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Vernunft oder Tradition? Abü 1-Hasan

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Abü 1-Hasan cAlï al-Mâwardïs (st. 449/1058) Hermeneutik des Korans im Spiegel seiner Zeit 1

Von Irene Schneider, Göttingen

Heinz Grotzfeld zum 70. Geburtstag gewidmet

I. Mâwardï und seine Zeit

Seine diplomatische Mission im Auftrag des Kalifen al-Qä 5im (422/1031 bis 466/1074) zu dem Büyiden Galäl ad-Daula führte al-Mäwardi im Jahre 429/

1038 in das Zentrum machtpolitischer Kämpfe und Ambitionen. Der Büyide Galäl ad-Daula nämlich verlangte von Mâwardï wie von einigen weiteren Kollegen sein Gutachten für die Verleihung des Titels „König der Könige", der der alten persischen Herrschertradition entstammte. Im Gegensatz zu seinen Kollegen widersetzte sich Mâwardï diesem Anspruch und stellte einmal mehr seine unbedingte Loyalität gegenüber dem Beherrscher der Gläubigen aus dem Haus der Abbäsiden unter Beweis.

Anhand dieses Berichts wird die prekäre religionspolitische Lage des sunnitischen Kalifats unter der Oberherrschaft der cirischen Dynastie der Büyiden (333/945-446/1055) deutlich. Bereits im Jahr 408/1018 hatte der Vorgänger al-Qa ims, der Kalif al-Qädir (380/991-422/1031), in diesem Zusammenhang ein Dekret erlassen, das unter dem Namen Qâdirïya in die Geschichte einging. 2 Intention desselben war es, nicht nur das Glaubensbe¬

kenntnis aller Muslime zu formulieren, sondern zugleich ein theologisches Credo als Basis der staatlichen Religionspolitik zu verankern. Die Qädinya beinhaltete eine explizite Festlegung auf das Programm der Sunniten, ahl as-sunna wa-l-gamaa, eine Ablehnung der citen (die ja faktisch den Staat dominierten) so wie der spekulativen Theologie (kaläm) 3 als methodisches

1 Herrn Prof. Dr. H. Daiber danke ich für wertvolle Ratschläge.

2 Laoust 1968, S. 70fL; Nagel 1988, S. 56, 58.; Makdisi 1997,S. 9ff.

3 Louis Gardet: „ cIlm al-Kaläm." In: EI 2III, S. 1141.

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Verfahren der Mutazila. Darüber hinaus enthielt es Angriffe vor allem gegen die As'ariten 4 und Mutaziliten. 5Die Leitbildfunktion der besten Menschen nach dem Propheten, der Prophetengenossen, wurde festgeschrieben. 6

Die Entwicklung der Theologie hatte sich zu diesem Zeitpunkt weg von der rationalistischen, die Transzendenz Gottes und Eigenverantwortlichkeit des Menschen betonenden Gottesgelehrsamkeit der Mutazila im 3./9.Jh.

und hin zu einer sunnitischen Restauration vollzogen, durch welche die Unterwerfung des menschlichen Willens unter Gottes Gebote ins Zentrum

des wissenschaftlichen und religionspolitischen Diskurses gestellt wurde.

In dieser durch den Niedergang und sichtbaren Machtverlust des zentralen politischen Amtes des Islams geprägten Zeit zeigt die Qädinya ein verzwei¬

feltes Ringen um eine Standortbestimmung des Kalifates und den Willen, eine sunnitische Orthodoxie zu formulieren und auf politischer Ebene zu etablieren. 7 Die Theologie erfuhr vor diesem politischen Hintergrund ihre Ausgestaltung zu einem „sicheren und unwiderlegbaren System", 8 welches auf der Grundlage der Tradition (naql) basierte und im Gegensatz zur stark durch rationalistische Elemente ( caql) geprägten Argumentation der Mu'taziliten stand. 9

Leben und Werk des Abü 1-Hasan cAlï b. Muhammad al-Mäwardi (364/975-449/1058) sind eng mit diesen religiösen und politischen Ereig¬

nissen verbunden. Mäwardi studierte in Basra und Bagdad Traditions¬

wissenschaft und säfTitisches Recht und war Richter u.a. in Bagdad. Wie die eingangs genannte diplomatische Mission beweist, stand er mit den beiden cabbäsidischen Kalifen seiner Zeit, al-Qädir (380/991-422/1031), 10 vor allem aber mit al-Qa im (422/1031-466/1074), 11 in engem Kontakt. Er

schrieb für al-Qädir ein summarisches Rechts werk auf der Grundlage der Lehre seiner, der säfTitischen, Rechtsschule mit dem Titel „al-Iqnä c" (die Uberzeugung). 12 Seine Beziehungen zu al-Qä 5im scheinen noch intensiver

gewesen zu sein. Nach 436/1045 zog er sich aus dem öffentlichen Leben zu¬

rück und trat bis zu seinem Tod im Jahr 449/1058 nicht mehr in der Öffent¬

lichkeit in Erscheinung. 13

4 W. Montgomery Watt: „Ash cariyya." In: EI 21, S. 696; Gimaret 1992.

5 Laoust 1968, S. 70ff.; Makdisi 1997,S. 9ff.

6 Zur Qädinya s.Laoust 1968: S.70fL; Makdisi 1984, S. 30.

7 Nagel 1981, 1, S. 326ff.

8 Nagel 1988, S. 18.

9 Nagel 1988, S.354.

10 Dominique Sourdel: „Al-Kädir li'lläh." In: EI 2IV, S.378f.

11Dominique Sourdel: „Al-Kä 3im bi-amr Allah." In: EI 2IV, S. 457f.

12 Laoust 1968, S. 14.

13 Brockelmann 1991 mit Quellenangaben; s.a. Laoust 1968.

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Politisch loyal zeigte sich Mäwardi nicht nur im Rahmen der Gesandt¬

schaften, sondern auch in seinem wohl bekanntesten wissenschaftlichen Werk, al-Ahkäm as-sultämya, „Regeln der Machtausübung". Realpolitisch

nüchterne Analyse ist hier gepaart mit der Vision eines - in der Realität schon gescheiterten - Konzepts eines islamischen Staates unter der absolu¬

ten Autorität des Kalifen.

Bei Untersuchungen zu Mäwardi stand sein verfassungstheoretisches Werk immer im Zentrum. Daneben schrieb Mäwardi aber auch theologi¬

sche und juristische Abhandlungen, die weitgehend noch ihrer Bearbeitung harren. 14Zwar hatte Laoust Mäwardis Rolle als Jurist (légist au service du califat) Anerkennung gezollt, 15 dann jedoch vor dem Hintergrund der religionspolitischen Lage im Bagdad des 5./11. Jh. vor allem die Verbindung zu dem verfassungsrechtlichen Werk, al-Ahkäm as-sultânïya, thematisiert.

Obwohl eine eingehende Analyse seiner juristischen und theologischen Werke noch aussteht, wird - zurückgehend auf biographische Informatio¬

nen - über Mäwardis eventuelle Zugehörigkeit zur politisch diskreditierten Mutazila spekuliert. 16

Im Folgenden soll ein ebenfalls bisher nicht bearbeiteter Text Mäwardis, seine Hermeneutik des Korans, vorgestellt und vor dem geistesgeschicht¬

lichen und politischen Hintergrund seiner Zeit ausgewertet werden.

II. Mäwardis Hermeneutik des Korans

Die Hermeneutik ist Teil des umfangreichem Werkes Mäwardis über das

säfi citische Recht mit dem Titel al-Hdwï al-kabïr. 17 Sie wurde von ihm im Rahmen der Verpflichtungen des Richters (Adab al-qâdï), die Quellen der Offenbarung bzw. des offenbarten Rechts (Koran und sunna) zu kennen

14 Vgl. nur Mikhail 1995, der Mäwardis Schrift über das Prophetentum einer Unter¬

suchung unterzieht.

15 Laoust 1968, S. 13.

16 Siehe dazu Mikhail 1995, S. 17.

17 An dieser Stelle ist einzufügen, dass eine Untersuchung von Mäwardis hermeneu- tischem Ansatz in al-Hdwïal-kabïr und seinen weiteren theologischen und rechtlichen Werken ein dringendes Desiderat ist. Sie kann in diesem Artikel nicht geleistet werden

und wird, wenn sie denn in Zukunft einmal unternommen werden sollte, eventuell ei¬

nige Ergebnisse, die hier gewonnen werden, in ein anderes Licht stellen. Absicht dieses Artikels ist es nur, einige Besonderheiten bzw. Auffälligkeiten, die Mäwardis Korani¬

sche Hermeneutik als Interpretationsanleitung des heiligen Textes aufweist, herauszu¬

arbeiten.

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(wugüb an-nazar ft usül as-sar)™ entwickelt. Mâwardï hat darüber hinaus auch einen Korankommentar unter dem Titel an-Nukat wa-l cuyün verfasst, dessen Analyse noch aussteht.

Für eine vergleichende Einordnung der Hermeneutik Mäwardis seien hier paradigmatisch zwei Korankommentare und deren exegetische Metho¬

dik dargestellt: Es handelt sich um den „Traditionalisten" Tabarï und um den Mutaziliten ZamahsarL

Als Höhepunkt der frühen Koranexegese gilt allgemein der Koran¬

kommentar des Abü Gacfar Muhammad at-Tabarï (st. 310/923) mit dem Titel Gämi cal-bayän can tawïl äy al-Qur'än (Erklärende Sammlung zur Auslegung des Korans), ein äußerst umfangreiches Werk. 19 Tabarïs Herme¬

neutik basiert auf der möglichst kompletten Sammlung des Materials der Autoritäten mit den entsprechenden Uberliefererketten. Eventuelle Zweifel werden von ihm thematisiert, jedoch betont er die ausschließliche Berech¬

tigung des auf den Propheten, seine Genossen und Nachfolger zurückge¬

führten Wissens ( cilm). Wissen wird also in ununterbrochener Vererbung und in der Verbreitung beglaubigter Uberlieferung (an-naql al-mustafïd) transportiert. Allein diese Uberlieferung garantiere, so Tabarï, exegetische Richtigkeit. Die metaphorische Auslegung des Korans durch die rationalis¬

tischen Denker des frühen Islam, die Mutaziliten, lehnt er dagegen katego¬

risch ab. Sein Werk ist denn auch zum Inbegriff des sog. tafstr bi-l-matür geworden, des traditionsgestützten Korankommentars, 20 welcher uns in der üblichen Form der fortlaufenden Kommentierung der aufeinander folgen¬

den Suren bzw. Verse vorliegt. 21

Abü 1-Qäsim az-Zamahsarï (st. 1144), Mutazilit und Korankommentator, befasst sich in seinem al-Kassäf schwerpunktmäßig mit der linguistischen Analyse und mit der rhetorischen Schönheit des Korans. Sein Werk wurde

trotz der mutazilitischen Haltung des Autors auch in der Orthodoxie gerne gelesen. 22 Zamahsarï bekennt sich zur Zulässigkeit des igtihäd und grenzt den Umgang mit Traditionsmaterial ein. Er lässt gleichbedeutend mit caql, der Vernunft, auch naql^ die Überlieferung als Methode der Erkenntnis

18Der Adab al-qâdï-Text wurde bereits vor der Edition des al-Hàwï al-kabïr als unabhängiger Text von Sirhän herausgegeben und hier auch nach dieser Ausgabe zitiert:

Mâwardï: Adab al-qâdï, I, S.273

19 Gätje 1971,S. 51ff.; Goldziher 1920, S. 87ff.; McAuliffe 1988, S. 47ff.; Forster 2001, S. 45ff.; s.a. Clifford Edmund Bosworth: „Taban." In: EI 2X,S. 11ff.

20 Gätje 1971,S. 53f.; McAuliffe 1988, S. 47ff.

21 Gätje 1971,S. 51ff.

22 Goldziher 1920, S. 117ff.; Gätje 1971,passim; Forster 2001,S. 65ff.

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zu. 23 Goldziher analysiert seine mutazilitischen Positionen an einigen prägnanten Beispielen. 24

Mäwardis Hermeneutik ist, im Gegensatz zu seinem eigenen Koran¬

kommentar, aber auch Tabarïs und Zamahsarïs monumentalen Korankom¬

mentaren, eine kurze, konzise methodische Anleitung. Auf der Basis eines methodischen Instrumentariums wird ein Regelwerk zur Interpretation des Korans geboten. Entsprechend kurz ist der Text, er umfasst in der gedruck¬

ten Version des Adab al-qädl ca. 90 Seiten. 25 In seiner Hermeneutik führt Mäwardi Koranverse nur exemplarisch zur Illustration methodischer Frage¬

stellungen an und interpretiert sie nicht in ihrer Anordnung im Koran. Mar¬

kant ist die Fundstelle: in seinem säfTitschen Rechtswerk, dort, wo es um die Notwendigkeit für den Richter geht, einen methodischen Zugang zum koranischen Text zu finden, welcher als erste Quelle für die Rechtsprechung dienen soll. Mäwardis Hermeneutik soll angehende Juristen und Richter zur Exegese rechtsrelevanter Verse befähigen. Sie hat einen praktischen, an- wendungsorientierten Hintergrund.

Die Analyse des Textes zerfällt in zwei Teile:

1. Begründung der Notwendigkeit einer Methodik der Exegese

2. Konzeption der Methodik der Exegese. Diese Konzeption der Methodik ist in zwei Schritte zu unterteilen:

a) Allgemeine theoretische Überlegungen zur Textinterpretation b) Sechs Antonyme zur Textinterpretation

1. Begründung der Notwendigkeit einer Methodik der Exegese

Die Methodik der Exegese ist eingeflochten in die Vorschriften für den Richter. Im Anschluss an die Diskussion der für den Richter notwendigen Beratung (AQ I, S. 255, A. 408ff.)26 geht Mäwardi auf den taqlïd und seine Nichtigkeit ein (AQ I, S. 269, A. 433ff.) und zieht daraus dann den Schluss,

23 Schacht 1979,S. 258.

24 Goldziher 1920, S. 124fL; Brockelmann: „Zamakhshan." In: EI 1IV,S. 1305fT.;

Forster 2001, S. 73 kommt dagegen bei der Analyse eines Verses zu dem Ergebnis, sein

mu ctazilitisches Credo habe sich kaum ausgewirkt.

25 Mäwardi: Adab al-qädl, I, S. 277-367.

26 Der Übersichtlichkeit halber werden die Quellenangaben im Text in Klammern je¬

weils hinter die entsprechende überlieferte Aussage gesetzt. Sie werden nach Bandzahl von Mäwardi Adab al-qädl (abgekürzt AQ), Seitenzahlen, vor allem aber nach Abschnitten (A.) zitiert, um die Auffindbarkeit zu erleichtern. Die beiden Bände von Mäwardis Adab al-qädl (s. Literaturliste) werden in der Einzelausgabe zitiert, gehören jedoch inhaltlich - als Werk über die Verhaltensmaßregeln für den Richter und über das Prozessrecht - zu

Mäwardis großem Rechts-Werk al-Häwlal-kablr.

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dass der Blick auf die Quellen der Offenbarung/des offenbarten Rechts zu richten sei (AQ I, S. 273, A. 448). Als Voraussetzungen dafür betrachtet er Sprache und Verstand (AQ I, S. 274ff., A. 452ff.) und leitet dann über zu den usül, also Koran, sunna, igma und qiyäs (AQ I, S. 277ff, A. 461). Die Abhandlung der Quellen beginnt er mit dem Koran. Die Hermeneutik des

Korans gehört demnach zum Ausbildungsprogramm eines jeden Richters.

Im Abschnitt über die Nichtigkeit des taqlïd umreißt Mäwardi seine Position im Rahmen der Diskussion um den igtihäd (d.h. die eigenständige Textinterpretation) und gibt sich als Partisan des igtihäd sowie Kritiker des taqlïd, der kritiklosen Übernahme, zu erkennen. Mit Verweis auf SâfTï, den Eponym seiner Rechtsschule (AQ I, S. 269, A. 433), bezieht er gegen den taqlïd von Prophetengenossen und Nachfolgern Position. Taqlïd definiert Mäwardi als die Übernahme einer Aussage (qaul) ohne Beweis (bi-gair dalïl), (AQ I, S. 269, A. 434), also als eine „unbegründete Übernahme". Sie sei nur im Falle des Propheten erlaubt.

Explizit schließt Mäwardi die Prophetengenossen und spätere Gelehrte und Überlieferer von der Erlaubnis zum taqlïd aus (AQ I, S. 269-271, A. 438-442). 27Zur Unterstützung seiner Meinung führt er Koran 4:83 an:

danach „... würden diejenigen von ihnen es wissen, die der Sache wirklich nachgehen können". 28

2. Konzeption der Methodik der Exegese a) Allgemeine Überlegungen zur Textinterpretation

Für die Beschäftigung mit den usül as-sar\ den Wurzeln der Offenbarung bzw. des Rechts, gibt es für Mäwardi zwei Voraussetzungen: Kenntnis der arabischen Sprache und Vernunft ( caql) (AQ I, S. 274f., A. 452, 455). Denn die Beweise (hugag) der Vernunft, so argumentiert er, seien die Grundlage für die Erkenntnis der usül. Deswegen stimme die Offenbarung (sar) nur mit dem überein, was die Vernunft ihr erlaube, und stimme nicht mit dem überein, was die Vernunft ihr verbiete oder zunichte mache (AQ I, S. 275, A. 453: wa-li-dälika lam yarid as- sar illä bi-mä au gab ah u l- caql au gawwazahu wa-lam yarid bi-mä hazar ah u l- caql wa-abtalahu).

Beweise der Vernunft dominierten deshalb über die Beweise der Tradition (sam) und führten zum Wissen der Beweisführung (AQ I, S. 275, A. 454:

27 Mäwardi (AQ I, S. 269, A. 436-437) lässt taqlïd nur gelten im Zusammenhang mit der Zeugenschaft, bei Laien gegenüber Gelehrten und bei den ahbär, also den Propheten¬

traditionen, s.Jan Wensinck: „Khabar." In: EI 2IV, S. 895.

28 Koranzitate werden gegeben nach Paret 1980.

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fa-särat hugag al- cuqül qädiyatan calä hugag as-sam wa-muaddiyatan ilä

cilm al-istidläl ...).

Die Verse des Koran umfassten drei Aspekte: Befehle, Verbote und Be¬

richte (AQ I, S. 277, A. 463: amr wa-nahy wa- habar). 29 Sie lieferten also Information (iläm) und Verpflichtungen (iltizäm) (AQ I, S. 278, A. 465fT).

Mit den Berichten beschäftigt sich Mäwardi nicht. Es geht ihm an dieser Stelle nicht um allgemein theologische Darlegungen. Als Jurist, Richter und somit Pragmatiker interessieren ihn die Befehle und Verbote, also diejeni¬

gen Verse des Korans, die konkrete Handlungsanleitungen vorgeben, sprich die rechtliche Verbindlichkeit haben. Die Verbindlichkeit aller Gebote des Koran ist für Mäwardi generell, d.h. alle Gebote des Korans sind absolut verpflichtend - es sei denn es gebe einen Hinweis darauf, dass sie nur als Empfehlung zu gelten hätten. Entsprechend seien alle Verbote absolut ver¬

boten (AQ I, S. 278ff, A. 470ff). 30

Mäwardi positioniert sich bei der Entwicklung seiner Methodik und grenzt sich, sei es mit expliziter Begründung, sei es stillschweigend, gegen andere Lehrmeinungen, die der seinen entgegenstehen, ab. An vielen Stellen begnügt er sich allerdings auch mit der Auflistung anderer Positionen, oft ordnet er sich nicht eindeutig in den entsprechenden wissenschaftlichen Diskurs mit Nennung der Vertreter der einzelnen Positionen ein.

In dem vorliegenden Falle begnügt er sich damit, die Gegenpositionen zu umreißen, dass es sich nämlich bei den Koranischen Versen immer nur um Empfehlungen handele, es sei denn, die absolute Verpflichtung sei ausdrück¬

lich vermerkt (AQ I, S. 279, A. 472) 31 bzw. der Grad der Verpflichtung sei nicht erkennbar (AQ I, S. 279, A. 473).

b) Die sechs Antonyme

Mäwardi führt sechs Antonyme als grundlegende methodische Hilfsmittel zur Exegese des Korantextes an:

1. Das Allgemeine (eigentl. Allgemeinheit, cumüm) - das Spezifische (h usus) 2. Erklärungsbedürftig (wörtl.: verkürzt, mugmal) - erklärt (mufassar) 3. Absolut (mutlaq) - eingeschränkt (muqayyad)

4. Bejahung (itbät) - Verneinung (nafy)

29 Vgl. dazu Goldfeld 1988, S. 18ff.

30 Mäwardi, der hier Säf?i zitiert, benutzt die Termini ibäha und tahrïm. Vgl.Joseph Schacht: „Ibäha." in: EI 2III, S. 660f.; Makdisi 1984, S. 16, derdie Kategorie als aus dem kaläm- bzw. der Rechtsphilosophie stammend nennt, aber unter dem Titel al-hazr wa-l- ibäha.

31 Dabei handelt es sich um die Meinung der Mutaziliten und der Mehrheit der Ge¬

lehrten, s. AQ I, S. 279, Anm. 4.

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5. Eindeutig (wörtl.: fest, muh kam) - mehrdeutig (wörtl.: einander ähn¬

lich, mutasäbih)

6. Aufhebend (näsih) - aufgehoben (mansüh)

Diese Antonyme sind als Begriffspaare in der exegetischen Literatur nicht neu. 32 Oft genannt werden z.B. das erste (das Allgemeine/das Spezifische) und das sechste Antonym (aufhebend/aufgehoben), aber auch das fünfte (eindeutig/mehrdeutig) spielte eine wichtige Rolle. Spezifisch für Mäwardi ist die Zusammenstellung dieser sechs Antonyme, die für ihn in ihrer Ge¬

samtheit ein methodisches Instrumentarium für das sprachliche Verständnis der Koranischen Ausdrücke, also für die Hermeneutik des Textes, liefern.

ad 1: Das Allgemeine ( cumüm) - das Spezifische (husüs) 33

Die Kategorie des Allgemeinen bzw. Spezifischen (AQ I, S. 283ff., A. 494ff.) definiert Mäwardi rein quantitativ. Allgemein ist demnach der Plural, und zwar wenigstens eine Anzahl von drei. Das Spezifische ist dann der Singular (infiräd). Als ein Beispiel für die „Spezialisierung" des Allgemeinen führt er Koran 5:33-34 an:

„Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen soll darin bestehen, dass sieumgebracht oder gekreuzigt werden ... Ausgenommen diejenigen, die umkehren, noch bevor ihr Gewalt über sie habt."

ad 2. Erklärungsbedürftig (wörtl.: verkürzt, mugmal) - erklärt (mufassar) Mäwardi definiert als mugmal solche Ausdrücke, deren Bedeutung nicht verstanden werde, während bei mufassar-Ver sen die Bedeutung klar sei. Als Beispiel für einen erklärungsbedürftigen Vers führt er Koran 2:43 an: „Und verrichtet das Gebet, gebt die Almosensteuer und nehmt (beim Gottes¬

dienst) an der Verneigung teil" (AQ I, S. 290ff., A. 522ff.). Es handele sich, so Mäwardi, hierbei um Regeln, deren Ausführung noch weiter konkreti¬

siert werden müssten. Denn es sei nichts über die Art der Verrichtung des Gebets bzw. die Anzahl der Gebete gesagt, ebenso wenig wie die Höhe der Almosensteuer festgelegt sei.

Mäwardi interessiert sich für die Gründe einer solchen Erklärungs¬

bedürftigkeit der Rede Gottes. Zweierlei führt er an: einmal würden die Menschen so darauf vorbereitet, die nachfolgende Erklärung (bay an) anzu¬

nehmen (AQ I, S. 291, A. 526) - sie mache also neugierig, bereite auf die dann folgende Erklärung vor. Zum anderen habe Gott einige Regeln offen, einige

33 Vgl. z.B. Muqatils (st. 767) Korankommentar, bearbeitet von Goldfeld 1988, S. 24:

hier werden weit mehr Antonyme aufgeführt, die teilweise mit Mâwardïs identisch sind.

34 Vgl. z.B. bei Muqätil (st. 767): Goldfeld 1988, S. 24f.

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verborgen geschaffen, um Leute in ihrem Wissen ( cilm) zu bevorzugen und für ihre Ableitung (istinbät) zu belohnen (ibid.). Mugmal-Yerse sollen also einen Anreiz für die Suche nach dem Wissen und eine Belohnung für den Wissenserwerb des Gläubigen bzw. des Gelehrten darstellen.

Mäwardi kennt zwei Methoden, ein mugmal zu deuten (AQ I, S. 294, A. 537): einmal durch Geistesanstrengung (igtihäd) (AQ I, S. 294, A. 538), also durch die Verstandesleistung, ein andermal durch Rückgriff auf sarn (AQ I, 297, A. 540ff.),34 also die Interpretation eines Verses durch Rückgriff auf die Texte. Als Beispiel hierfür führt Mäwardi Koran 2:43 an: „Verrichtet das Gebet und gebt die Almosensteuer". Mäwardi kommentiert: „Der Beweis wird nur vermittelt durch einen gehörten Text (nass masmu) aus Koran oder sunna" (AQ I, S. 297, A. 540).

ad 3. Absolut (mutlaq) - eingeschränkt (muqayyad)

Eine Einschränkung einer gegebenen Regel geschieht nach Mäwardi durch einen Zustand (häl), ein Merkmal (wasf) oder eine Bedingung (sart) (AQ I, S. 298, A. 545). Ein Beispiel liefert Koran 5:6:

„Ihr Gläubigen! Wenn ihr euch zum Gebet aufstellt, dann wascht euch das Ge¬

sicht und die Hände ... Und wenn ihr krank seid und euch auf einer Reise be¬

findet ... und kein Wasser findet ... sucht einen sauberen hochgelegenen Platz auf und streicht euch mit etwas Erde davon über das Gesicht und die Hände"

(AQ I, S. 298, A. 546).

Krankheit ist die Bedingung für die Erlaubnis, die Waschung mit Sand zu vollziehen.

ad 4. Bejahung (itbät) - Verneinung (nafy)

Bezüglich dieses Antonyms untersucht Mäwardi drei Fälle, nämlich 1. eine Bejahung, die nicht mit einer Verneinung verbunden ist, 2. eine Verneinung,

die nicht mit einer Bejahung verbunden ist, 3. die Möglichkeit, dass beides gleichzeitig in einer Regel vorkommt (AQ I, S. 308fî., A. 600fT.).

Zur ersten Möglichkeit (AQ I, S. 308f., A. 602), also einer Bejahung, die nicht mit einer Verneinung verbunden ist, führt er die Aussage des Prophe¬

ten an, dass jede Handlung mit der entsprechenden Absicht verbunden sei.

Entscheidend ist die positive Formulierung der Regel. Die Bejahung der Handlung erfolge, so Mäwardi, nur mit der Absicht, ohne sie falle sie weg.

Ein Gebet ohne die entsprechende Absicht sei also nicht gültig.

35 Goldziher 1920, S. 136f.: Sam c, wörtlich „Hören", ist terminus technicus für ohne Rücksicht auf Vernunftgründe schuldigen Gehorsam gegenüber dem, was im Text des Korans bzw. der sunna befohlen ist.

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Zum zweiten Punkt, einer Verneinung, die nicht mit einer Bejahung ver¬

bunden ist, verweist er auf (AQ I, S. 31, A. 616), eine Aussage des Propheten:

„Gott akzeptiert das Gebet nicht ohne Reinheit". Diese negative Formulie¬

rung weise darauf hin, dass das Gebet nur mit Reinheit akzeptiert werden kann.

ad 5. Eindeutig {muhkam, wörtl.: fest) - mehrdeutig {mutasäbih, ähnlich bzw. ambivalent 35)

Das Antonym muh kam - mutasäbih gründet sich auf Koran 3:7. Der Vers lautet:

„Darin (d.h. in der Schrift) gibt es eindeutige Verse - sie sind die Urschrift (umm al-kitäb) - und andere, mehrdeutige. Diejenigen, nun, die in ihrem Herzen vom rechten Weg abschweifen, folgen dem, was darin mehrdeutig ist, wobei sie darauf aus sind, die Leute unsicher zu machen und es nach ihrer Weise zu deuten. Aber niemand weiß es wirklich zu deuten, außer Gott. Und diejenigen, die ein gründliches Wissen haben, sagen: ,Wir glauben daran. Alles, was in der Schrift steht, stammt von unserem Herrn (...)'•"

An der Interpretation dieses Verses entzündete sich eine Diskussion zum einen bezüglich der Ubersetzung von mutasäbih als „ähnlich" oder als

„ambivalent". 36 Zum anderen wurde die Legitimität der Koraninterpretation überhaupt in Frage gestellt. 37 Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Vers befürchtete man, eine tendenziöse Auslegung der mutasäbih -Verse könne zur Uneinigkeit unter den Muslimen führen. Außerdem solle der gläubige Muslim demütig akzeptieren, dass bestimmte Verse eben nur Gott allein verständlich seien.

Mäwardi zählt für dieses Antonym acht verschiedene Definitionen auf (AQ I, S. 319fT., A. 656ff.),38 u.a. dass „eindeutig" die aufhebenden, und

„mehrdeutig" die aufgehobenen Verse seien - dies spielt in die nächste, die

6. Kategorie hinein - dass „eindeutig" die Pflichten, Versprechungen und Drohungen seien, während „mehrdeutig" die Geschichten und Beispiele seien etc.

Er selbst bekennt sich zur Definition, wonach die Bedeutung der Regeln der „eindeutigen" Verse der Vernunft zugänglich seien (al-muh kam mä

35 Zur Bedeutung „ähnlich" und „ambivalent" s.Kinberg 1988, S. 145fT.; vgl. Gold¬

feld 1988, S. 25, der dieses Antonym in Beziehung zur jüdischen Tradition setzt.

36 Kinberg 1988, S.145fT.: die Interpretation als „ähnlich" vor allem im Zusammen¬

hang mit dem Wundercharakter des Koran gesehen wurde. Die Bedeutung „ambivalent, unklar" wurde vor allem als Gegensatz zu den muhkamät, den „klaren, deutlichen" Ver¬

sen benutzt s. Kinberg 1988, S. 148fT.

37 Vgl. dazu Kinberg 1988, S. 165.

38 Vgl. auch Kinberg 1988, S. 148fT.

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känat mdäni ahkämihi maqüla), wohingegen die „mehrdeutigen" Verse mit der Vernunft nicht zu erfassen seien (AQ I, S. 323, A. 663). Dies gelte beispielsweise für die Anzahl der Gebete und das Fasten speziell im Monat Ramadan. Öfter wurden mutas äbih-Verse als Ausführungsbestimmungen

des Ritus verstanden. 39 Das würde mit Mäwardis hier angeführtem Beispiel übereinstimmen. 40

Die Interpretation der mutas äbih-Werse ist also, dies kann man implizit aus Mäwardis Argumentation ableiten, nicht möglich.

ad. 6. Aufhebend (näsih) - aufgehoben (mansüh) 41

Die sechste Kategorie, die der Abrogation (AQ I, S. 333fT., A. 692), ist die bekannteste und spielt in der exegetischen Literatur eine wichtige Rolle. 42 Offenbarte Koranverse konnten nach allgemeiner Auffassung von Gott selbst wieder aufgehoben werden, wobei die aufgehobenen Verse meist wei¬

ter Bestandteil des Koranischen Textes blieben. Sie waren nur nicht mehr als Regelungen gültig. Die Abrogation lässt sich aus dem Koran selbst ableiten, nämlich aus 2:106:

„Wenn wir einen Vers tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir dafür einen besseren oder einen, der ihm gleicht".

Ein Beispiel für einen „aufgehobenen" Vers findet sich in Koran 2:180:

„Wennes bei einem von euch aufs Sterben geht, und wenn er Vermögen hinter- lässt, ist euch vorgeschrieben, in rechtlicher Weise eine letztwillige Verfügung zugunsten der Eltern und der nächsten Verwandten zu treffen."

39 Kinberg 1988, S. 153. Nach Kinberg werden verschiedentlich muhkamät-Verse als grundlegende Befehle gesehen, die die Religiosität widerspiegelten, während die mutasäbihät-Verse die praktischen Aspekte, die Ausführungsbestimmungen des Rituals konkretisierten.

40 Siehe oben. Es handelt sich um dasselbe Beispiel Mäwardis: mutasäbih würde dem¬

nach mugmal entsprechen. Vgl. dazu Kinberg 1988, S. 153, 155. Zu Zamahsarïs Inter¬

pretation dieses Antonyms s. Goldziher 1920, S. 124fT.: Demnach sind muhkam solche Verse, deren Ausdrücke in sicherer Weise verstanden werden könnten und keine andere Auslegung zuließen, während mutasäbihät-Verse solche seien, die mehrerlei Erklärungen

ertrügen. Man habe im Koran nach entsprechenden muhkam-Versen zu suchen, die die mutasäbihät erklärten. Hier unterscheidet sich Zamahsarï also von Mâwardï.

Den Sinn der mutasäbihät erklärt er hingegen ähnlich wie Mâwardï: Die Menschen hätten, wären alle Verse muhkam, sich mit Leichtigkeit an den schlichten Sinn gehalten und nicht die nötige Forschung ausgeführt. Es habe in Gottes Plan gelegen, durch solche problematische Rede den Glauben, die Erkenntnis und das Streben nach Wahrheit zu fördern.

41 John Burton: „Naskh." In: EI2VII, S. 1099f.; s.a. Powers 1988.

42 Die Kenntnis der Abrogation wurde als essentiell für die Exegese des Korans be¬

trachtet, s. Powers 1988, S. 123.

(12)

Aufgehoben wurde diese Verfügung durch Koran 4:11, worin genaue Erb¬

teile festgelegt wurden.

Mäwardi definiert die Abrogierung als das Aufheben einer Regel in der Offenbarung bzw. im offenbarten Recht (sar), nicht aber in der Vernunft (düna l- caql) (AQ I, S. 333, A. 693). Denn das Diktat der Vernunft - so argu¬

mentiert er - könne nicht durch die Offenbarung bzw. das offenbarte Recht (sar) oder durch die Vernunft selbst aufgehoben werden. Was also - so hat man diese Aussage zu verstehen - einmal offenbart wurde, ist mit der Ver¬

nunft vereinbar, es kann nur als Regelung außer Kraft gesetzt werden. Her¬

vorzuheben hier ist die Phrase: Vernunft kann nicht durch Offenbarung/

offenbartes Recht (sar ) aufgehoben werden.

Die eingangs genannten prinzipiellen Überlegungen zur Textinterpreta¬

tion sowie die sechs Antonyme bilden Mäwardis methodisches Instru¬

mentarium für eine detaillierte sprachliche und inhaltliche Analyse des Koranischen Textes und seiner Auslegung auf der Grundlage allgemei¬

ner theoretischer Vorbedingungen. Regelungen können als allgemeine bzw. spezifische Regelungen ganz formal nach Anzahl erkannt werden

(1. Kategorie); sie können als erklärt (mufassar ) oder erklärungsbedürftig (mugmal, 2. Kategorie) eingestuft werden, wobei die Erklärungsbedürftig¬

keit (v.a. im Sinne ritueller Ausführungsbestimmungen) entweder durch Wissenschaftler, die mittels igtihäd nach cilm streben, beantwortet werden kann, oder durch die Tradition (sam) vorgegeben ist. Neben absolut gülti¬

gen Versen stehen solche mit durch einen Zustand, ein Merkmal oder eine Bedingung eingeschränkter Gültigkeit (3. Kategorie), mit einer positiven

oder negativen Formulierung (4. Kategorie), es gibt eindeutige (muhkamät) und mehrdeutige (mutas äbihät) Verse (5. Kategorie), letztere entziehen sich der Interpretation, und weiterhin hat der Exeget darauf zu achten, ob es sich um einen aufhebenden oder aufgehobenen Vers handelt (6. Kategorie).

Eine Klassifizierung der Verse unter diese Kategorien unter den genannten Voraussetzungen der Kenntnis der arabischen Sprache und der Vernunft und

dem Einsatz des igtihäd ermöglicht die Exegese des Korans.

(13)

III. Analyse der koranischen Hermeneutik Mâwardïs unter wissenschaftlich-theologischem und

politisch-gesellschaftlichem Aspekt

Vorbehaltlich einer eingehenden Analyse Mâwardïs juristischer und theolo¬

gischer Axiome, Argumentationsstrukturen, methodischer Ansätze und in¬

haltlicher Bekenntnisse sowie auch der inhaltlichen Kohärenz der Konzepte innerhalb seiner verschiedenen Werke kann eine Analyse der Hermeneutik Mâwardïs aufschlussreiche Aussagen zu seiner Position im wissenschaftlich¬

theologischen Diskurs und damit verbunden zu seiner gesellschaftlich¬

politischen Position liefern.

Drei Begriffe prägen Mâwardïs Ringen um den methodischen Zugang zu dem Koranischen Text: die Vernunft ( caql), die eigenständige Forschung bzw. die eigenständige Textinterpretation (igtihäd) und das Wissen ( cilm).

Alle drei Begriffe sollen im Folgenden nur vor dem textlichen Hintergrund von Mâwardïs Koranischer Hermeneutik analysiert werden.

Die Vernunft ( caql)

Vernunft, neben der Kenntnis der arabischen Sprache, ist für Mâwardï die grundlegende Voraussetzung für den Zugang zu den Wurzeln der Offenba¬

rung bzw. des offenbarten Rechts (usülas-sar) ( AQ I, S. 274f., A. 452, 455).

Die Offenbarung stimme mit der Vernunft überein (AQ I, S. 275, A. 453), Beweismittel der Vernunft gingen über die Beweismittel der Tradition hinaus (AQ I, S. 275, A. 454), und eine Regel könne wohl im offenbarten Recht, nicht aber in der Vernunft aufgehoben werden (AQ I, S. 333, A. 693),

argumentiert er.

Vernunft ( caql) ist im Rahmen des theologischen Diskurses oft im Zu¬

sammenhang mit der mutazilitischen Theologie untersucht worden. Die Mutaziliten können insofern als Rationalisten gelten, als sie davon aus¬

gingen, dass bestimmte Wahrnehmungen - auch und gerade für die Zeit vor der Offenbarung - dem Menschen auf der Grundlage der Vernunft

allein zugänglich seien. 43 Gott habe, so argumentierte man in den Reihen der Mutazila, den Menschen zwei Geschenke gemacht: die Vernunft und die Offenbarung. Da beide von Gott gegeben seien, könne es in der Offen¬

barung nichts geben, was der Vernunft widerspräche. 44

43 Gimaret 1992. Die Vernunft spielt natürlich auch beim Gottesbeweis etc. eine Rolle, jedoch werden solch weitergehende Themen von Mâwardï gar nicht in diesem Text angeschnitten.

44 Gimaret 1992.

(14)

Bei Mâwardï findet man diesen letzten Satz wörtlich (AQ I, S. 275, A. 453), wobei allerdings die darüber hinausgehende Implikation einer

übergeordneten, weil auch zeitlich vorausgehenden Instanz der Vernunft nicht explizit aus seinem Text abzuleiten ist.

Sehr wohl postuliert er aber, dass Beweise der Vernunft über die Beweise der Tradition hinausgingen (AQ I, S. 275, A. 454) und dass eine Regel in der Offenbarung, jedoch nicht in der Vernunft aufgehoben werden könne (AQ I, S. 333, A. 693).

Mikhail bestätigt auf der Grundlage der Auswertung von Mäwardis Abhandlung über das Prophetentum die Rolle, die die Vernunft in der Ar¬

gumentation Mäwardis spielt, und kommt zu folgendem Schluss:

„He begins asserting that reason is the basis of all knowledge, but in fact if we are to follow his argument closely we find out that all he is sayingis that reason

is the basisof all proofs." 45

Mâwardï argumentiert in der Hermeneutik, dass Beweise der Vernunft über Beweise der Tradition hinausgingen (AQ I, S. 275, A. 454).

Die Betonung der Vernunft ( caql) im Gegensatz zur Tradition (naql) ist nun zwar Kernpunkt der mutazilitischen Lehre, jedoch kaum deren alleiniges Kennzeichen. 46 Goldziher bezeichnet die Vernunft als Quelle der religiösen Erkenntnisse als Prüfstein der religiösen Wahrheit, als einen Grundsatz, den zuerst die Mutazila in die islamische Religionsbetrachtung eingeführt habe, zu dessen Berücksichtigung sich mit der Zeit aber auch die Vermittler in der as'aritischen Gegenpartei hätten bequemen müssen. 47

Im vorliegenden Text wird weder das Hauptthema mutazilitischer Dogmatik, die Geschaffenheit des Korans, thematisiert (es geht Mâwardï um einen pragmatischen methodischen Zugang zum Text), noch die ethi¬

schen Grundlagen der Mutazila, also die Frage der Erkenntnis guter und schlechter Handlungen durch das Subjekt selbst, welche Gimaret als eines der prägnanten Kriterien zur Unterscheidung der Mutazila von anderen theologischen Gruppen in dieser Zeit, v. a. der As'arïya, anführt. 48 Auch an¬

dere mutazilitische Positionen wie die Ablehnung grob anthropomorpher Gottesauffassungen und die daraus resultierende allegorische Auslegung der entsprechenden Koranstellen, sucht man vergebens. Mâwardï musste sich ja bei der Ausarbeitung seiner Hermeneutik gerade nicht um die Exegese einzelner Koranverse bemühen, sondern wollte abstrahierend ein methodi-

Mikhail 1995, S. 7.

Vgl. Zamahsarïs Position dazu in Goldziher 1920, S. 136f.

Goldziher 1920, S. 136.

Gimaret 1992.

(15)

sches Gerüst für eine Hermeneutik entwickeln, die an praktisch-rechtlichen Erfordernissen ausgerichtet ist.

Allerdings: Der Unterschied zu dem eingangs genannten traditionsge- stützten Kommentar des Tabarï lässt sich an dieser methodischen Grundlage der Exegese, der Rolle der Vernunft bzw. Tradition festmachen: Während Tabarï sich auf die Tradition (naql) konzentriert, die Uberlieferung von den Prophetengenossen als alleinige Erkenntnisgrundlage geltend machen will, macht Mäwardi die Vernunft ( caql) zur Grundlage seiner Exegese, wobei er offenbar so weit geht, sie der Tradition überzuordnen.

Dennoch ist dieser Befund bei Mäwardi nicht durchgängig. Im Falle der mugmal-Verse, der erklärungsbedürftigen Verse, hatte Mäwardi neben den igtihäd, die Geistesanstrengung für die Lösung eines Problems, sarn ge¬

stellt: den terminus technicus für den ohne Rücksicht auf Vernunftgründe schuldigen Gehorsam gegenüber dem, was im Text anbefohlen ist (AQ I, S. 297, A. 540). Auch mehrdeutige (mutasäbih, AQ I, S. 323, A. 663) Verse enthielten Aussagen, die der Vernunft nicht zugänglich seien, wie z.B. die Anzahl der Gebete. Mäwardi würde deshalb konzedieren, dass nicht alle Koranverse vom menschlichen Verstand begreifbar sind, sondern die Uber¬

lieferung in bestimmten Lücken - z.B. den Ausführungsbestimmungen des Rituals - hinzugezogen werden muss. 49

Mäwardis Hermeneutik zeigt hier Parallelen zu der des bekennenden Mutaziliten Zamahsarï, der ebenfalls die Vernunft neben die Tradition als

gleichwertiges Erkenntnismittel gestellt hatte, also sowohl caql als auch naql anerkannt hatte.

Das Wissen ( cilm)

cIlm bedeutet das Wissen von Gott und der Religion. 50 Tabarï hatte unter Wissen, cilm, in seinem Korankommentar solches Wissen verstanden, wel¬

ches auf den Propheten, seine Genossen und Nachfolger zurückgeführt wird und seine ausschließliche Berechtigung betont. In diesem Zusammen¬

hang wäre cilm weitgehend als Wissen auf der Grundlage von Traditionen zu verstehen.

Bei Mäwardi hat der Begriff eine andere Konnotation. Im Zusammen¬

hang mit der Kategorie des mugmal-Ver ses, des erklärungsbedürftigen

49 Vgl. Gimaret 1992, S. 792: demnach könnten einige Vorschriften der Offenbarung sogar als Gegensatz zur Vernunft gesehen werden, z.B. die Anstrengungen des Gebets, sind jedoch einsichtig, wenn das größere Übel der Bestrafung derjenigen, die nicht ge¬

horchen, in Betracht gezogen wird.

50 Siehe „Tim." In: EI 2III, S. 1133f.

(16)

Verses, erklärt Mâwardï den Sinn solcher Verse in der Bevorzugung der¬

jenigen Leute, welche über cilm verfügen und in der Belohnung für ihre Ableitung, sprich: ihre intellektuelle Mühe und deren Erfolg (AQ I, S.291, A. 526). Die Methode, solches Wissen zu erlangen, besteht im sogleich noch

zu behandelnden igtihäd. Die Verse werden also geradezu als Anreiz für die geistige Anstrengung der Menschen bewertet.

An anderer Stelle wird diese Interpretation von cilm bestätigt, indem Mâwardï Beweise der Vernunft als dominant über die Beweise der Tradition (sam c) definiert und sie zum Wissen der Beweisführung führen lässt (AQ I, S. 275, A. 454).

Der igtihäd

Einer der sicher schwierigsten, weil vielschichtigsten Begriffe der Rechts¬

theorie dürfte der des igtihäd sein. 51 In der Sekundärliteratur wird darauf verwiesen, dass Mâwardï dem igtihäd Hochachtung gezollt habe, 52 und dies in einer Zeit, in welcher nach Schacht das „Tor des igtihäd" geschlossen worden war. 53

Die Interpretation bezieht sich hier auf Mâwardïs dezidierte Ablehnung des taqlïd, bevor er die Notwendigkeit, die Quellen des Rechts zu unter¬

suchen, unterstreicht (AQ I, S. 269ff., A. 433ff.) 54

Auffällig ist, dass er an dieser Stelle den taqlïd nur gegenüber dem Pro¬

pheten akzeptiert, ihn aber für die Prophetengenossen und Nachfolger strikt ablehnt. Demnach ist also igtihäd, eigenständige Erforschung der Quellen, zu betreiben (AQ I, S. 269, A. 433f.), bzw. wenigstens keine unhinterfragte Übernahme (taqlïd) zu praktizieren. Dieselbe ist nur gegenüber dem Pro¬

pheten erlaubt.

Die Analyse der mugmal-Verse kann nach Mâwardï durch igtihäd (AQ I, S. 294, A. 538) erfolgen, oder durch sam (AQ I, S. 297, A. 540ff.), das Hören, d.h. durch den Rückgriff auf die Texte. Beide Begriffe müssen

51 Joseph Schacht/Duncan Black Macdonald: „IdjtihäcL" In: EI 2III, S. 1026f.

52 Laoust 1968, S.24; s.aber auch Schneider 1990, S. 205.

53 Schacht 1982, S. 69fT.; dies wurde von Watt 1974 und Hallaq 1986 einge¬

schränkt. Tatsächlich ist sowohl auf rechtsschulspezifische Verwendung des Terminus zu achten als auch auf den Gebrauch auf verschiedenen Ebenen. Der Begriff des igtihäd erfuhr bestimmte Einschränkungen formaler und inhaltlicher Art, s.a. Schneider 1990,

S. 202ff., 215.

54 Ein deutlich eingeschränkter igtihäd-Begrift wird von Mâwardï im Zusammenhang seiner Erörterung des qiyäs vertreten, s. AQ II, S. 488fî., A. 1101 ff.Demnach ist igtihäd eine Vorbedingung des qiyäs, der qiyäs bedarf des igtihäd, nicht jedoch der igtihäd des qiyäs. Siehe auch Schneider 1990, S. 205ff. Eine ausführliche Untersuchung des igtihäd- Begriffs bei Mâwardï wäre wünschenswert.

(17)

deshalb komplementär gesehen werden: auf der einen Seite Wissen, welches auf der Grundlage des igtihäd, der unabhängigen Forschung (aber immer auf Textgrundlage!), mit der Voraussetzung des caql erworben wurde, auf der anderen Seite Wissen durch den Rückgriff auf die Tradition, sarn. Auch der Mutazilit Zamahsarï hatte sich explizit als ein Verfechter des igtihäds bezeichnet und Traditionen keinen hohen Wert beigemessen.

Mäwardi lässt seine Leser darüber im Unklaren, welchen prozentualen Anteil sarn bzw. igtihäd seiner Meinung nach haben, wie die Auswahl der

jeweiligen Methode zu begründen ist etc. Abzuleiten ist jedoch, dass igtihäd in diesem Fall als das methodische Instrumentarium gesehen wird, mit dem man cilm, Wissen erlangen kann.

Mäwardis Interpretation der drei Termini caql, igtihäd und cilm in seiner Hermeneutik des Koran zeigt somit eine ausgesprochen vernunftorientierte Methodik: Voraussetzung (neben der Sprache) zur Erfassung der Grund¬

lagen der Offenbarung bzw. des offenbarten Rechts ist caql, der Verstand, methodisches Mittel ist igtihäd, die eigenständige Textinterpretation, Er¬

kenntnisziel ist cilm, das Wissen, das auf dieser Basis gewonnen wird, und klar von sarn, dem Wissen auf der Grundlage der Tradition, unterschieden wird bzw. demselben übergeordnet ist. Den Beweisen, welche auf der Basis

der Vernunft gewonnen werden, wird Priorität gegenüber den Beweisen, die auf der Basis der Tradition gewonnen werden, gegeben.

Mikhail hat diese Betonung der Vernunft bei der Argumentation als Hinweis auf eine eventuelle Mutazila-Anhängerschaft Mäwardis diskutiert.

Unter den anderen Biographen Mäwardis wurde dieser Verdacht anderwei¬

tig begründet:

- Yäqüt (st. 626/1229) 55berichtete, Mäwardi sei ein Säfi cit im positiven Recht (furu) gewesen und ein Mutazilit in den usül, fügt jedoch vor¬

sichtshalber ein „Gott allein weiß es" an.

- Ibn as-Saläh (st. 651/1254) 56 bestätigte, dass man schon vor seiner Zeit einen entsprechenden Verdacht gehegt habe, ja, dass er, Ibn as-Saläh dieser Beschuldigung zunächst nicht habe glauben wollen und davon ausgegangen sei, dass Mäwardi nur die Interpretationen möglichst komplett habe sammeln wollen. Dann habe er aber doch in Mäwardis Korankommentar Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Mäwardi ent¬

sprechende Auslegungen favorisiere. 57Und dies sei schädlich. Es sei aber die Formulierung eines Mannes, der nicht offen seine Anhängerschaft

55 Yäqüt: Irsäd V, S. 407; zu seiner Person s. Blanchere: „Yäküt." In:EI 1IV, S. 1247f.

56 Tadeusz Lewicki: „Ibn al-Saläh." In: EI 2III, S. 927.

57 Subkï: Tabaqät, III, S. 303; Dahabï: Siyar, XVIII, S. 64f.

(18)

für die Mutazila zu erkennen gebe, sondern sie zu verbergen suche.

Auch sei er kein ganzer Mutazilit (mutazilïyan mutlaqan), denn er stimme nicht allen Prinzipien (usül), z.B. der Erschaffung des Korans, zu. Wohl stimme er aber mit ihnen bezüglich des qadar überein 58 und das sei ein Unglück.

Eine kurze Uberprüfung anhand des gedruckten Textes (der sich natürlich von der handschriftlichen Vorlage Ibn as-Saläh's unterschieden haben kann) zu den angesprochenen Versen 6:112 und 54:49 ergibt hierin kein klares Bild. 59

Es hat also in der biographischen Literatur ca. zweihundert Jahre nach Mäwardi, vielleicht auch schon vorher, vage Verdächtigungen gegeben, Mäwardi, bekannt als loyaler Staatsdiener auf politischer und wissenschaft¬

licher Ebene und Verfasser des bedeutendsten verfassungsrechtlichen Werks seiner Zeit könne der staatlich diskreditierten Mutazila angehört haben.

Es gibt in den Quellen jedoch keinen Hinweis darauf, dass dieser Ver¬

dacht, schon zu Lebzeiten gegen Mäwardi geäußert worden wäre. Die enge Verbundenheit Mäwardis mit dem um die Etablierung einer sunnitischen

Orthodoxie bemühten Kalifat spricht zunächst einmal gegen eine solche Anhängerschaft. Auch schränken sowohl Ibn as-Saläh als auch Yäqüt ihre Aussagen ein.

Dennoch hat die Frage, ob Mäwardi denn nun Mutazilit oder nicht gewesen sei, bis in die moderne Mäwardi-Forschung hinein die Gemüter beschäftigt. Kontradiktorische Positionen formierten sich. Man insistierte entweder auf einer Einordnung Mäwardis als Mutazilit oder glaubte, ihn von einem solchen Verdacht exkulpieren zu müssen:

- Brockelmann 60 verwies summarisch auf Beschuldigungen der Ortho¬

doxie, denen Mäwardi nicht entgangen sei.

58 Siehe hier die entsprechende Überlieferung von Ibn as-Salah bei Dahabi: Siyar, XVIII, S. 67.

59 Die Auslegung des Koranverses 6:112 „So haben wir für jeden Propheten (gewisse) Feinde bestimmt (gaalnä) ..." bzw. für gaalnä lautet im Nukat: 1) „wir urteilen, dass sie Feinde sind" und 2) „wir lassen sie in der Feindschaft und halten sie nicht davon ab". Der Hrsg. merkt an, dies sei eine muctazilitische Position (Anm. 166, Nukat II, 158). Damit soll offenbar die Eigenverantwortlichkeit des Menschen bzw. die göttliche Gnade und Gerechtigkeit betont werden. Vgl. dazu Goldziher 1920, S. 130: demnach wurde gaala in diesem Vers von Muctaziliten als „klar machen, bekannt machen" verstanden. Dies sagt Mäwardi jedoch nicht an dieser Stelle. Selbst wenn Mäwardi mit dieser Auslegung - die er zwar anführt, zu der er sich aber nicht klar selbst bekennt - dem Menschen mehr

Handlungsspielraum gewähren wollte, erscheint es schwierig, hieraus eine Anhänger¬

schaft an die Muctazila abzuleiten.

60 Brockelmann 1991.

(19)

- Goldziher glaubte dagegen, Mäwardi „unbedenklich" der Mutaziliten- schule zuordnen zu können, schränkt aber ein: „... deren rechten, der Orthodoxie am nächsten stehenden Flügel er vertritt." 61 Seine Quellen¬

grundlage ist wieder Ibn as-Saläh, daneben verweist er auch auf Mäwardis Abhandlung zum Prophetentum. Goldziher bleibt letzt¬

endlich den Beweis für seine „Anschuldigung" allerdings schuldig.

- Mikhail hat sich - allerdings auch nur auf wenigen Seiten - mit der Thematik auseinandergesetzt. Seine Untersuchung konzentriert sich

auf Mäwardis Schrift zum Prophetentum, welche auch Goldziher angeführt hatte. Mikhail verwies auf die formale Rationalität seiner Argumente 62 und kam nach einer Analyse der Beweisführung zu dem

Schluss:

„In the light of the above discussion it is now possible to ascertain Mâwardï's exact theological position. He has been described by some as a

Mu ctazilite, and by others as an Ash carite. In fact he was neither ... he was an independent thinker ..." 63

Zugleich bezeichnete er ihn als einen rationalistischen Theologen, der eine Überlappung der Bereiche von Offenbarung und Vernunft propa¬

giere und keinen Widerspruch zwischen beiden konstatieren könne. 64 An anderer Stelle bewertete er Mäwardi als einen „harmonizer", der

sich von polemischen Attacken ferngehalten habe. 65

Die für eine mutazilitische Neigung Mäwardis vorgebrachten Argumente können folgendermaßen zusammengefasst werden:

- Mäwardi hat sich in seinen theologischen (Goldziher, Mikhail) und - wie hier gezeigt - auch in seinen juristischen Schriften bzw. in der Hermeneutik des Korans - eines auffallend stark auf die Vernunft rekurrierenden Argumentationsstils bedient, wobei er die Beweise der Tradition zwar nicht völlig negierte, jedoch denen der Vernunft unter¬

ordnete.

- Weiterhin hat er in seinem Korankommentar - nach Ibn as-Saläh - Inter¬

pretationen der Mutazila zumindest dargeboten, nach Ibn as-Saläh's Verständnis sogar vertreten.

61 Goldziher 1920, S. 143;s.a. Goldziher 1912, S. 217.

62 Mikhail 1995, S. 70, Anm. 28.

63 Mikhail 1995, S. lOf.

64 Mikhail 1995, S. 11.

65 Mikhail 1995, S. 18f., schreibt: „Even though Mäwardi as a Shäf?ite accepts Qur'än, tradition, consensus and analogy as the principles for deduction of the Law, he, unlike Ash carites and Traditionalists, does not divorce the Law from reason, but holds that agreement with reason is a condition of the validity of the Law."

(20)

- Zugleich wurde ihm von Ibn as-Saläh, Yäqüt und Goldziher zu¬

gestanden, nur ein „eingeschränkter" Mutazilit gewesen zu sein, weil er sich nicht zur Erschaffung des Korans bekannt habe (Ibn as-Saläh) bzw. dem sarn Gleichwertigkeit gegenüber dem caql (Goldziher) ein¬

geräumt habe, wobei in der vorliegenden Untersuchung durchaus ein Ubergewicht des caql gegenüber naql herausgearbeitet worden war.

Die Einordnung Mäwardis als Mutazilit oder als zu Unrecht eines solchen Bekenntnisses Verdächtigter erscheint für eine politisch-gesellschaftliche

ebenso wie wissenschaftliche Positionsbestimmung Mäwardis in seiner Zeit allerdings wenig hilfreich. Mäwardis Position muss vor dem geschilderten politisch-gesellschaftlichen Hintergrund aus seinen wissenschaftlichen Werken herausgearbeitet werden. Er war ein Mann der Öffentlichkeit und

der Politik, er hatte enge Verbindung zu einer Staatsmacht, die gerade dabei war, die später als orthodox deklarierten Glaubensgrundsätze in klarer Ab¬

grenzung von mutazilitischem und anderem Gedankengut zu formulieren.

Mäwardi war ein loyaler Anhänger des Kalifen, dies hat er hinlänglich in seinem staatsrechtlichen Werk bewiesen. Er hätte ohnehin nie ein offenes Bekenntnis zur Mutazila ablegen können. 66 Es ist deshalb sinnvoller davon auszugehen, dass mutazilitisches Gedankengut im Bagdad jener Zeit un¬

terschwellig präsent war, 67 dass es bereits Eingang in die sich formierenden orthodoxen Diskussionszirkel gefunden hatte.

Herauszufinden, was Ibn as-Saläh und Yäqüt und in ihrer Nachfolge Goldziher zu einer solchen Zuordnung veranlasste, ist dabei nur die eine Frage. Wichtiger erscheint es zu untersuchen, wie Mäwardis methodischer Ansatz vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Diskurses und der po¬

litischen Situation seiner Zeit, vor dem Zeitgeist, zu interpretieren ist.

Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass gerade in der Erkenntnislehre der Theologie jener Zeit eine nahezu ungebrochene Kontinuität des Rationa¬

lismus erkennbar ist. 68 Makdisi hat in seiner Studie über den - ebenfalls mutazilitischer Positionen beschuldigten - Ibn cAqïl das 4./11.Jh. wie folgt beschrieben:

„The eleventh century in Baghdad, cosmopolitan centre of culture of the Islamic world, is a Traditionalist century of great importance for the political and re¬

ligious history of classical Islam, as wellas for its institutional and intellectual history ... The triumphant Traditionalism of eleventh-century Baghdad was not itself without a significant contribution from Islamic Rationalist thought. A

Siehe auch Mikhail 1995, S. 71,Anm. 53.

Laoust 1968, S. 62.

Van Ess 1966, S. 25.

(21)

secure place for reason had to be made in the make-up of Traditionalism; rea¬

son had to be accepted asa genuine constituent element of its composition." 69 In seinem Artikel weist Makdisi überzeugend nach, dass zwar Säfi ci in seinem methodischen Grundwerk, der Risäla, den kaläm, die Methodik der Mutazila, abgelehnt hatte, dass jedoch in den meisten Rechtswerken auch der säfi citischen Rechtsschule des 3./10. und 4./11. Jh. eine Auseinander¬

setzung mit dem kaläm und mit der Rechtsphilosophie stattgefunden hat. 70 Der Charakter der usül-^Werke habe sich, so Makdisi, in jener Zeit grundlegend geändert, er sei nicht mehr rein traditionalistisch gewesen, sondern „kontaminiert" mit rationalen Argumentationsstrukturen und Beweisführungen. 71 Rechtswissenschaft und positives Recht hätten sich vermischt und seien ineinander geflossen mit theologischen Denkrichtun¬

gen (usülad-dtn, kaläm). 72 Seit dem späten 3./10. Jh. fänden sich auch in den usül al-fiqh-Werken traditionalistischer Autoren Erörterungen über kaläm und Rechtsphilosophie. 73

Als Beispiele nennt er 74 u.a. die Beziehung zwischen Vernunft und Tradition und Verbot und Erlaubnis. Als ein „Einfallstor" solcher kaläm- Themen in die usül al-fiqh-Literatur sieht Makdisi die Rechtsphilosophie,

grundlegend hier vor allem das von Mäwardi ja auch aufgegriffene Thema der Rolle der Vernunft bzw. Tradition bei der Exegese. 75

Mäwardis Hermeneutik des Koran findet sich aber nun interessanter¬

weise gerade in seinem Rechts-Werk al-Häwl al-kabir. Mäwardi selbst war SäfTit. Damit fügt sich Mäwardis methodischer Ansatz in die von Makdisi festgestellte Neigung zur Verwendung der Vernunft in der Argumentation der säfTitischen usül al-fiqh -Literatur nahtlos ein. Sein stark vernunftbeton¬

ter Ansatz ist also keineswegs so überraschend, wie er zunächst z.B. im Ver¬

gleich mit traditionsgebundenen Korankommentaren erscheint. 76 Betrachtet

69 Makdisi 1997,S. 257.

70 Nach Makdisi 1984, S. 16,istdie Abhandlung des Themas der Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung (al-caql wa-s-sar c) im allgemeinen kein Thema des Rechts bzw.

der Rechtstheorie (usül al-fiqh), findet sich jedoch ab einem bestimmten Zeitpunkt in die¬

ser Literatur, vgl. ibid., S. 44: Im Zusammenhang mit der Frage nach der Beurteilung der menschlichen Handlungen vor der göttlichen Offenbarung stellten sich die Mutaziliten auf den Standpunkt, Gott habe, bevorer uns das Geschenk der Offenbarung gemacht habe, den Menschen die Vernunft gegeben: „There could therefore be nothing in right reason that would contradict revelation, since they both came from the same divine source."

71 Makdisi 1984, S. 12f., 16.

72 Makdisi 1984, S.44f.

73 Makdisi 1984, S.46.

74 Makdisi 1984, S. 16.

75 Makdisi 1984, S.44.

76 Mikhail 1995, S.U.

(22)

man seine Hermeneutik vor dem Hintergrund der Rechtsliteratur der säfTitischen Rechtsschule, gehört sie sogar, im Gegenteil, in den mainstream

säfi cirischer rechtstheoretischer Literatur. Sie ist Bestandteil des zu dieser Zeit gepflegten wissenschaftlich-theologisch-rechtlichen Diskurses.

Vor dem Hintergrund dieses Diskurses und der politischen Situation, welche das öffentliche Vertreten mutazilitischer (aber auch as'aritischer!) Positionen verbot, sie im privaten Rahmen jedoch offenbar duldete, 77 ist Mäwardis wissenschaftliche Position offenbar getrennt von seinen politi¬

schen Ambitionen und seiner exponierten offiziellen Position als Richter und Diplomat zu sehen. Mäwardis rationalistische Orientierung im wis¬

senschaftlichen Diskurs seiner Zeit war demnach auf politischer Ebene in seiner eigenen Zeit offenbar irrelevant, solange er sich nicht offen zur Mutazila bekannte bzw. öffentlich beschuldigt wurde, eine solche Position zu vertreten. Nur für spätere Biographen wie Ibn as-Saläh, der als ein großer hadtt-Kenner und Verfasser eines Buchs zur Überlieferungsgeschichte der Traditionen sicher zu den Traditionalisten gezählt werden muss, eröffneten

sich in der Retrospektive Probleme bei der Analyse und Einordnung von Mäwardis Werken. Seine kritische Haltung gegenüber der Mutazila hat Ibn as-Saläh auf Mäwardi zurückprojiziert und dabei abgetrennt sowohl vom allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs jener Zeit als auch von den religi¬

onspolitischen Praktiken gesehen.

Literatur

Brockelmann, Carl: „Mäwardi." In: EI2VI (1991), S. 869.

ad-Dahabï, Samsaddïn: Siyar aläm an-nubala. Ed. S. al-Arna'üt u.a. Bde 1-23.

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Gimaret, Daniel: „Mutazila." In: EI 2VII (1992), S. 783-793.

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Goldfeld, Y.: "The Development of Theory on Qur'änic Exegesis in Islamic Scholarship." In: SI 67 (1988), S. 5-27.

77 Makdisi 1997, S. 41: Ibn cAqïl, ein Hanbalit und Traditionalist, ebenfalls u.a.

mu ctazilitischer Neigungen verdächtigt, war angeklagt worden und musste schließlich im Jahr 1072 seinen Widerruf unterzeichnen. Die Anklage ging allerdings nicht von staatli¬

cher Seite aus! Makdisi verweist darauf, dass die damalige regierende Macht keinen der zahlreichen und wohlbekannten Mutaziliten in Bagdad verfolgt habe.

Referenzen

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