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Archiv "Schwierigkeiten mit der Realität" (15.08.1984)

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Erlebnisse in der Psychiatrie romanhaft verarbeitet: Rainald Goetz (hier fotografiert von Klaus Podak, Frankfurt) beschreibt Patienten und ärztliche Kollegen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DAS BESONDERE BUCH

K

orrekturbedürftige Mythen über psychische Krankheit und Psychiatrie behindern in der psychiatrischen Praxis die so- ziale Integration unserer Patien- ten. Mit Berichten in den Massen- medien und durch Veranstaltun- gen in psychiatrischen Einrichtun- gen wird zwar versucht, den be- stehenden Vorurteilen entgegen- zuwirken. Dokumentarischen Psychiatrie-Darstellungen sind al- lerdings bald Grenzen gesetzt, in- sofern sie das verständliche Inter- esse psychisch kranker Menschen an Anonymität gefährden.

Fiktionale, etwa romanhafte Psychiatrie-Darstellungen könn- ten hier hilfreich sein. Leider lei- sten aber gerade sie einen erheb- lichen Beitrag zur Fehlinformiert- heit der Öffentlichkeit: Das gerin- ge Allgemeinwissen über psychi- sche Krankheiten und ihre Be- handlung erlaubt keine ausrei- chende Unterscheidung zwischen fiktionalen Mythen, die Mögliches zum Typischen hochstilisieren, und dokumentarischen Erzählun- gen, die zwar subjektiv, aber pro- tokollarisch gestaltet sind. Gerade Literatur könnte indes zeigen, daß literarische Sichtweisen zusätz- liche subjektive Dimensionen psy- chisch kranker Menschen (und ih- rer Behandler) erschließen kön- nen. Denn die Schwierigkeit,

„Realität" bei psychischen Phä- nomenen zu bestimmen, setzt der wissenschaftlichen Betrachtung enge Grenzen (2).

Der jüngste Roman im Grenzbe- reich zwischen Psychiatrie und Li- teratur heißt „Irre". Der Autor, Rai- nald Goetz, ist Arzt. Er erzählt von Erfahrungen eines jungen Medizi- ners mit Patienten und ärztlichen Kollegen in einer psychiatrischen Klinik, von großstädtischen Frei- zeitwelten junger Menschen und vom Leben in der „Kultur", in der die Romanfigur, Dr. Raspe, nach kurzer Tätigkeit in der Psychiatrie, arbeitet.

Das Buch zeichnet sich durch ei- ne ungewöhnliche Sprachvielfalt aus: In kunstvollen Kombinatio-

Schwierigkeiten mit der Realität

nen von Sprachelementen der Umgangssprache, der gehobenen Sprache, der psychiatrischen Fachsprache, der Sprache der Punk-Kultur, der Sprache der Co- mic-Hefte, der Dialektsprache und anderer Sprachformen werden die Beobachtungen und Empfin- dungen der Romanfiguren bzw.

des Erzählers beschrieben.

Eine solche Sprache bietet dem Leser eine hohe Assoziationsviel- falt, die zwar eine starke Deu- tungsunsicherheit auslösen kann, die aber auch „Erleben", „Sub- jektivität" und „psychisches Leid"

usw. differenzierter erfaßt, als es dem Alltagsverständnis und auch dem psychiatrischen Verstehen möglich zu sein scheint.

Weitere formale Merkmale stei- gern die Ausdrucksvielfalt des Textes: die Facettenstruktur des Romans mit ihren vielen abge- grenzten und doch kunstvoll auf- einander bezogenen Textteilen, die nicht eine Geschichte, son- dern eher ein Beobachtungs-, Denk- und Empfindungsprotokoll ergeben, die vielfältigen Variatio- nen der Erzählsituation mit der

Beliebigkeit für den Leser, ent- scheiden zu können, welche der Figuren nun „wirklich" spricht, und der rasche Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive des Erzählers, der die Heterogenität des Textes verstärkt. Andererseits verhindert diese Vielfalt auch, daß ein geschlossener Gesamtein- druck von dem Buch redlich ver- treten werden kann.

In den Abschnitten zum Thema Psychiatrie wirkt der Roman sehr dokumentarisch, ist weder für noch gegen die Psychiatrie, wirkt fast neutral. Er ist eher ernüch- ternd, ohne Romantik, vermittelt das Gefühl der Isoliertheit und Ratlosigkeit gegenüber psychisch kranken Menschen, er hat ergrei- fende, entmutigende, anklagen- de, verständnisvolle, vereinfa- chende, dann wieder differenzie- rende Passagen — kurz: er zeigt Beobachtungen und Stimmungen so widersprüchlich und unausge- wogen, wie sie sich bei dem, der mit psychischer Krankheit und Psychiatrie konfrontiert ist, wohl immer wieder ergeben.

Eindrucksvoll sind die Gegen- überstellungen der literarischen Syndrombeschreibungen mit den knappen psychopathologischen Sicht- bzw. Beschreibungswei- sen. Goetz zeigt, daß Literatur das Innenleben psychisch Kranker sprachfähiger machen kann, als es die vorherrschende psychiatri- Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 33 vom 15. August 1984 (19) 2353

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Psychiatrie im Roman

sche Sichtweise und Sprachform vermag. Denn diese läuft Gefahr, mit ihrer zunehmenden psycho- pathometrischen und biologi- schen Orientierung vor differen- zierteren, subjektiven Erfahrun- gen der ihr anvertrauten Men- schen sprachlos zu bleiben — so nützlich auch die klaren, knap- pen, wissenschaftlichen Beschrei- bungsweisen sind. Wer freilich von Literatur erwartet, eine ganz- heitliche Sicht von dem rea- len Beziehungsgefüge zwischen Mensch, Krankheit und Umwelt zu erfahren (2), wird enttäuscht. Das Krankheitsbild, das Goetz zeich- net, ist bedenklich einfach. So sagt er einmal: „Irre ... sind irr und irr ist Null Kunst Null Revolte.

Arme Teufel sind die Irren, die ärmsten Teufel, die ich kenne sind die Irren". Der Autor bekundet da- mit zwar deutlich Sympathien ge- genüber psychisch kranken Men- schen, doch er vermittelt das Bild eines schicksalhaften Charakters von psychischer Krankheit, so als wäre die Krankheitsentwicklung ohne jede soziale und kulturelle Dimension und als gäbe es keine Hilfsmöglichkeiten, so beschei- den sie auch sein mögen.

Dieses falsche Bild könnte zu be- denklichen Haltungen führen, mit der Folge, daß im Bedarfsfall me- dizinisch-psychologische Hilfen aus Resignation und Skepsis nicht in Anspruch genommen werden und daß die persönliche Bereit- schaft, bei der Prävention von psy- chischer Krankheit und bei der Rehabilitation von psychisch kranken Menschen mitzuwirken,

„Null" wird. Die Befürchtung wird durch Rezensionen von „Irre" ge- stützt. In der Literaturkritik ist et- wa ohne Ironie davon die Rede, daß Götz die „Wirklichkeit zeige, wie sie ist", oder es wird gesagt:

„Was Horror ist, was Anpassung und Gewöhnung bedeuten, dafür hat Götz ein wahrhaft entsetz- liches Anschauungsbeispiel: Die praktische Psychiatrie" (3). Götz wirkt offensichtlich als ärztlicher Zeuge besonders glaubhaft, etwa wenn er als Dr. Raspe sagt, daß er

„das ganze Grauen und somit die

Wahrheit der Psychiatrie ..." er- fahren hat.

Damit offenbart sich ein gewichti- ger „Realismuseffekt" des Bu- ches, der sich so von Ästhetisie- rungs- und Politisierungsabsich- ten und -effekten anderer literari- scher Arbeiten zum Thema Psych- iatrie deutlich abhebt und die Bot- schaft der Hoffnungslosigkeit der Kranken und Hilflosigkeit der Ärz- te als wahre Wirklichkeit der Psychiatrie zu bringen scheint.

Darin zeigt sich, daß der Einblick, den Götz in die Psychiatrie hatte, zu ausschnittshaft ist. Tatsächlich war Götz nie als Arzt in der Psych- iatrie tätig, sondern lernte nur we- nige Monate als Student im prakti- schen Jahr die Psychiatrie ken- nen, so bemerkenswert gerade in dieser Hinsicht seine Beobach- tungen und Beschreibungen sein mögen.

Ein anderer Aspekt der Realis- musproblematik wird durch die detaillierte Darstellung von Kran- kengeschichten angesprochen.

Hier werden die Grenzen der au- thentischen Dokumentierbarkeit von psychischer Krankheit be- rührt. Fragen nach der heute so nötigen medizinischen Daten- ethik, also nach dem verantwor- tungsvollen Umgang mit persön- lichen, intimen Informationen über Patienten werden aufgewor- fen. Auch könnten solche Literari- sierungen klinischer Erfahrungen das Vertrauen zu Ärzten belasten, wenn Patienten daran denken müssen, später literarische Figu- ren ihrer schriftstellernden Ärzte zu werden.

Ähnliches trifft auf die Darstellung der ärztlichen Romanfigur zu, die jeden örtlichen Psychiatriekenner die Identifikation der damit ge- meinten realen Personen gestat- tet. Wie im typischen Schauerro- man zur Psychiatrie, kann auch Götz der Versuchung nicht wider- stehen, den die Elektrokrampf- therapie durchführenden Arzt, ge- nannt der Schocker, als unange- nehm wirkende Romanfigur zu zeichnen oder von jemandem als

einen Psychiater zu sprechen, den „die Zumutungen seines Be- rufes nahezu unausweichlich zu einem Monster machten".

Auch hier in der Arzt-Figur wird der Mensch, der hinter der von Goetz beobachteten Verhaltens- oberfläche steht, nicht faßbar, es wird keine tiefere Beziehung zu ihm hergestellt. Allerdings scheint dies auch technisch schwierig zu sein, da Goetz mit seiner geringen literarischen Verfremdung den Schutz der persönlichen Würde noch ausgeprägter berühren wür- de, wenn er etwa Betriebsinterna, die meist Gerüchtequalität haben, zum „Verständnis" der Person nützen würde. Dieses Dilemma tritt prinzipiell bei jeder künstleri- schen oder journalistischen Be- handlung des Themas Psychiatrie auf, wenn eine authentische Be- richterstattung angestrebt ist, aber dennoch die nötige Anony- mität gewahrt werden soll: Doku- mentarisches muß fiktional umge- staltet werden, ohne daß der Rea- litätsbezug beeinträchtigt wird.

Als Kritiker kann man sich der Ehrlichkeit von Goetz nur an- schließen; er sagt: „Schwer zu sa- gen, wieviel Raspe wirklich ver- standen hatte, wofür er sich ent- schieden und was das Leben so aus ihm herausgelebt hatte, wahl- los, unbemerkt und unbeeinfluß- bar. Manchmal mag er sich selbst wundern über seine so unheilbar zerrissene Geschichte und die Kraft ersehnen, alles zu verste- hen."

Dr. Dr. Felix Tretter, München

Rainald Goetz: Irre, Roman, Suhrkamp- Verlag, Frankfurt/M, 1983, 331 Seiten, 29,80 DM

Literatur

(1) Watzlawik, P.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit, Piper, München (1976)— (2) Ciompi, L.: Wie können wir die Schi- zophrenen besser behandeln. (Nerven- arzt 52 (1981) 506-515 —(3) Vormweg, H.:

Einer der sich stellt, Süddeutsche Zei- tung 235 (1983) SV.

2354 (20) Heft 33 vom 15. August 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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