1969 bis 1975 ist die Bettenzahl für psych- iatrisch Kranke in den Rheinischen Landeskrankenhäusern (Träger:

Landschaftsverband Rheinland) um mehr als 50 Prozent zurückgegan- gen. Allein innerhalb von sieben Jahren- von 1979 bis 1985- wurden die Betten für psychisch Kranke an den Rheinischen Landeskliniken um ein weiteres Drittel abgebaut, und zwar von 11 269 (100 Prozent) auf 7626 (67 Prozent). Gleichzeitig ist der Patientenneuzugang in diesen Krankenhäusern leicht gestiegen:

1979 wurden noch 23 900 Patienten- neuzugänge (100 Prozent) regi- striert, 1985 hingegen waren es be- reits mehr als 24 500 (102 Prozent).

Die durchschnittliche Aufenthalts- dauer ("Verweildauer") von psy- chisch Kranken sank im Rheinland um gut ein Drittel, von 146 Tagen im Durchschnitt (100 Prozent) auf heu- te rund 97 Tage ( 66 Prozent).

~ Bei der begrüßenswerten Verweildauerverkürzung muß eines beachtet werden: Oftmals ist dieser , ,statistische Erfolg'' lediglich auf ei- nen Verwaltungsakt und eine andere Zählweise zurückzuführen, weil möglichweise die Abgrenzung des Patienten-Klientel differiert oder früher ausschließlich in Anstalten versorgte Patienten jetzt in Über- gangs- oder Pflegeheimen als chro- nisch Kranke und Dauerpflegebe- dürftige gezählt werden.

Diese Entwicklung wurde be- günstigt und verlief nahezu parallel mit der wachsenden Zahl der Ner- venärzte. Diese erreichte per Ende 1987 die Rekordmarke von 5498 Nervenärzten (1955: weniger als 1000 Nervenärzte). Hinzu kommen weitere 900 Psychiater, so daß in der

psychi~trischen Versorg~ng zur Zeit 6488 Arztinnen und Arzte einge- schaltet sind.

Davon arbeiten rund 2900 im Klinikbereich, rund 1200 in der nie- dergelassenen Praxis und weitere 230 ~.ind bei Behörden beschäftigt.

152 Arzte dieser Gebietsarztgruppe arbeiten in sonstigen Einrichtungen, und 940 sind ohne ärztliche Beschäf- tigung. Insgesamt sind zur Zeit 3000

akademisch vorgebildete Mitarbei- ter in die psychiatrische Versorgung eingeschaltet. Sowohl dieser Mitar- beiterkreis als auch die Zahl der Nervenärzte wächst jährlich um (netto) fünf bis sechs Prozent, also weit überproportionaL

Weitere Forderungen angemeldet

Trotz einiger positiv zu werten- der Entwicklungen ist in der psych- iatrischen Versorgung noch nicht immer und allenorten alles , ,im Lot''. Beim Davoser Kongreß wur- den eine Reihe von Forderungen an- gemeldet:

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Die Psychiatrie darf nicht weiter als ein bequemes "Tor zur Staatsmedizin'' verstanden werden.

Der unverkennbaren Tendenz zur Institutionalisierung der ambulanten Versorgung ("Dienste"), bei der der Arzt zu einer "Randfigur" her- abgestuft wird, muß entschieden entgegengewirkt werden. Gerade die niedergelassenen Nervenärzte und Psychiater sollten sich dabei ak- tiv einschalten und die Kooperation verstärken. Dafür haben sich auch verschiedene Fachgesellschaften - als verbandsübergreifende Organi- sation - namentlich die Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege e. V. (DZV), Frankfurt, in ihrem unter Vorsitz von Prof. Dr. med.

Hans-Werner Müller (Meerbusch) erarbeiteten Aktionsprogramm (Ja- nuar 1988) stark gemacht.

f) Bei der stationären psychia- trischen Behandlung besteht ein nach Bundesländern sich unter- schiedlich auswirkender Nachholbe- darf. Die Personalpläne haben mit den Behandlungs- und Betreuungs- möglichkeiten psychisch Kranker nicht Schritt gehalten. Es fehlt auch an Sonderpädagogen, Arbeitsthera- peuten, Sportlehrern und anderen Fachberufsgruppen.

f) Die oft überstürzt durchge- führten Bettenreduzierungen in den Psychiatrischen Krankenhäusern ha- ben dazu geführt, daß ein großer Teil der nicht mehr in das neue Image passenden Patienten ( chro- nisch Kranke, Alterskranke) in Hei- A-1086 (18) Dt. Ärztebl. 85, Heft 16, 21. April 1988

me verlegt werden mußte. Dabei wurde die sonst so in den Vorder- grund gestellte Gemeinedenähe völ- lig vernachlässigt. Und: Es gibt kei- ne verbindlichen Regelungen für die Betreibung derartiger Heime.

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Die Trennung von Behand- lungs- und Pflegefällen schafft er- hebliche Probleme für Patienten, die zum Pflegefall erklärt worden sind.

Diese müssen dann ihr ganzes Ver- mögen und/oder ihr Einkommen einsetzen, oder sie werden zum "So- zialhilfefall'' abgestempelt.

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Die Rehabilitation psychisch kranker und geistig Behinderter ist kaum möglich, weil die sozialversi- cherungsrechtlichen Veraussetzun- gen meist nicht gegeben sind. Die Patienten sind vor ihrer Erkrankung zumeist keiner Beschäftigung nach- gegangen, so daß sie wiederum durch die Maschen der Sozialgesetz- gebung fallen und als , ,Menschen zweiter Klasse" der Sozialhilfe über- antwortet werden.

Q Viel mehr als bisher müssen im regierungsamtlichen Modellpro- gramm (in 14 Modellregionen), das die Länder in eigener Regie fortfüh- ren, niedergelassene Nervenärzte und Psychiater eingeschaltet werden und eine Integrations- und Leitungs- funktion übernehmen. Die ambu- lanten Sozialpsychiatrischen Dienste neigen oft dazu, sich in Konkurrenz zu den niedergelassenen Ärzten überflüssigerweise um Neurotiker sowie jüngere Leichtkranke zu küm- mern. Dabei werden die chronisch Kranken völlig vernachlässigt, weil Kapazitäten blockiert sind.

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Die heutige Sozialgesetzge- bung ist für die psychisch Kranken zu kompliziert und deshalb undurch- sichtig. Trotz der Erfüllung der ge- setzlichen Voraussetzungen ist es im Einzelfall oft nicht möglich, einen zuständigen Kostenträger zu finden, so daß es schwierig ist, psychisch Kranke in Übergangsrichtungen, ,,Beschützenden Werkstätten'' oder geeigneten Wohnungen unterzu- bringen. Noch längst nicht ist die Fi- nanzierung ausreichend gesichert, obwohl in den zurückliegenden J ah- ren einige anerkennenswerte Ansät- ze seitens des Gesetzgebers in dieser Richtung unternommen worden sind. Dr. Harald Clade

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