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Besuch von Konzerten klassischer Musik – eine Frage des Alters oder der Generation?

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Besuch von Konzerten klassischer Musik - eine Frage des Alters oder der Generation?

Thomas K. Hamann

Zusammenfassung

Das deutsche Klassikpublikum ist gegenwärtig im Vergleich zur Gesamtbe­

völkerung deutlich überaltert. Welche Bedeutung diese Situation für die künf­

tige Entwicklung der Größe des Publikums für klassische Musik hat, war bislang unklar: Droht das Klassikpublikum in den nächsten Jahrzehnten lang­

sam auszusterben? Oder halten die familiäre und berufliche Situation die jüngeren Erwachsenen nur vorübergehend vom Besuchen klassischer Kon­

zerte ab? Die in diesem Beitrag beschriebenen Datenanalysen legen nahe, dass die Klassikhörer und damit das Klassikpublikum vor allem einem Ko­

horten- und kaum einem Alters- bzw. lebenszyklischen Effekt folgen. Mit dem Aufkommen der Pop-/Rockmusik nach dem Zweiten Weltkrieg scheinen sich die Rahmenbedingungen der musikalischen Sozialisation zugunsten der Pop-/Rockmusik und zum Nach teil der klassischen Musik gewandelt zu haben. Während ausschließlich aufgrund der demografischen Veränderungen in Deutschland zwischen 1993/94 und 2004/05 ein Anstieg des Klassikpub­

likums um 1,0 Mio. Personen zu erwarten gewesen wäre, bewirkten andere Einflussfaktoren wie der musikgeschmackliche Wandel einen gegenläufigen Effekt in Höhe von 4,3 Mio. Personen, so dass die Besucher von klassischen Konzerten insgesamt um 3,3 Mio. Personen zurückgegangen sind.

Abstract

Currently, the German classical music audience comprises of a dispropor­

tionate number of elderly people compared to the population as a whole.

Until now, this situation's implications for the size of future audiences re­

mained unclear: Will the classical music audience gradually die out in the coming decades? Or does the family- or work-related situation temporarily restrain the younger adults from attending classical music concerts? Sound data analyses described in this contribution suggest that the classical music listeners and hence the audience of live perf ormances follow a cohort, rather than an age or lif e course eff ect. With the emergence of pop/rock music after World War II the conditions of musical socialization seem to have changed in favor of pop/rock music and clearly have stacked odds against classical music. Based only on the demographic transition in Germany between 1993/94 and 2004/05, an increase of 1.0 million visitors of classical music

(2)

concerts was to be expected, but changes in other influence factors such as musical taste caused a counteracting 4.4 million persons drop-resulting in an overall decline of 3.4 million persons.

1 Aktuelle Altersstruktur des Klassikpublikums in Deutschland

Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist das Klassikpublikum in Deutsch­

land gegenwärtig deutlich überaltert: Während gemäß dem achten Kultur­

Barometer die Altersklassen von 18 bis 49 Jahre unter den Besuchern klassischer Konzerte gegenüber ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert sind, sind die Altersklassen ab 50 Jahre überrepräsen­

tiert. Analoges gilt laut ARD-E-Musikstudie 2005 für die altersstruktu­

relle Zusammensetzung des sog. weiten bzw. engen Konzertpotenzials (siehe Abbildung 1). Das weite bzw. enge Konzertpotenzial ist dabei defi­

niert als Personen, die innerhalb eines Jahres etwa ein bzw. ca. zwölf Klas­

sik-, Kirchenkonzerte oder Opernaufführungen besuchen und die zu den ,,E-Musikoffenen" gerechnet werden können (Eckhardt, Pawlitza & Wind­

gasse, 2006, S. 273 u. 282).

In Prozent (Verteilung)

Achtes Kultur­

Barometer (2004/05)

ARD-E-Musik- studie 2005

• Zum 3 1 . 1 2 . 2004

•• Zum 3 1 . 1 2. 2005

Stichprobengröße D Bevölkerung ab 18 Jahre in Deutschland•

• Besucher klass. Konz.: n = ca. 6 1 0 Personen D Besucher mindestens eines klassischen Konzerts (E-Musik) innerhalb eines Jahres

1 0 , 1 6 6 1 1 ' 1 1 8-24 Jahre

1 4 ,9

1 1

9 ,

3

I

25-34 Jahre

m

35-49 Jahre

1"T'1

50-64 Jahre

m

2: 65 Jahre 30,4 Stichprobengröße D Bevölkerung ab 14 Jahre in Deutschland

• Weites Konzertpotenzial: n = 2.336 Personen D Weites Konzertpotenzial

• Enges Konzertpotenzial: n = 384 Personen Enges Konzertpotenzial

40,0 ' ' 1

II II · 11

1 1

II

1 . ·-

'

. ..

1 . . .. .

.

. .

Quelle: Eckhardt, Pawlitza & Windgasse (2006, S. 274) sowie eigene Berechnungen auf Basis von Keuchel & Wiesand (2006, S. 25), Keuche! (2005, S. 1 ) und Statistisches Bundesamt Deutschland

Abb. 1:

Altersstruktur der Besucher von Veranstaltungen mit klassischer Musik im Vergleich zur Bevölkerung - Deutschland 2004/05

(3)

Welche Ursachen zur aktuellen Altersstruktur des (Konzert-)Publikums von klassischer Musik geführt haben und wie sich diese auf dessen künftige Entwicklung auswirken, ist bislang umstritten:

,,Sterben die Hörer des klassischen Symphonieorchesters einfach weg? Oder machen sie zwi­

schen dem 18. und dem 35. Lebensjahr nur mal Pause, um sich den Wohlstand und die Freizeit zu erarbeiten, die notwendig sind, um Konzerte besuchen zu können? [ . .. ] Es sind diese und viele andere Fragen, die auf dem Deutschen Orchestertag erörtert wurden, der in dieser Woche [06./07. 11. 2005] in Berlin stattfand. Über die Antworten wurde man sich nicht einig. Dabei waren es die besten Kenner der Situation, die sich da zum dritten Mal zusammengefunden hatten, um die Krise der deutschen Orchesterlandschaft zu analysieren: Orchesterdirektoren und -geschäftsführer, Interessenvertreter und Journalisten." (Fuhrmann, 2005, S. 23)

Daher wird in diesem Beitrag den vorangehend aufgeworfenen Fragen detail­

liert nachgegangen - und zwar folgendermaßen: Zunächst werden die ver­

schiedenen Effekte definiert, die dem in der Gesellschaft beobachtbaren Ver­

halten und dessen Veränderung zugrunde liegen können (siehe Abschnitt 2). In Abschnitt 3 werden die typischen Entwicklungsmuster der Partizipationsra­

ten, die sich unter jeweils ausschließlicher Zugrundelegung dieser verschie­

denen Effekte im Zeitverlauf ergeben, einander gegenübergestellt sowie die bestehenden Limitationen von Querschnittsdaten zur Separierung der mög­

licherweise gleichzeitig auftretenden und sich damit überlagernden Effekte erläutert. Anschließend werden die in zeitlichen Abständen gemessenen Anteile der Klassikhörer bzw. Besucher von Konzerten klassischer Musik an den verschiedenen Altersklassen/-kohorten verglichen: Aus den in den USA und den Niederlanden zeitlich versetzt durchgeführten Querschnittserhebun­

gen resultieren Längsschnittdaten, die zwar zur Falsifikation eines Alters-/

lebenszyklischen, nicht aber eines Kohorteneffekts führen (siehe Abschnitt 4 ).

Ergänzt werden diese Analysen durch die Betrachtung von arithmetischem Mittel und der Standardabweichung, welche jeweils die 1980, 1998/99 und 2003 ermittelten Altersstrukturen der Besucher von Live-Aufführungen klas­

sischer Musik kennzeichnen. In Abschnitt 5 wird auf den musikgeschmack­

lichen Wandel eingegangen, der vor dem Hintergrund des nicht falsifizierten Kohorteneffekts durch aktuelle Querschnittsdaten bezüglich der Einstellung der verschiedenen Altersklassen/-kohorten in Deutschland gegenüber klas­

sischer und Popmusik impliziert wird. Schließlich wird in Abschnitt 6 der Separierung der Auswirkungen des demografischen Wandels von denen des Kohorteneffekts nachgegangen. Beide beeinflussen nämlich die absolute Größe der jeweiligen Hörerschaft verschiedener Musikgenres und damit ein­

hergehend die jeweils absolute Zahl an Konzertbesuchern der entsprechenden Genres. Dies geschieht, indem die Bestände an Besuchern von Konzerten klassischer bzw. Pop-/Rock-/Jazz-Musik von 1993/94 und 2004/05 mitein­

ander verglichen werden. Indem zunächst die prozentualen Anteile dieser Besuchergruppen von 1993/94 für die einzelnen Altersklassen als konstant angenommen werden, d. h. unter Annahme eines reinen Alterseffekts, kön­

nen auf Basis der Bevölkerungsdaten für 2004/05 die ausschließlich auf den demografischen Wandel zurückzuführenden Bestandsveränderungen sowohl

(4)

pro Altersklasse als auch insgesamt berechnet werden. Vergleicht man die resultierenden (theoretischen) Besucherbestände in den verschiedenen Al­

tersklassen mit den tatsächlichen für 2004/05, ergeben sich Differenzen, die als Effekt des musikgeschmacklichen Wandels angesehen werden können.

2 Mögliche dem in der Gesellschaft im Zeitverlauf beobachtbaren Verhalten zugrunde liegende Effekte Gemäß Bortz und Döring (2002, S. 564) kann das zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtete Verhalten von Menschen - neben weiteren Determi­

nanten - sowohl vom Alter, den Besonderheiten bestimmter Alterskohorten (Generationen) als auch den epochalen Eigentümlichkeiten der Zeit(-peri­

ode) abhängen. Daher ist auch bezüglich des Konzertbesuchs- und Hörver­

haltens zwischen Alters- bzw. lebenszyklischen, Kohorten- und Periodenef­

fekten zu unterscheiden.

2. 1 Alters- bzw. lebenszyklischer Effekt

Ein Alters- bzw. lebenszyklischer Effekt liegt dann vor, wenn die Menschen aufgrund des Erreichens eines bestimmten Alters bzw. einer neuen Lebens­

phase ihre Verhaltensgewohnheiten nachhaltig ändern. Zum Beispiel ist die nach der Pensionierung erfolgende Intensivierung eines Hobbys - bedingt durch nun mehr verfügbare Freizeit - ein typischer lebenszyklischer Effekt.

In Bezug auf das Klassikpublikum interpretiert Neuhaff (2001) die von ihm 1998/99 in Berlin gefundene bimodale Altersverteilung der Publikums­

gruppe „klassische Hochkultur" mit einem lokalen Maximum in der Alters­

klasse von 28 bis 32 Lebensjahren und einem absoluten Maximum bei den 58- bis 62-Jährigen primär zugunsten eines solchen Lebenszykluseffekts (zu dieser Publikumsgruppe zählen die Besucher von Aufführungen der Berli­

ner Philharmoniker, der Wagner-Oper „Tristan und Isolde", des Klaviertrios Christian Zacharias und der Berliner Barock Solisten):

,,Für den Abfall der ,klassischen Hochkultur' von dem Gipfel auf 30 Jahren bis zum [loka­

len] Tiefpunkt auf 45 Jahren sind mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst und vor allem die längeren Ausbildungswege (Studium) von großen Teilen der Trägerschicht klassischer Musik verantwortlich, genauer: der spätere Berufseinstieg und die damit verbundene spätere Fami­

liengründung [ .. . ]. Der Abfall hat nichts mit Desinteresse zu tun - eine reine Interessenslinie könnte vermutlich von 30 bis 60 Jahren mit dem Lineal durchgezogen werden. Er ist vielmehr dadurch zu erklären, dass ab Anfang 30 in dieser sozialen Gruppe die Kinder kommen und die außerhäuslichen Aktivitäten [ .. . ] einschränken bzw. andere Prioritäten setzen lassen. Ab Ende 40 kehrt sich diese Tendenz wieder um, die Kinder sind älter geworden und verlassen das Haus, dem Klassikgänger steht wieder mehr Zeit und (demnächst) mehr Geld zur Verfügung, um verstärkt in die Philharmonie und Oper zu gehen." (Neuhoff, 2010, S. 10)

Dieser lebenszyklische Effekt werde gemäß Neuhaff (2001) durch die all­

gemeine Zunahme des Interesses an klassischer Musik mit dem Lebensalter

(5)

unterstützt -aufgrund eines mit zunehmendem Alter steigenden Bedürfnis­

ses nach Ordnung, Ruhe, Harmonie und Tradition, das sich teilweise auch in den musikalischen Präferenzen ausdrücke.

2.2 Kohorteneffekt

Als Kohorte wird eine Gruppe von Personen bezeichnet, die durch ein zeit­

lich gemeinsames Ereignis definiert ist; dabei kann das jeweils in einem bestimmten Jahr oder einer gewissen Zeitspanne stattgefundene kohorten­

spezifische Ereignis beispielsweise die Geburt (Alters-/Geburtskohorte ), der Berufseintritt oder die Eheschließung sein (vgl. Diekmann, 2000, S. 279 f.;

Stier, 1996, S. 233). Hier wird dem Ansatz der Research Division der US­

amerikanischen National Endowment for the Arts gefolgt, die für Datenana­

lysen, die für - zu den nachfolgend erläuterten -ähnliche Datenanalysen auf Betrachtungen von Alterskohorten zurückgreift (siehe hierzu zum Bei­

spiel Peterson, Hull & Kern, 2000). Bewirken ein bestimmtes Ereignis oder eine Veränderung prägender Einflüsse, beispielsweise der gesellschaftli­

chen Wertvorstellungen, bei einer Gruppe gleichzeitig aufwachsender Indi­

viduen ein dauerhaft von ihren Vorgänger- oder Folgekohorten abweichen­

des Verhalten, spricht man von einem Kohorteneffekt. So ist etwa davon auszugehen, dass sich das Internet-Nutzungsverhalten der bereits im „Com­

puterzeitalter" Aufgewachsenen zeitlebens von demjenigen der Vorkriegs­

generationen unterscheiden wird. Für Köhler (1986) steht fest, dass

im Erwachsenenleben [ .. . ] die in der Jugend entwickelten Musikvorlieben - ob E- oder U­

Musik dann weitgehend bewahrt [werden], meist bis ins hohe Alter hinein. (Köhler, 1986, S. 182 zitiert in Höffling, 1997, S. 92)

Zwar geht Mende (1991, S. 390 f.) davon aus, dass sich manifeste Interessen und Bedürfnisse an E-Musik, Jazz und Oper während einer Sozialisations­

phase bis Mitte des dritten Lebensjahrzehnts herausbilden, die im weiteren Lebensverlaufs unverändert bestehen bleiben. Allerdings trifft Mende (1991) keine Aussage, ob Veränderungen bezüglich der während dieser Sozialisati­

onsphase wirkenden Einflussfaktoren im Laufe der Zeit zu unterschiedlichen Anteilen der Klassikhörer bzw. Besucher von Live-Aufführungen klassi­

scher Musik zwischen den einzelnen Alterskohorten geführt haben:

,,Eine Vertiefung der Kenntnisse über den Entwicklungsverlauf musikalischer Interessenstruk­

turen, die hier wirkenden demografischen und sozialen Mechanismen und die unterschiedlichen Gebrauchsformen von Musik muß weiterführenden Untersuchungen vorbehalten bleiben."

(Mende, 1991, S. 392)

2.3 Periodeneffekt

Ein Periodeneffekt bedeutet eine temporäre Verhaltensänderung aufgrund von zeitgeistlichen/modischen Einflüssen wie das weit verbreitete Tragen von Schlaghosen oder besonders breit geschnittener Krawatten von Anfang bis Ende der 1970er Jahre.

(6)

Zur Beantwortung der Frage, ob die Generationen der Hörer von klassi­

scher Musik und damit die Besucher von Klassikkonzerten langsam ableben oder ob die jüngeren Altersklassen bei Live-Aufführungen von klassischer Musik alters- bzw. lebenszyklusbedingt relativ schwach vertreten sind, sind also Untersuchungen im Hinblick auf das Wirken der verschiedenen be­

schriebenen Effekte erforderlich. Allerdings ist die Identifizierung von Ko­

horten-, Alters- bzw. Lebenszyklus- und Periodeneffekten problematisch;

zur Separierung von Kohorten- und Lebenszykluseffekten werden Längs­

schnittdaten benötigt (vgl. Diekmann, 2000, S. 282 f.; Höffling, 1997, S. 92).

Grundlegende methodische Überlegungen zur Isolierung der in den Daten einer Zeitreihe vermischten Effekte, die auf der Kohortenzugehörigkeit, dem Alter bzw. der Lebenszyklusphase und der zeitgeschichtlichen Periode beruhen, können Bortz und Döring (2002, S. 563-568) sowie Laatz (1993, S. 535-570) entnommen werden.

3 Limitationen von Querschnittsdaten zur Separierung von Kohorten- und Alters- bzw. lebenszyklischem Effekt Bei der Datenanalyse zur Aufdeckung der verschiedenen Effekte ist die zeitliche Entwicklung der Anteile von Klassikhörern an ihren jeweiligen Altersklassen und -kohorten (Partizipationsraten) zu betrachten. Abbil­

dung 2 stellt diese für jeweils reine Alters-/lebenszyklische, Perioden- und Kohorteneffekte schematisch einander gegenüber. Da die Abstände zwi­

schen den einzelnen Betrachtungszeitpunkten (to, t1 und t2) mit der Breite der Altersklassen übereinstimmen (20 Jahre), kann die · Entwicklung der Partizipationsraten auch kohortenweise nachvollzogen werden. Dabei sind die verschiedenen mit dem Zeitverlauf vorrückenden Alterskohorten in den Säulendiagrammen jeweils mit dem gleichen Grauton gekennzeichnet. Die zu den Zeitpunkten t0 oder t 1 noch nicht existierenden nachrückenden Ko­

horten sind in Abbildung 2 durch gestrichelte Säulenumrandungen gekenn­

zeichnet. Aus der Grafik wird deutlich, dass unter Annahme eines reinen Alters-/lebenszyklischen Effekts die Partizipationsrate mit zunehmendem Alter ansteigt; unabhängig vom Vorrücken der Kohorten bleiben die Partizi­

pationsraten bezogen auf die Altersklassen im Zeitverlauf stabil. Bei einem reinen Periodeneffekt dagegen sind die Partizipationsraten unabhängig vom Alter und von der Kohortenzugehörigkeit; diese steigen bei allen Altersklas­

sen und Kohorten gleichermaßen für eine bestimmte Zeitdauer an und gehen später zeitgeist-/modebedingt wieder auf das Ausgangsniveau zu­

rück. Bei ausschließlichem Wirken eines Kohorteneffekts bleiben die Parti­

zipationsraten der verschiedenen Kohorten über den Zeitverlauf -nach Abschluss einer Prägephase - stabil. In Abbildung 2 weist die Kohorte der zum Zeitpunkt to 19-Jährigen und Jüngeren als erste eine im Vergleich zu den Vorgängerkohorten geringere Partizipationsrate auf; das hohe Partizipa­

tionsniveau der zum Zeitpunkt t0 20- bis 79-Jährigen erodiert mit jeder weiteren nachrückenden und anderen sozialisierenden Einflüssen unterlie-

(7)

In Prozent*

zyklischer Effekt Auf das Altern/den Eintritt in eine neue Lebensphase zurückzuführende Alters-/lebens-

Verhaltensänderung --'---'--'--'-- Periodeneffekt

Auf ein best. Ereignis innerhalb einer best. Zeit­

periode zurückzuführende Verhaltensänderung, die nicht länger als diese Zeitdauer anhält

Auf ein best. Ereignis/

eine best. Veränderung während einer Präge­

phase zurückzuführende

□ □ I I

Kohorteneffekt

Verhaltensänderung von --'---'--'---'-- Individuen in Kohorten,

die das restl. Leben anhält

' '

' '

' '

□ D

D D

n n

1 1

1

' '

' '

' ' ' '

' '

' '

D

n

D

□ n

s 1 9 20-39 40-59 60-79 s 1 9 20-39 40-59 60-79 s 1 9 20-39 40-59 60-79 Quelle: Eigene Darstellung Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre

• aufgrund des schematischen Charakters der Darstellung sind hier keine konkreten Werte angegeben

Abb. 2:

Zeitliche Entwicklung der Partizipationsraten unter jeweiliger Zugrundelegung der ver­

schiedenen von der quantitativen Lebenslaufforschung zu unterscheidenden Effekte - schematische Darstellung

genden Kohorte allmählich. Bildlich gesehen wird es in der Säulendia­

grammdarstellung nach rechts „herausgeschoben".

Die verschiedenen Effekte können auch gleichzeitig wirken und sich ge­

genseitig überlagern. Beispielsweise ist es denkbar, dass man mit zuneh­

mendem Alter für bestimmte Moden weniger empfänglich wird. In diesem Fall wären sowohl Alters- als auch Periodeneffekt gleichzeitig wirksam.

Dies erschwert ihre eindeutige Identifikation.

Aus Abbildung 3 geht hervor, dass gegenwärtig der Anteil der 18- bis 34-Jährigen am Klassikpublikum in etwa 20 % beträgt und bei allen höheren Altersklassen jeweils höher ist als bei der jeweils nächstgeringeren (achtes Kulturbarometer). Zudem ist ausgehend von 14,8 % der 14- bis 29-Jährigen mit jeder höheren Altersklasse ein größerer Anteil des weiten Konzertpoten­

zials auszumachen - bis auf ein Niveau von über 50 % bei den SO-Jährigen und Älteren - ähnliches gilt für das enge Konzertpotenzial (ARD-E-Musik­

studie, 2005). Vergleicht man die jeweiligen Säulendiagramme in Abbil­

dung 3 mit den typischen Mustern in Abbildung 2, entsprechen diese am ehesten dem bei einem Alters-/lebenszyklischen Effekt durchgängig gültigen und dem bei einem Kohorteneff ekt sich zum Zeitpunkt h ergebenden Muster.

Sowohl der Alters- bzw. lebenszyklische als auch der Kohorteneffekt geben zu einem bestimmten Zeitpunkt (t2) ein identisches Bild der nach Al-

(8)

In Prozent

Achtes Kultur­

Barometer (2004/05)

ARD-E-Musik•

studie 2005

• Ab 14 Jahre

"* Ab 1 8 Jahre

Stichprobengröße

Gesamtbevölkerung:• n - 2.035 Personen D Besucher mindestens eines klassischen Konzerts (E-Musik) innerhalb eines Jahres

20,0

D D

1 9 ,0 28,0

0 0

1 8-24 Jahre 25-34 Jahre 35-49 Jahre 50-64 Jahre ?:: 65 Jahre Stichprobengröße

Gesamtbevölkerung:• D Weites Konzertpotenzial

n - 6.096 Personen Enges Konzertpotenzial

�---

1 4 ,8

D

1 4-29 Jahre 1 ,4

32 6

n

n

lli lli

35-49 Jahre 50-64 Jahre

LJ3

?:: 65 Jahre Quelle: Keuchel & Wiesand (2006, S. 25) sowie eigene Berechnungen auf Basis von Eckhardt, Pawlitza & Windgasse

(2006, S. 274) und Statistisches Bundesamt Deutschland

Abb. 3:

Anteile der Besucher von mindestens einer Veranstaltung mit klassischer Musik (E-Musik) pro Jahr an verschiedenen Altersklassen - Deutschland 2004/05

tersklassen ausgewerteten Partizipationsraten ab. Deshalb können diese bei­

den Effekte auf Basis von Querschnittsdaten bezüglich der aktuellen Partizi­

pationsraten und der einhergehenden Altersstruktur des Klassikpublikums nicht klar voneinander separiert werden. Dennoch werden in der Praxis

„meist mangels besserer Daten, Lebenszykluseffekte häufig nur anhand von Querschnittdaten geschätzt. Das ist im Prinzip möglich, wenn man annimmt, daß keine Kohorteneffekte vorlie­

gen. Diese Annahme ist aber oftmals nicht erfüllt. Den daraus resultierenden Fehlschluss [ ... ] kann man als ,Lebenszyklus-Fehlschluss' bezeichnen." (Diekmann, 2000, S. 282 f.)

4 Ergebnisse verschiedener einschlägiger Kohortenstudien

Um diesen Fehler zu vermeiden, sind weitere Analysen bezüglich der Ver­

änderung der Partizipationsraten im Zeitverlauf auf Basis von Längsschnitt­

daten erforderlich. Dabei ist zwischen verschiedenen wesentlichen Designs zur Datenerhebung zu unterscheiden: Panel- und Trendstudien. Die wich­

tigsten der nachfolgenden Analysen stützen sich auf Daten, die durch eine sog. Kohortenstudie erhoben wurden. Ergänzend werden bestimmte As-

(9)

In Prozent Stichprobengröße'

• 1 982: n = 1 7.254 Personen

• 1 992: n = 12. 736 Personen

• 2002: n = 1 7 . 1 35 Personen 1 6 ,3 ---1 1 ,0...---- 1 3 ,0

r - - - - ,

1 1

1 1

1 1

1 1

1 1

1 1

- - -1r - - - - , 0,3---10, 1---

1 1

1 1

1 1

1 1

1 1

1 2 ,4

- - - -9 o---10,7 - - - - 7 ,8 r - -'- - ,

r - - - - , 1 1

1 1 1 1

1 1 1 1

1 1 1 1

1 1 1 1

1 8-24

Jahre 25-34

Jahre

• Gesamtbevölkerung ab 1 8 Jahre 35-44 Jahre

1 4 ,9

1 5,2

45-54 Jahre

[_=-_=-J Kein Kohortenvgl . mögl.**

c::J Jahrgänge HlSB-@

c::J Jahrgänge 1 948-57

Jahrgänge 1 93M7 - Jahrgänge 1 928-37 - Jahrgänge 1918-27

1 5 ,6

55-64 Jahre

---,�3.:.1..,---◄ 0 1 3,0*'*

: : 7 1

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1 1 1 1

1 1 1 1

1 1 I

:

65-74 Jahre

- - - - -

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- - - - -9,5---- ◄ 0 1 1 ,5*"r - - - - ,

1 1

1 1

1 1

1 1

1 1

1 1

2: 75 Jahre

** Die nächsthöhere oder -tiefere Altersklasse weist zehn Jahre später bzw. zuvor eine andere Klassenbreite auf

*** Gewichteter Durchschnitt

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Cherbo & Peters (1 995, S. 1 , 20) und Nichols (2003, S. 7)

Abb. 4:

Anteile der Besucher von Live-Aufführungen klassischer Musik an ihren Altersklassen/

-kohorten - USA 1982, 1992 und 2002

pekte anhand von reinen Querschnittsdaten illustriert. Die Kohortenstudie stellt eine besondere Variante der Trendstudie dar. Dabei werden die glei­

chen oder gelegentlich leicht variierenden Variablen (Hören von klassischer Musik oder Anzahl entsprechender Konzertbesuche pro Jahr) durch meh­

rere in zeitlichen Abständen durchgeführte Querschnittsuntersuchungen bei Angehörigen unterschiedlicher Altersklassen/-kohorten abgefragt. Im Gegensatz zu Panelstudien wird dabei zu den verschiedenen Erhebungs­

zeitpunkten nicht immer auf die gleiche Stichprobe zurückgegriffen.

So wurden für die USA mittels des im Auftrag der National Endowment for the Arts unter anderem 1982, 1992 und 2002 durchgeführten Survey of Public Participation in the Arts (SPPA) einschlägige Daten mit Längsschnittcharak­

ter erhoben. Vergleicht man diese Daten für die oben genannten Jahre, lässt sich eher ein Kohorten- als ein Alters-/lebenszyklischer Effekt erkennen: Die jeweils höchste Partizipationsrate weist zu allen drei Zeitpunkten die Kohorte der zwischen 1938 und 1947 Geborenen auf. Das heißt, als diese Kohorte im Jahr 1982 35 bis 44 Jahre alt war, enthielt sie den höchsten Anteil an Klas­

sikbesuchem; das gleiche gilt für die Jahre 1992 und 2002, als diese Kohorte 45 bis 54 Jahre bzw. 55 bis 64 Jahre alt war. Insgesamt rückt das Partizipati­

onsniveau mit den verschiedenen Trägerkohorten innerhalb von zehn Jahren um jeweils eine zehn Jahre breite Altersklasse vor (siehe Abbildung 4).

(10)

Bei einem Alters- oder lebenszyklischen Effekt dagegen müssten die Werte im Zeitverlauf -unabhängig vom Vorrücken der Kohorten -inner­

halb der einzelnen Altersklassen ziemlich stabil sein. In diesem Fall müsste der jeweilige Spitzenwert (16,3; 16,8 und 15,6 %) in der Altersklasse von 35 bis 44 Jahren zu beobachten sein. Zudem weisen die Daten kein einheitliches mit dem Lebens- bzw. sozialen Alter korreliertes Verhaltensmuster auf: Der Anteil der Besucher von Konzerten klassischer Musik an der durch die Ge­

burtsjahrgänge 1958 bis 1967 definierten Kohorte stieg von 10,1 % im Jahr 1992, als deren Angehörige 25 bis 34 Jahre alt waren, in der nächsten Le­

bensdekade auf 10,7 % an. Dagegen ging dieser Anteil bei den zwischen 1948 und 1957 Geborenen von 13,0 % im Jahr 1982, als diese 25 bis 34 Jahre alt waren, auf 12,4 % im Jahr 1992, als diese 35 bis 44 Jahre alt waren, zu­

rück. Vergleicht man die beiden Lebensdekaden 45 bis 54 und 55 bis 64 Jahre, fällt auf, dass bei der Alterskohorte 1938 bis 1947 der Anteil Klassikkonzert­

gänger von 16,8 % (1992) auf 15,6 % (2002) zurückging, während dieser bei den 1928 bis 1937 Geborenen von 14,9 % (1982) auf 15,4 % (1992) anstieg.

Als die letztgenannte Kohorte im Jahr 2002 nochmals zehn Jahre älter war, betrug dieser Anteil nur noch 12,5 %; dem steht bei der unmittelbar vorange­

henden Kohorte für den gleichen Lebensabschnitt ein Anstieg von 12,8 % auf 14,0 % gegenüber. Lediglich in Bezug auf den Übergang zwischen den Al­

tersklassen 35 bis 44 und 45 bis 54 Jahre kann auf Basis der SPPA-Daten ein kohortenübergreifend in die gleiche Richtung wirksamer Alters-/lebenszyk­

lischer Effekt nicht ausgeschlossen werden.

Die durchschnittliche Partizipationsrate aller Altersklassen ist zwischen 1982 und 2002 von 13,0 % auf 11,5 % gesunken, d. h. der relative Anteil an Besuchern von Klassikkonzerten war im beobachteten Zeitraum rückläufig.

Obwohl für den deutschsprachigen Raum keine gleichartige, breit angelegte und regelmäßig durchgeführte Datenerhebung existiert, wird das Vorliegen eines Kohorteneffekts auch für diesen Raum durch punktuelle Einzelerhebun­

gen zu verschiedenen Zeitpunkten -zumindest tendenziell -untermauert (siehe Abbildung 5): Eine von Dollase, Rüsenberg und Stollenwerk (1986, S. 23 u. 39) bei einem von ca. 1.200 Personen besuchten Konzert des London Symphony Orchestra am 29.02.1980 im Kölner Gürzenich durchgeführte Be­

sucherbefragung (Stichprobenumfang: n= 146 Personen) ergab ein Durch­

schnittsalter von 37,7 Jahren. Etwa 18/19 Jahre später hat Neuhoff (2001, S. 3 u. 13) bei einem Konzert der Berliner Philharmoniker (Stichprobenumfang:

n= 372 Personen) bereits ein 12,2 Jahre höheres Durchschnittsalter ermittelt.

Weitere vier/fünf Jahre später konnte bei einer im Rahmen von sechs Konzer­

ten des Luceme Festival Sommer 2003 durchgeführten eigenen Publikums­

befragung (Stichprobenumfang: n = 305 Befragte, davon gaben 302 ihr Alter an) ein um weitere 5,3 Jahre höheres Durchschnittsalter festgestellt werden.

Diese Altersspanne von ± einer Standardabweichung (s) um das Durch­

schnittsalter (x) herum ist bei den von den oben genannten Forschem unter­

suchten Zuhörerschaften mit 30,2; 31,0 und 26,4 Jahren ähnlich breit. Dies ist ein Indiz für eine relativ stabile Kohortenstruktur des Klassikpublikums.

Analoges gilt auch für das Publikum von kleinen Besetzungen und Opern.

(11)

In Lebensjahren

London Symphony Orchestra*

Berliner Philharmoniker**

Lucerne Festival

s 22,6

33,4

x s

37,7 52,8

48,9

43,0 56,2

39,0 57,9

� 2 0 , 1

� t---+---<

64,4 69,4

Orlando Quartett*

Klaviertrio

33,2 49,5 65,8

Christian Zacharias**

37, 1 52,4

,,Fidelio"

(L. v. Beethoven)* � 21 ,8

t---+---<

,,Tristan und lsolde"

(R. Wagner)**

s

s: Standardabweichung, x: arithmetisches Mittel

• Aufführungsort: Köln ... Aufführungsort: Berlin

34,8 49,7 64,6

Quelle: Dollase, Rüsenberg & Stollenwerk 1 986, S. 23 u. 39; Neuhof! 2001 , S. 3 u. 1 3 sowie eigene Publikumsbefragung Lucerne Festival Sommer 2003

Abb. 5:

Durchschnittsalter (x) ± eine Standardabweichung (s) korrespondierender Klassikhörerschaften

Auch für die Niederlande haben empirische Analysen gezeigt, ,,dass man im formativen Alter herausgebildeten Präferenzen später im Leben ver­

gleichsweise treu bleibt." ( de Haan & Knulst, 2000 zitiert in Huysmans, 2006, S. 183 f.). Die vom niederländischen Sociaal en Cultureel Planbureau (SCP) bereitgestellten Daten der Aanvullend Voorziengengebruik Onder­

zoek (AVO) für die Jahre 1987, 1995 und 2003 ergeben ein analoges Bild zu Abbildung 4; siehe hierzu Hamann (2008, S. 202).

Kulturelle Vorlieben bleiben also im Lebenslauf eher stabil. Daher ist ein Präferenzwandel in Richtung der klassischen Kultur im Prozess des Älterwerdens der Gesamtbevölkerung nicht zu erwarten. (Huysmans, 2006, S. 1 84)

5 Musikgeschmacklicher Wandel unter Zugrundelegung eines Kohorteneffekts

Wie aus Abbildung 6 hervorgeht sinkt der Anteil derjenigen, die mittelmä­

ßig bis sehr gerne klassische Instrumentalmusik hören, ausgehend von einem Niveau über 50 % der 1935 und früher sowie 1936 bis 1945 Gebore­

nen mit jeder nachfolgenden Kohorte bis auf ein Niveau von 14,3 % der Jahrgänge 1986 bis 1991. Damit ergibt sich zwischen der ältesten und der jüngsten betrachteten Kohorte eine Differenz von 38,2 Prozentpunkten.

(12)

I n Prozent Stichprobengröße•

n ; 30. 868 Personen Klassische Musik

(instrumental) höre ich . . .

Nicht gern 69,0

45,7 54,4

1 9,8

Weniger gern 1 6 7 Mittelmäßig gern

\.__·__,. ________ , _1�._1 ___ /' _ ____ __ __

39,5

20,3

20,9

-- - . 1 3,2 ···-···

+- 1 00%

33,5 32,6 33,7

1 3,6 1 3,8

2 1 ,0 20,6

1 7,3 1 9,2 --- ----·---

1 1 ,0 1 3,6 14,8

6,1 Ziemlich gern

\ 8,6 8_2 f-1

_0_,4

-+- ----+--,---t

Sehr gern \ 4 7 1 ,0-- 3,4-L.___,_--'5""', 7---'-_.L.-.'-�-�-�---'--�-�-'-- Altersklassen 14-1 9 20-29 30-39 40-49 50-59 60--69 2: 70 Alterskohorten 1 986-1 991 1 976-1 985 1 966-1 975 1 956-1 965 1 946-1 955 1 936-1 945 1 935 und

(Jahrgänge) früher

• Gesamtbevölkerung ab 14 Jahre Quelle: MDS online (2005)

Abb. 6:

Einstellungen verschiedener Altersklassen/-kohorten gegenüber klassischer Instrumentalmusik - Deutschland 2005

Umgekehrt nimmt der Anteil derjenigen, die mittelmäßig bis sehr gerne Popmusik hören, von 15,6 % der von den 1935 und früher Geborenen gebil­

deten Kohorte mit jeder nachfolgenden Kohorte auf über 80 % (ab der Ko­

horte der Jahrgänge 1966 bis 1975) zu (siehe Abbildung 7).

Die zwischen 1946 und 1955 geborenen Personen gehören der ersten Kohorte an, deren Popmusikhöreranteil von insgesamt 55,8 % den Klassik­

höreranteil (48,9 %) übersteigt (jeweils mittelmäßig bis sehr gerne). Als Mitte der 1950er Jahre die Ära des Rock 'n' Roll beginnt und Anfang der 1960er Jahre die erste Single der Pop-/Rockgruppe Beatles (Love Me Do, 1962) sowie 1965 der Song (I Can 't Get No) Satisfaction von der Pop-/Rock­

gruppe Rolling Stones erscheinen (vgl. Ferchhoff, 1998, S. 226 ff.), stecken die 1946 bis 1955 Geborenen in ihrer Adoleszenz. Damit sind diese die erste Kohorte, die in ihrer Jugend das Massenphänomen Pop-/Rockmusik als wesentlichen Bestandteil der Jugendkulturen erlebte. Die in Abbildung 6 und Abbildung 7 dargestellten Daten lassen sich vor dem Hintergrund eines Kohorteneffekts als Folge eines musikgeschmacklichen Wandels von der klassischen Musik hin zur Popmusik interpretieren. Die Pop-/Rockmusik hat wohl seit ihrem Aufkommen eine stärkere nachhaltig prägende Wirkung auf Jugendliche als die klassische Musik.

(13)

In Prozent Stichprobengröße•

n = 30.868 Personen Popmusik

höre ich . . .

Nicht gern 1 1 ,0 7,3 6, 1 7,4 6,3 Weniger gern 7,3

1 0,6 +- 1 00%

Mittelmäßig gern 1 7,4 1 7,6

63,0 Ziemlich gern 30,6 36,7

2 1 ,4 Sehr gern 33, 7 3 1 ,0

9,7 4,5 1 ,4 Altersklassen 1 4-1 9 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 ;, 70 Alterskohorten 1 986--1 991 1 976--1 985 1 966--1 975 1 956--1 965 1 946--1 955 1 936--1 945 1 935 und

(Jahrgänge) früher

• Gesamtbevölkerung ab 14 Jahre Quelle: MDS online (2005)

Abb. 7:

Einstellungen verschiedener Altersklassen/-kohorten gegenüber Popmusik - Deutschland 2005

Die Auswertung der vom Institut für Demoskopie Allensbach ( 1 994, 2002) im Rahmen der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse erhobenen Daten unter anderem bezüglich des häufigen und gelegentlichen Hörens klassischer bzw. Popmusik ergibt ein zu Abbildung 6 und Abbildung 7 ana­

loges Bild. Durch diese ergänzende Betrachtung der Daten aus einer ande­

ren breit angelegten Erhebung (Stichprobenumfang : n = 1 9.957 Personen in 1 994 und 2 1 .5 1 3 Personen in 2002) wird das Risiko reduziert, möglicher­

weise in einem Umfragetyp enthaltene Verzerrungen nicht zu erkennen.

Da nicht nur bezogen auf den Anteil der Besucher von Live-Aufführun­

gen klassischer Musik, sondern auch hinsichtlich des Klassikhöreranteils eklatante Unterschiede zwischen den Alterskohorten bestehen, ist nicht an­

zunehmen, dass der Kohorteneff ekt auf einem von Kohorte zu Kohorte rück­

läufigen Anteil an Konzertgängern allgemein basiert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich auch bezüglich der Konzertbesucher vor allem der oben illustrierte musikgeschmackliche Wandel im bereits beschriebenen Kohorteneffekt manifestiert. Das heißt, der musikgeschmackliche Wandel in einer Gesellschaft bewirkt nicht nur im Allgemeinen Veränderungen be­

züglich der - in j eglicher Weise - rezipierten, sondern entsprechend auch der live gehörten Musikgenres.

(14)

6 Auswirkungen des demografischen Wandels und des Kohorteneffekts auf die Größe

des Klassik- und des Pop-/Rock-/Jazz-Publikums

Wie stark wirkt sich der vorangehend festgestellte Kohorteneff ekt auf die Größe des Publikums für sowohl klassische als auch Pop-/Rockmusik aus?

Um diese Frage zu beantworten, sind weitergehende Analysen notwendig.

Denn die Bevölkerung in Deutschland befindet sich bezüglich ihrer Größe und altersstrukturellen Zusammensetzung in einem demografischen Wandel (vgl. Schirrmacher, 2004), so dass sich in den Differenzen der zu verschie­

denen Zeitpunkten festgestellten (potenziellen) Publikumsgröße die Effekte der demografischen Veränderung und der aus dem zeitgleich wirksamen Kohorteneffekt (oder auch gegebenenfalls Periodeneffekt) resultierenden musikgeschmacklichen Veränderungen vermischt ausdrücken.

Bei den weitergehenden Analysen ist zu beachten, dass statistische Massen danach charakterisiert werden können, ob ihre Veränderung zu einem be­

stimmten Zeitpunkt (sog. Bestandsmassen, ,,Stocks") oder über ein bestimm­

tes Zeitintervall (sog. Bewegungsmassen, ,,Flows") sinnvoll ist (vgl. Keel, 1992, S. 82). Beispielsweise ist die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Badewanne befindliche Menge an Wasser als Bestandsgröße zu betrachten;

die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu- und abfließenden Wassermen­

gen (Flussgrößen) verändern den Wasser(be)stand in der Badewanne, so dass sich die Wassermenge nach Verstreichen der Zeitspanne aus der ur­

sprünglichen Wassermenge zuzüglich der im relevanten Zeitraum zuflie­

ßenden und abzüglich der in dieser Zeitspanne abfließenden Wassermenge ergibt (vgl. Sterman, 2000, S. 193/194). Die Flussgrößen selbst werden durch gewisse Einflüsse wie Auf- und Zudrehen des Wasserhahns bzw. Zie­

hen des Stopfens bestimmt. Die Wirksamkeit dieser Einflüsse wiederum hängt davon ab, ob und wie viel Frischwasser sich in dem Wasserreservoir befindet, an das der Wasserhahn angeschlossen ist, bzw. ob das Abflussrohr verstopft ist; auch die jeweilige Stärke des Zuleitungs- und Ableitungsrohrs ist von Bedeutung.

Hier stellen die jeweilige Bevölkerungsgröße und die Anzahl an Besuchern von Konzerten klassischer bzw. Pop-/Rock-/Jazz-Musik in den verschiede­

nen Altersklassen in den Jahren 1993/94 und 2004/05 Bestandsgrößen dar.

Diese werden durch die jeweilige Anzahl an Personen beeinflusst, die in der Zeitspanne zwischen 1993/94 und 2004/05 geboren werden, in die nächste Altersklasse übergehen, sterben (demografische Veränderungen), ein- und auswandern (migrationsbedingte Effekte) oder ihren Musikgeschmack än­

dern und entsprechend Live-Aufführungen anderer musikalischer Genres oder gar keine Konzerte mehr besuchen ( der Wechsel von der Gruppe der Besucher von Konzerten eines bestimmten Musikgenres in die Gruppe der übrigen Bevölkerung, weil gesundheitliche Gründe Konzertbesuche un­

möglich machen, wird hier vernachlässigt). Abbildung 8 illustriert diese Zusammenhänge grafisch. Auf die migrationsbedingten Effekte wird hier

(15)

nicht näher eingegangen. Denn der Außenwanderungssaldo war zwischen 1953 und 2003 überwiegend positiv und betrug durchschnittlich knapp 200.000 Personen pro Jahr (Statistisches Bundesamt, 2003, S. 22), was - ge­

messen an der Bevölkerung in Deutschland 2003 von 82,5 Mio. Personen - gerade einmal 0,24 % ausmacht. Zudem wird hier die Annahme getroffen, dass die Partizipationsraten keinen migrationsbedingten systematischen und signifikanten Veränderungen unterliegen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn überproportional viele oder gar alle Besucher von klassischen Kon­

zerten (insgesamt oder in einer bestimmten Altersgruppe) auswandern wür­

den, ohne dass im gleichen Zeitraum entsprechend viele bislang im Ausland ansässige Besucher von klassischen Konzerten einwandern und so den (Total-)Verlust wieder ausgleichen würden.

Ein Kohorteneffekt wird dadurch bewirkt, dass nach Abschluss einer musi­

kalischen Sozialisationsphase ab einem gewissen Alter, z. B. ab Vollendung des 25. Lebensjahrs, kaum noch Flüsse zwischen den beiden in Abbildung 8 dargestellten sog. Alterungsketten stattfinden, da der Musikgeschmack der Individuen gegenüber bestimmten Musikgenres für den weiteren Lebens­

verlauf weitgehend stabil ist. Das heißt, Bestandsveränderungen bei den Be­

suchern von Konzerten der verschiedenen Genres werden nur durch die wäh-

Besucher von Konzerten eines bestimmten Musikgenres in Deutschland•

Übrige

Bevölkerung Geburten in Deutschland

• Ab 18 Jahre Quelle: Eigene Darstellung

Zuzug /

Zuzug '- 1 Tod/Wegzug

Alter- : ung

\ Tod/Wegzug

Abb. 8:

D Bestandsgrößen

- Demografisch (Geburten, Alterung, Tod) und migrationsbedingte Flüsse (Zu-, Wegzug)

· · · ·• Durch Veränderungen des individuellen Musikgeschmacks bedingte Flüsse

Tod/

Wegzug

Tod/

Wegzug

Bestandsgrößen und Flussgrößen - schematische Darstellung

(16)

rend der Sozialisationsphase der oberen Alterungskette zugeleitete Anzahl an Personen und nachfolgend durch die demografisch und migrationsbe­

dingten Flüsse verursacht.

Um den Bestand an Besuchern von Konzerten klassischer bzw. Pop-/

Rock-/Jazz-Musik zum Ausgangszeitpunkt zu ermitteln, wird die Bevölke­

rungsgröße zum Ende des Jahres 1993 mit der Partizipationsrate, d. h. mit dem Besucheranteil, von 1993/94 multipliziert. Daraus ergibt sich die Besu­

cherzahl 1993/94. Diese wird sowohl gesamthaft als auch für die einzelnen Altersklassen berechnet. Die Partizipationsraten zum Stichtag 31. 12. 1993 liegen nicht vor. Typischerweise werden diese nämlich mittels Befragungen erhoben, die sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken. Die während dieser Erhebungszeit wirkenden „Flows" werden bewusst vernachlässigt, indem die aus der relevanten Befragung resultierenden Partizipationsraten näherungsweise als stabile Werte für 1993/94 betrachtet werden. Analoges gilt nachfolgend auch für den (fiktiven) Zeitpunkt 2004/05.

Legt man einen reinen Alters- bzw. lebenszyklischen Effekt zugrunde, ist anzunehmen, dass die Partizipationsraten sich zwar von Altersklasse zu Altersklasse verändern, aber innerhalb einer Altersklasse im Zeitverlauf recht stabil sind. Eine Zu- oder Abnahme der absoluten Besucherzahl in einer bestimmten Altersklasse kann also unter dieser Prämisse nur auf eine Veränderung der relevanten Bevölkerungsgröße - und nicht auf den relati­

ven Anteil der Konzertbesucher - zurückgeführt werden. Daher wird für einen Zwischenschritt der Analyse die Partizipationsrate von 1993/94 mit der Bevölkerungsgröße zum Ende des Jahres 2004 multipliziert. Das Er­

gebnis ist die theoretische Besucheranzahl, die ohne grundlegende musik­

geschmackliche Veränderungen in der Gesellschaft 2004/05 zu erwarten gewesen wäre. Die Differenz (�) zwischen dieser theoretischen Besucher­

zahl für 2004/05 und der tatsächlichen Besucherzahl für 1993/94 gibt Auf­

schluss über den Effekt der demografischen Veränderung in diesem Zeit­

raum. Aus dem Unterschied (�) zwischen der theoretischen und der tatsächlichen Besucheranzahl für 2004/05 geht der Effekt des sich in einer veränderten Partizipationsrate manifestierenden musikgeschmacklichen Wandels hervor. Abbildung 9 fasst das Vorgehen zur Separierung der Ef­

fekte von demografischer und musikgeschmacklicher Veränderung grafisch zusammen.

Führt man die vorangehend beschriebene Analyse mit konkreten Daten bezüglich der Konzertbesucher (fünftes und achtes KulturBarometer) und der Bevölkerung in Deutschland (Statistisches Bundesamt Deutschland) in den entsprechenden Jahren durch, ergibt sich folgendes Bild:

Unter Zugrundelegung eines reinen Alters- bzw. lebenszyklischen Effekts, d. h. bei über die Zeit hinweg konstanten Partizipationsraten in den einzelnen Altersklassen, wäre aufgrund der demografischen Veränderung zwischen 1993/94 und 2004/05 eine Zunahme der Besucher klassischer Musikauffüh­

rungen von 23,898 um 0,954 (4 %) auf 24,852 Mio. Personen zu erwarten gewesen; für die einzelnen Altersklassen hätte man zwischen 1993/94 und 2004/05 mit folgenden bestandsverändernden Flussgrößen (jeweils in Tsd.

(17)

Gesamt 1 8-24 Jahre 25-34 Jahre 35-49 Jahre 50-64 Jahre ;:,: 65 Jahre Bevölkerungs­

größe 1 993*

In Tsd. Personen

Partizipations­

rate 1 993/94 In Prozent

Bevölkerungs­

größe 2004*

1 • - -

Partizipations­

rate 2004/05 In Prozent

Anzahl Besucher

"'• -

Anzahl Besucher

1 993/94

� m ... ,

In Tsd. Person

- •

• zum 31 . 1 2. 1 993 bzw. 2004

Effekt der demo­

grafischen Veränderung**

I n Tsd. Personen

•• Unter Zugrundelegung eines reinen Alterseffekts

••• Auf Perioden- oder Kohorteneffekt zurückzuführen Quelle: Eigene Darstellung

Effekt der musik­

geschmacklichen Veränderung***

In Tsd. Personen

Abb. 9:

Vorgehen zur Separierung der Effekte von demografischer und musikgeschmacklicher Veränderung

Personen) gerechnet: -96 (18-24 Jahre) -1.334 (25-34 Jahre) +1.602 (35- 49 Jahre) -143 (50-64 Jahre) +925 ( � 65 Jahre)= +954 (insgesamt) (siehe Abbildung 10). Tatsächlich ist jedoch, wie ebenfalls aus Abbildung 10 her­

vorgeht, die Anzahl der Klassikbesucher auf 20,511 Mio. Personen, gesun­

ken. Beispielsweise bezogen auf die Altersklasse 18-24 Jahre bedeutet dies, dass der Bestand an Besuchern klassischer Konzerte in diesem Alter zwi­

schen 1993/94 und 2004/05 tatsächlich um 841 Tsd. Personen zurückgegan­

gen ist, davon -96 Tsd. Personen demografisch bedingt und-745 Tsd. Per­

sonen aufgrund des musikgeschmacklichen Wandels. In der Altersklasse 34-49 Jahre wurde der demografisch bedingte Zuwachs um 1.602 Tsd.

Klassikbesucher durch den gegenläufigen Effekt des Musikgeschmackli­

chen Wandels von -2.629 Tsd. Klassikbesuchern überkompensiert, so dass es 2004/05 in Deutschland tatsächlich 1.027 Tsd. Klassikbesucher weniger als noch 1993/94 gab. Über alle Altersklassen hinweg ist die Differenz zwi­

schen den 24,852 und den 20,511 Mio. Personen von 4,341 Mio. Personen auf den musikgeschmacklichen Wandel zwischen den Kohorten zurückzu­

führen. Das bedeutet, der demografische Effekt von 0,954 Mio. Personen (theoretischem) Zuwachs an Klassikbesuchern wird von dem auf einen Ko­

horteneffekt zurückzuführenden Rückgang in Höhe von 4,341 Mio. Perso­

nen überkompensiert, so dass sich eine effektive Abnahme des Klassikpub­

likums über 18 Jahren von insgesamt 3,387 Mio. Personen (14 %) zwischen

(18)

In Tsd. Personen*

Effekt der

demografischen Veränderung Effekt der

musikgeschmacklichen Veränderung ---�@\---i---{-17% '\---�

24.852 1925

1 745

23.898 ----c 95::::i

T7

1 .334

n ...

1 .602 T 1 43L

T7

1 .405

LJ ...

LJ

LJ

n

2.629

LJ

[ 3051 . 1 7431

Gesamt 1 8-24 25-34 35-49 50-64 � 65 Theoret. 1 8-24 25-34 35-49 5�4 � 65 1 993/94 Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Gesamt Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre

2004/05 ••

• Personen , die zum Befragungszeitpunkt mindestens einmal innerhalb der letzten 12 Monate ein klassisches Konzert (E-Musik) besucht haben

•• Auf Basis der Besucheranteile von 1 993/94

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Keuche! & Wiesand (2006, S. 25) und Statistisches Bundesamt Deutschland

Abb. 10:

20.51 1

Gesamt 2004/05

Veränderung der Besucheranzahl von klassischen Konzerten nach Altersklassen zwischen 1993/94 und 2004/05 - Deutschland

1993/94 und 2004/05 ergibt. Die in absoluten Zahlen ausgedrückte Stärke der Effekte von demografischer und musikgeschmacklicher Veränderung in den einzelnen Altersklassen geht ebenfalls aus Abbildung 10 hervor. Ver­

gleicht man diese, fällt auf, dass der Effekt der musikgeschmacklichen Ver­

änderung in sämtlichen Altersklassen unterhalb von 65 Lebensjahren einen absoluten Rückgang des Klassikpublikums bewirkt. Dagegen waren unter den 65-Jährigen und Älteren der Jahre 2004/05, d. h. unter den 1939/40 oder früher Geborenen, mehr Klassikbesucher als 1993/94 in der gleichen Alters­

klasse, d. h. unter den Angehörigen der Jahrgänge bis 1928/1929.

Richtet man den Fokus auf die Besucher von Pop-/Rock-/Jazz-Konzerten (siehe Abbildung 11), hätte man bei Annahme eines reinen Alters- bzw. le­

benszyklischen Effekts aufgrund der demografischen Entwicklung zwischen 1993/94 und 2004/05 mit einer Abnahme des entsprechenden Konzertpubli­

kums ab 18 Lebensjahren von 15,460 um 0,931 (6 %) auf 14,529 Mio. Per­

sonen gerechnet. De facto hat die Anzahl der Besucher von Pop-/Rock- und Jazz-Konzerten ab 18 Jahren in diesem Zeitraum auf 22,416 Mio. Personen zugenommen. Die sehr große Differenz zwischen 14,529 und 22,416 Mio.

Personen lässt sich als Ausdruck einer durch einen Kohorteneffekt beding­

ten Zunahme des Pop-/Rock-/Jazz-Publikums in Höhe von 7,9 Mio. Perso­

nen ( 54 % ) interpretieren. Im Beobachtungszeitraum ist eine auf den musik-

(19)

In Tsd. Personen*

Effekt der

demogr�fischen Veränderung Effekt der

musikgeschmacklichen Veränderung

�---< +54% >---

l7 .. r 297r··

2 . 1 38

n LJ

�---i@}---� 3.842

1 5 .460

l

r--.

.LJ

···• 1 S3 1···11 1 4.529 I .... �

1 .738 ra;;,r ·· -23-···~75~ ·· ·

□· ..

406J

L__J ... �

22.4 1 6

Gesamt 1 8-24 25-34 35-49 5Q-64 � 6 5 Theoret. 1 8-24 25-34 35-49 50-64 � 6 5 Gesamt 1 993/94 Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Gesamt Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre 2004/05

2004/05

• Personen, die zum Befragungszeitpunkt mindestens einmal innerhalb der letz1en 12 Monate ein Pop-/Rock-/

Jazz-Konzert besucht haben

•• Auf Basis der Besucheranteile von 1 993/94

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Keuchel (2005, S. 2) und Statistisches Bundesamt Deutschland

Abb. 11:

Veränderung der Besucheranzahl von Pop-/Rock-/Jazz-Konzerten nach Altersklassen zwischen 1993/94 und 2004/05 - Deutschland

geschmacklichen Wandel zurückzuführende absolute Zunahme der Pop-/

Rock-/Jazz-Besucher in allen Altersklassen festzustellen.

Die gleichen Analysen wurden bereits anhand von Daten der Allensba­

cher Marktanalyse/Werbeträgeranalyse (AWA) für die Jahre 1 994 (Stich­

probengröße: n = 1 9 .957 Personen) und 2002 (n = 2 1 .5 1 3 Personen) mit sehr ähnlichen Ergebnissen durchgeführt und im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie 2004 präsentiert (Hamann, 2004) . Die sehr starke Ähnlichkeit der Resultate der beiden unabhängigen Erhebungen mit j eweils sehr großem Stichprobenumfang spricht für eine angemessene Validität der Ergebnisse.

7 Fazit

Waren in Deutschland 1 993/94 mit ca. 20,4 Mio. Personen noch mehr Be­

sucher von Live-Aufführungen klassischer Musik als von Pop-/Rockmusik und Jazz (ca. 1 5 ,5 Mio. Personen) auszumachen, standen bereits elf Jahre später ca. 20,5 Mio . Klassikbesuchem ca. 22,4 Mio. Pop-/Rock-/Jazz-Kon­

zertbesucher gegenüber. Das bedeutet, dass sich in Deutschland ein rasanter musikgeschmacklicher Wandel vollzogen hat und sich wahrscheinlich auch

(20)

noch weiter vollzieht. Wie aus den vorangehend aufgezeigten Analysen klar hervorgeht, ist dieser Wandel auf einen Kohorteneffekt zurückzuführen.

Die von Neuhoff (2001) hingegen aufgestellte Hypothese des überwiegen­

den Wirkens eines Alters-/Lebenszykluseffekts stützt sich allein auf die In­

terpretation von Querschnittsdaten (1998/99 in Berlin erhoben). Aus metho­

discher Sicht kann eine solche Hypothese zugunsten eines Alters- bzw.

lebenszyklischen Effekts jedoch - wie bereits ausgeführt wurde - nur durch Längsschnittdaten validiert werden. Die in diesem Beitrag vorangehend dar­

gelegten Analysen von zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhobenen Daten stützen Neuhoffs Interpretation seiner Daten nicht. Vielmehr kann aufgrund des starken Kohorteneffekts die eingangs aufgeworfene Frage, ob das Klassik­

publikum sukzessive auszusterben droht, eindeutig mit ja beantwortet werden, sofern nicht geeignete kulturpolitische Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Auf die familiäre Situation als Ursache für eine verminderte Konzertbe­

suchshäufigkeit der Anfang 30- bis Ende 40-Jährigen kann - wie Neuhoff (2001, S. 19) selbst einräumt - nur durch weiterführende Befragungen ge­

schlossen werden. Hierbei sollten vor allem auch Nicht-Besucher von Kon­

zerten klassischer Musik, aber auch anderer Genres zu ihren musikalischen Vorlieben im Allgemeinen und zu den Gründen für ihr Fernbleiben von Live-Aufführungen im Besonderen befragt werden.

Weitere Forschungsanstrengungen sollten sich vor allem auf das Sam­

meln und die Auswertung weiterer Längsschnittdaten fokussieren, um eine breitere Grundlage zur Beurteilung der hier dargestellten Forschungsergeb­

nisse zu schaffen. Optimal, aber nur über sehr lange Zeiträume und sehr aufwendig zu erheben, wären Panelstudien bezüglich mehrerer aufeinander folgender Kohorten.

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