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EINE BYZANTISCH-TÜRKISCHE STUDIE:
PHILADELPHEIA. IM XIV. JAHRHUNDERT*. (Resümee)
Von Iräne Beldiceanu-Steinherr, Paris
Die Studie befaßt sich mit zwei Textstellen, denen bis jetzt wenig Beach¬
tung geschenkt worden ist. Die erste ist der anonymen Chronik Ta'rih-i äl-i
Selöuq entnommen (Paris, Bibliotheque Nationale, fonds suppl. pers. 1553),
die von F. N. Uzluk im Jahr 1952 in Ankara unter dem Titel Anadolu Sel-
gulclulan devleti tarihi mit einer türkischen Ubersetzung veröffentlicht wor¬
den ist. Die Chronik erwähnt unter dem Jahr 1327 eine Reihe von Ereignis¬
sen, unter anderem, daß in Philadelpheia die Nachricht vom Ableben
DimaSq Hwäge's eintraf (er starb am 24. August 1327 eines gewaltsamen
Todes), worauf dessen Bruder Timurtaä sofort in Richtung Qaygeriye
abzog, während Eretna beg (TimurtaS's Schwiegersohn) und Sunqur aga
ebenfalls die Flucht ergriffen. Es stellt sich nun die Frage, warum Timurtag
im Frühherbst 1327 bei Philadelpheia lagerte. Eine eingehende Studie der
byzantinischen und türkischen Quellen ergibt, daß es nicht in Timurtas's
Absicht lag, die Stadt zu erobern, sondern daß er nach Westanatolien
gekommen war, um die Fürsten von Aydm und Germiyan zum Gehorsam
zu zwingen, nachdem es zwischen ihnen und Timurtaä zu Zwistigkeiten
gekommen war. Diese hatten auch kurz zuvor Philadelpheia belagert, und
es liegt nahe zu vermuten, daß Kaiser Andronikos II, von den Türkmenen
bedrängt, an die Mongolen, die eigentlichen Herrscher 7\natoliens, appel¬
lierte, um an der Grenze wieder Ruhe und Frieden herzustellen.
Der zweite Text stammt aus der Chronik 'ASiqpaäazäde's. Er erwähnt
eine ivladi genannte Stoffart, die die Türkmenenfürsten aus dem byzantini¬
schen Philadelpheia bezogen, um daraus Ehrenkleider anzufertigen. Ivladi
ist das mittelgriechische vladi. Es handelt sich ursprünglich um einen pur¬
purgefärbten Seidenstoff, oft mit Silber oder Gold bestickt, der am Hof
oder in der Kirche Verwendung fand. Philadelpheia verdankt wahrschein¬
lich seinen türkischen Namen AlaSehir (Rotenstadt) dieser lokalen Indu¬
strie. Der Name ist alt und kommt schon in der Chronik des Ibn BibT sowie
in der arabischen Inschrift der Vacidiye Medrese in Kütahya aus dem Jahr
1314 vor. Die osmanischen Steuerregister beweisen, daß in der Umgebung
von Phüadelpheia noch im XV. Jahrhundert Seide hergestellt und gewirkt
wurde.
* Diese Studie ist in Zusammenarbeit mit dem Byzantinisten P. Nasturel ent¬
standen, siehe „Notespour I'histoire d'Ala§ehir (Philadelphie) au XIV siecle"in Phila- delphie et autres etudes, Pubhcations de l'Universite de Paris I, Serie Byzantina Sor¬
bonensia - 4, Paris, 1984, S. 17-37.
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LITERARISIERUNG DER GESQHICHTSSCHREIBUNG AM
BEISPIEL DER ÖAZAVATNAMES (Resümee)
Von Barbara Flemming, Leiden
Die türkischen gazavätnämes können nicht einwandfrei einer der histori¬
schen Quellengruppen zugeordnet werden. Dennoch werden noch vor allem
historische Gegebenheiten in den jeweiligen Werken gesucht. In den wis¬
senschaftlichen Ausgaben von gazavätnämes betonen die Herausgeber
(Levend, Gallotta, Inalcik, Olgun/Parmaksizoglu) die „Nähe"
ihrer Quellen zu den jeweiligen historischen Vorgängen. Tatsächlich kön¬
nen die älteren gazavätnämes zusätzlich, neben anderen Quellen, lür selbst¬
erlebte historische Vorgänge ergänzend herangezogen werden. Nachdem
man aber die Bestandteile herausgearbeitet hat, denen man historischen
Quellenwert zuerkennt, bleibt ein - oft heruntergespielter - Restbestand
an „unhistorischem" Material übrig, der unleugbar ebensosehr TeU der
untersuchten Texte ist. Hier setzt die literaturgeschichtliche Betrachtung
ein. Die Erzählungen haben ihre fernen Vorgänger in ursprünglich münd¬
lich überlieferten Erzählungen und Sagen über die magäzi, die Eroberungs¬
züge des frühen Islams, in arabischer und persischer Sprache. Wie die The¬
matik der gazavätnämes im Lauf der Jahrhunderte nicht gleich blieb, so
änderte sich auch der Stil. Beides ist gebunden an den Zweck, den die
Erzählungen jeweils hatten. Den alten gazavätnämes schreibt man den ein¬
fachen StU der Volkserzählungen zu. Bestimmte Umstände, zum Beispiel
die Ausbreitung des lesenden Publikums, haben aber eine größere Vielfalt
zuwegegebracht. Das Ziel war durchweg, Belehrung und Erbauung, aber
auch Spannung und ästhetisches Vergnügen zu erzeugen. Die Autoren lite-
rarisierten die Kriegs- und Siegeserzählungen. Sie bedienten sich dafiir der
Bildersprache, die die romantische Mesnevi-Literatur eingefiihrt hatte. Da
die gazavätnäme-hitersituT einen außerordentlichen Reichtum an Themen,
Stoffen und Formen aufweist, kann sie offensichtlich auch literargeschicht-
lich nicht auf einmal in ihrem Gesamtumfang erfaßt werden. Man muß das
Material untergliedern und kann sich dabei von formalen Gegebenheiten,
vom Stil etwa, leiten lassen, aber auch von inhaltlichen Elementen. Hier
kann die strukturahstische Märchenforschung Anregungen geben. Indem
wir Motive und Attribute isolieren und vergleichen, vor allem aber auch auf
die Funktionen der Handlungen achten, die sich abspielen, können wir den
historischen und den literarischen Gehalt der gazavätnämes besser von¬
einander abgrenzen und einer gattungsmäßigen Definition näher kommen.
Man sollte sich sicher hüten vor einer ausschließlich literarischen Behand¬
lung. Es geht aber auch nicht an, die Überlieferung nur an der „Wirklich¬
keit" zu messen, ohne ihren volkskundlichen Charakter zu berücksichti¬
gen. Derm auch wenn man literarische und historische Methoden ange¬
wandt hat, bleibt ein unerklärter Rest, der uns zeigt, daß die Analyse noch
nicht beendet ist. Hier kann die ethnologische und folkloristische Betrach¬
tungsweise zu einer Ordnung und Gliederung der gazavätnämes beitragen.
Nützlich ist dabei die Pionierarbeit von H. Özdemir, der sechs altosma-