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Emile Dürkheim und Ferdinand de SaussureEinige Bemerkungen zum Problem sozialer Ordnung1

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Emile Dürkheim und Ferdinand de Saussure

Einige Bemerkungen zum Problem sozialer O rdnung1

Gerhard Wagner

Universität Heidelberg, Institut für Soziologie, Sandgasse 9, D-6900 Heidelberg 1

Z u s a m m e n f a s s u n g : Im folgenden werden auf der Folie der Soziologie Dürkheims Hinweise für eine Lösung des Problems sozialer Ordnung gegeben, die nicht auf überkommene metaphysische Entitäten abstellen. Zu diesem Zwecke wird der moralistische Ansatz Dürkheims kritisiert und durch einen auf Saussure zurückgehenden sprachtheo- retischen ersetzt. Dessen gesellschaftstheoretische Eignung wird abschließend anhand eines Vergleichs mit dem Ansatz von Habermas erörtert.

I.

In Emile Dürkheims Werk kommt der Frage, wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist, eine be­

deutende Stellung zu: „The problem of order is Durkheim’s central problem from an early stage“

(Parsons 1968: 307).1 2 Als einer der ersten Theore­

tiker begegnet er diesem Problem auf eine genuin soziologische Art und Weise, die sich deutlich von den Ansätzen Auguste Comtes und Herbert Spen­

cers unterscheidet. In seiner Studie über Montes­

quieu sowie in den Regeln der soziologischen Me­

thode entwickelt Dürkheim einen methodologi­

schen Bezugsrahmen, an dem er seine sämtlichen materialen Untersuchungen orientiert.3 Mit der Definition seines Grundsatzes, „demzufolge die soziologischen Tatbestände wie Dinge behandelt werden sollen“ (Dürkheim 1984: 89, 115), umreißt er den Gegenstandsbereich seiner Soziologie. Zu­

gleich immunisiert er diese positive Welt sozialer Sachverhalte in methodischer Hinsicht gegenüber den Ansprüchen der Nachbardisziplinen Psycholo­

gie und Ökonomie, denn fait sociaux sollen fürder­

hin nur noch durch fait sociaux erklärt werden:

„Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands muß in den sozialen Phänomenen, die

1 Für Anregungen und Kritik danke ich Hans-Peter Mül­

ler, Guy Oakes, Wolfgang Schluchter, Michael Schmid und - last but not least - Heinz Zipprian.

2 Vgl. hierzu auch Müller/Schmid (1988: 481). Eine ge­

genteilige Auffassung vertritt Giddens (1976: 706ff).

3 Auf die Plausibilität von Dürkheims Methodologie so­

wie auf die Kritik, die daran - zumeist von individuali­

stischer Seite (vgl. z. B. Halevy 1972: 504f) - geübt wurde, gehe ich im folgenden nicht ein, sondern mache mir für die Belange dieser Arbeit Dürkheims Bezugs­

rahmen zu eigen.

ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zustän­

den des individuellen Bewußtseins gesucht wer­

den“ (Dürkheim 1984: 193). Dürkheim (1984: 205) zufolge besteht die soziologische Erklärung aus­

schließlich darin, „Kausalitätsbeziehungen aufzu­

stellen, handele es sich nun darum, ein Phänomen mit seiner Ursache zu verknüpfen oder im Gegen­

teil eine Ursache mit ihren entsprechenden Wir­

kungen.“ Dies gilt natürlich auch für das Phäno­

men der sozialen Ordnung, dem Dürkheim in sei­

ner Untersuchung Über soziale Arbeitsteilung nachspürt. Bei seiner Suche nach den kausalen Determinanten sozialer Ordnung spezifiziert er die Problemstellung insofern, als er ausschließlich das soziale Band unter den Individuen, „aus denen die Gesellschaft gebildet ist“ (Dürkheim 1984: 186), als Explanandum behandelt. In der Arbeitsteilung nennt Dürkheim das vinculum sociale Solidarität und weist ausdrücklich darauf hin, daß es sich bei ihr um eine soziale Tatsache handele (Dürkheim 1988: 114). Dabei unterscheidet er zwischen zwei Typen von Solidarität „sui generis“ (Dürkheim 1988: 156, 433), die er exklusiv verstanden wissen will, und die er als mechanische und organische Solidarität (MS/OS) bezeichnet. Seiner dichotomi- schen Logik folgend, soll jene für die Ordnung einfacher, diese für die moderner Gesellschaften (EG/MG) charakteristisch sein. Als Ursache me­

chanischer Solidarität benennt Dürkheim ein in den Ähnlichkeiten der Gesellschaftsglieder sich repräsentierendes moralisches Kollektivbewußt­

sein (MKB), als Explanans der organischen Solida­

rität jenes für moderne Gesellschaften charakteri­

stische Strukturprinzip, das sich in den Unter­

schiedlichkeiten zwischen den Individuen offen­

bart und das er mit dem Begriff der Arbeitsteilung (AT) umschreibt (Dürkheim 1988: 83ff). In An­

lehnung an die formale, modelltheoretische Dar­

stellung von Müller (1983: 129) sowie von Müller/

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14 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, Heft 1, Februar 1990, S. 1 3 -2 5

Schmid (1988: 512) läßt sich demzufolge formu­

lieren:

E G -M K B -M S M G -A T -O S

Diese Differenzierung Dürkheims sowie sein da­

mit einhergehender Erklärungsversuch gehören ohne Zweifel zum klassischen Inventarium der theoretischen Soziologie und werden seit nunmehr fast einhundert Jahren kontrovers diskutiert. Kon­

sens scheint in der Sekundärliteratur mittlerweile jedoch darin zu bestehen, daß es Dürkheim mit seinem Hinweis auf das moralische Kollektivbe­

wußtsein zwar gelingt, bleibende Einsichten über das Wesen sozialer Ordnung in einfachen Gesell­

schaften zu vermitteln (Tyrell 1985: 193; Pope/

Johnson 1983: 687), daß er aber an dem Problem, die „Andersheit des andern“ (Luhmann 1988: 22) als die „hauptsächlichste Quelle der sozialen Soli­

darität“ (Dürkheim 1988: 109) in der Moderne auszuweisen, definitiv scheitert. In immer neuen Anläufen einer strengen Beweisführung, die das ordnungskonstitutive Moment „der Arbeitsteilung belegen und sogar als notwendig ausweisen sollen, verwickelt sich Dürkheim in die hoffnungslosesten Widersprüche; von der organischen Solidarität er­

fährt man letztlich nicht, was sie ist und wie sie beschaffen ist oder wie sie zustandekommt: als eine Mischung aus Postulat und Utopie stellt sie die entscheidende Schwachstelle des gerade in sei­

nen Widersprüchen faszinierenden Buches über die Arbeitsteilung dar“ (Tyrell 1985: 182). Dürk­

heim sieht sich aus diesem Grunde gezwungen, seinen ursprünglichen Grundgedanken, daß sich soziale Ordnung durch Arbeitsteilung erklären las­

se, aufzugeben und in Analogie zu einfachen auch für moderne Gesellschaften eine „regulierende In­

stanz“ (Tyrell 1985: 222) im Sinne eines morali­

schen Kollektivbewußtseins zu postulieren. Zu Unrecht stelle man demzufolge die Gesellschaft, die aus der Glaubensgemeinschaft kommt, der ar­

beitsteiligen gegenüber. Wie jene verfüge diese über ihre „eigenständige Moralität“ (Dürkheim 1988:285):

M G -M K B -O S

Wenn aber auch die organische Form sozialer Soli­

darität über eine Moral konstituiert werden soll, dann müßte, wie Habermas (1981: 178) klar sieht, ein kausaler Zusammenhang zwischen den Diffe­

renzierungsprozessen in der Moderne und der Ausbildung eines eigenständigen moralischen Kol- lektivbewußtseins bestehen. Für diese These fin­

den sich aber keinerlei empirische Evidenzen. Im Gegenteil, im Zuge der fortschreitenden Aufklä­

rung und des Aufkommens der Marktwirtschaft werden die Formen mechanischer Solidarität zer­

stört, ohne daß sich gleichzeitig neue normative Orientierungen herausbilden, die eine organische Form der Solidarität sichern könnten. Dürkheim selbst sieht die modernen Gesellschaften auf einen Zustand der Anomie zutreiben, den er auf diesel­

ben Differenzierungsprozesse zurückführt, aus de­

nen doch eigentlich eine neue Moral entstehen sollte: „Dieses Resultat bedeutet für Dürkheim zugleich aber den Kollaps seines Glaubens an jene Solidarität sui generis, die die Folge der Arbeitstei­

lung sein soll; es bedeutete das völlige Scheitern des zentralen theoretischen Anliegens des Buches über die Arbeitsteilung“ (Tyrell 1985: 221).

II.

Im Unterschied zur in der Literatur gängigen Re­

zeptionshaltung, die von Dürkheims gelungener Problemlösung hinsichtlich der Erklärung des We­

sens sozialer Ordnung in einfachen Gesellschaften ausgeht, dessen Postulat eines moralischen Kollek­

tivbewußtseins auch für moderne Gesellschaften (Dürkheim 1988: 41 ff) akzeptiert und durch Kon­

zepte wie etwa Zivilreligion oder Lebenswelt theo­

retisch zu legitimieren sucht, soll im folgenden das liegengebliebene Projekt, Solidarität unmittelbar vom Prinzip der Arbeitsteilung her zu erklären, wiederaufgenommen werden. Es ist m. E. eben diese, auf die „Bande, die aus der Arbeitsteilung entstehen“ (Dürkheim 1988: 201), rekurrierende Problemstellung, die letztlich die Kulturbedeut­

samkeit von Dürkheims Dissertation ausmacht und sie zweifellos in den Rang eines Klassikers erhebt4. In Dürkheims dichotomischer Logik spie­

gelt sich nämlich Aufklärung und Säkularisierung insofern, als Dürkheim für die Moderne zunächst kein moralisches Kollektivbewußtsein als fraglos Gegebenes mehr voraussetzen will. In Ermanglung einer derartigen regulierenden Instanz - und ohne ein gleichermaßen metaphysisches Surrogat an de­

ren Stelle zu setzen - soll Dürkheims ursprüngli­

chem Ansatz zufolge die Arbeitsteilung selbst Soli­

darität erzeugen. Dabei ist, was in der Sekundärli­

teratur stets als Unzulänglichkeit gehandelt wird (Tyrell 1985: 183ff), das eigentlich Fruchtbare die­

ser frühen Studie. Die „Generalisierung“ (Luh­

mann 1988: 23) des Begriffs der Arbeitsteilung, dessen Konturen dadurch am Ende völlig zu ver­

4 Zur Handhabung klassischer Texte vgl. Luhmann (1988:19 f).

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schwimmen drohen, zeigt nämlich, daß Dürkheim tatsächlich auf dem Wege war, Solidarität aus der Differenz als solcher heraus zu begreifen, nachdem mit der Aufklärung und dem Historismus jede Annahme einer Ordnung verbürgenden Identität theologischer oder metaphysischer Provenienz ob­

solet geworden war (Schnädelbach 1979). Daß Dürkheim an dieser Problemstellung scheiterte, liegt nun weniger daran, daß er das Prinzip der Arbeitsteilung nur als regulierende Instanz im Sin­

ne eines Kollektivbewußtseins verstehen kann, sondern ist vielmehr die Folge davon, daß er dieses Kollektivbewußtsein ausschließlich moralisch be­

greifen will. Er legt sich von vorneherein auf die Lösung „Moral“ (Luhmann 1988: 28) fest, denn in seinen Augen ist sie „das unentbehrliche Mini­

mum, das streng Notwendige, das tägliche Brot, ohne das die Gesellschaften nicht leben können“

(Dürkheim 1988: 97). So gesehen ist Solidarität, gleichviel ob in ihrer mechanischen oder organi­

schen Form, apriori „ein durch und durch morali­

sches Phänomen“ (Dürkheim 1988: 111)5 und Dürkheims Apologie der Arbeitsteilung deswegen eine „Apologie des moralischen Charakters der Arbeitsteilung (und nur um dieses Charakters wil- len)“ (Tyrell 1985: 190).6

Dürkheim bedenkt scheinbar gar nicht, daß etwas anderes als Moral für Solidarität konstitutiv sein könnte. Weil er aber in diesem Kontext nur in moralischen Kategorien operiert, muß er Prämis­

sen in Anspruch nehmen, die, angewandt auf ein-

5 Nicht deswegen, weil man Solidarität auch im Sinne des Kampfbegriffs der Arbeiterbewegung oder der Re­

formphilosophie der Dritten Republik verstehen könn­

te (Henderson 1905/06; Gülich 1989: 221 ff), ist das Konzept moralisch konnotiert, sondern weil es als ge­

sellschaftstheoretische Kategorie ab ovo mit Moral ver­

quickt ist. Indem Solidarität das soziale Band bezeich­

net, das die Menschen in einfachen wie modernen Gesellschaften verbindet, ist es für Dürkheim bereits ein „genuin moralischer Sachverhalt“ (Tyrell 1985:

182).

6 Vgl. hierzu Tyrell (1985: 191, 232): Wenn der Arbeits­

teilung eine gesellschaftlich-solidarische Bedeutung zu­

kommt, dann muß diese Dürkheim zufolge auch eine moralische sein, ist sie aber moralisch, dann geht es um jenen Zwangscharakter der Gesellschaft, der die ein­

zelnen Willen zügelt und aus den Menschen allererst ein moralisches Wesen macht. Eben hierin besteht der moralische Wert der Arbeitsteilung - womit sich der Kreis schließt: „Auf die Beschwörung und Bestätigung dieses Zirkels ist Dürkheims Apologie der Arbeitstei­

lung gerichtet.“

fache Gesellschaften, prima vista zwar durchaus Plausibilität erheischen, unter säkularisierten Be­

dingungen in der Moderne jedoch weder empirisch ausweisbar noch theoretisch legitimierbar sind. So ist es zwar einsichtig, daß ein moralisches Kollek- tivbewußtsein soziologisch, d. h. in Analogie zu einer fait social verstanden werden kann.7 Es ist aber ebenso klar, daß es sich darin nicht erschöp­

fen darf.8 Moral muß, um von bloßer Ideologie unterscheidbar zu sein, religiös - und das heißt: in einem Absoluten - verankert werden: „Gewiß, mir liegt daran, den sakralen Charakter der Moral zu erhalten, aber nicht etwa deshalb, weil er mir dieser oder jener Bestrebung zu entsprechen scheint, die ich teile, sondern weil er mir in den Tatsachen gegeben ist ... Die Moral wäre nicht mehr Moral, wenn sie nichts Religiöses mehr an sich hätte“ (Dürkheim 1976: 125).9 * * Mit dieser religiösen Einbindung der Moral ist freilich kein schlichter Wechsel von der Moralsoziologie zur Religionssoziologie intendiert, was das Ideologie­

problem nur auf eine andere Ebene heben würde.

Vielmehr kommt es Dürkheim auf die Existenz einer absoluten, immer schon vorgängigen und nicht weiter hinterfragbaren Identität des Heiligen an, um der Moral den Stempel der Notwendigkeit, Universalität und unumschränkten Verbindlich­

7 Zur Analogie von fait individuell fait social und Einzel- bewußtsein/Kollektivbewußtsein vgl. Dürkheim (1984:

187f). Tatsächlich muß ein Kollektivbewußtsein sämtli­

che Definitionskriterien erfüllen, die für soziale Tatsa­

chen gelten, damit Dürkheims methodologisches Postulat, Soziales nur durch Soziales zu erklären, ge­

wahrt bleibt.

8 Dafür spricht auch der Umstand, daß Dürkheim die Moral als solche nicht soziologisch untersuchen kann, sondern sich ihrer Objektivation, dem Recht, zuwen­

den muß.

9 Zur „tieferen Wesensverwandtschaft“ von Moral und Religion bei Dürkheim vgl. Müller (1986: 79) und Habermas (1981: 79f): „Aus der strukturellen Analo­

gie des Heiligen und des Moralischen schließt Dürk­

heim auf eine sakrale Grundlage der Moral. Er stellt die These auf, daß die moralischen Regeln ihre binden­

de Kraft letztlich aus der Sphäre des Heiligen bezie­

hen.“ Vgl. zur Notwendigkeit einer metaphysischen Verankerung der Moral auch Troeltsch (1910: 171):

„Jeder Gedanke einer absoluten Wahrheit und eines absoluten Guten, ja auch des Schönen und schließlich des Seins und der Realität überhaupt, fordert einen Wirklichkeitsgrund, für den und in dem das alles ist, unterschieden von den Irrungen und Täuschungen der Kreatur.“

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keit aufdrücken zu können. Das Heilige tritt zu den Definitionskriterien der fait social Moral hinzu und qualifiziert diese in den Augen Dürkheims zu einem ordnungskonstitutiven Kollektivbewußt­

sein.

Mit diesem Vorgehen sprengt Dürkheim jedoch seinen eigenen methodologischen Bezugsrahmen, soziale Tatsachen ausschließlich durch soziale Tat­

sachen erklären zu wollen. Der Soziologe wird dadurch nicht bloß zum Moralisten (König 1976:

320; Luhmann 1988: 28), sondern schlechterdings zum Gläubigen. Gemessen an den historistisch aufgeklärten Standards der Theoriebildung, an de­

nen sich Dürkheim hätte orientieren müssen, er­

weist sich neben seinem Versuch, ein moralisches Kollektivbewußtsein in der Moderne als „Identität des Nichtidentischen“ (Luhmann 1988: 25f) zu begreifen, auch seine als schlicht gegeben unter­

stellte Identität des Identischen in puncto einfacher Gesellschaften als unhaltbar.10 Um diese Schwie­

rigkeiten aufzulösen, ist, unter Beibehaltung von Dürkheims soziologischem Bezugsrahmen, m. E.

zweierlei vonnöten. Erstens müssen die Differen­

zierungen von einfachen und modernen Gesell­

schaften sowie von mechanischer und organischer Solidarität eingezogen werden, da beide Schnitte unauflöslich an die vorgängige, metaphysische Exi­

stenz des Heiligen gebunden sind; in der Folge wird also nur noch von Gesellschaften (G) sowie von sozialer Solidarität (SS) die Rede sein.11 Zwei­

tens muß, um mit Luhmann (1984: 26) zu spre­

chen, ein Wechsel vom metaphysischen Paradigma der Identität von Identität und Differenz hin zum Paradigma der Differenz von Identität und Diffe­

renz vollzogen werden. Im Unterschied zur Identi-

10 Die grundlegende Frage nach dem Wesen des Heiligen wird von Dürkheim nicht beantwortet. Dieselben me­

taphysischen Anleihen finden sich auch im Zentrum der Gesellschaftstheorien von Talcott Parsons und Jür­

gen Habermas, in denen sich Säkularisierung im Grun­

de ebenfalls auf eine begriffliche Nuance, auf eine

„entzauberte Präsenz von Religiösem“ (Marquard 1983: 77) reduziert, z. B. auf ein bloßes Generalisieren von Werten bzw. Versprachlichen des Sakralen. Wie im Falle Dürkheims speist sich das vinculum sociale in diesen Ansätzen nach wie vor aus den dunklen Quel­

len der Religion.

11 Mit dieser Maßnahme wird im übrigen dem Umstand Rechnung getragen, daß Dürkheim im Falle einfacher Gesellschaften nur Ähnliches, im Falle moderner Ge­

sellschaften ausschließlich Unterschiedliches berück­

sichtigt und dadurch natürlich ein unpräzises Bild die­

ser Gesellschaften zeichnet.

tätslogik, die sich Anderes nur vorstellen kann, indem sie es auf ein Selbes reduziert und auf diese Weise die Differenz der Identität unterwirft, läßt sich die Problemstellung, von der das Buch Über soziale Arbeitsteilung ursprünglich ausging - und der hier unser Interesse gilt - , nur dann adäquat bearbeiten, wenn man tatsächlich mit der Diffe­

renz als solcher beginnt.

Nun ist es sicher kein Zufall, daß eine der „Quel­

len“, die Luhmann (1984: 13, 112) zufolge für diesen Paradigmenwechsel verantwortlich zeich­

nen - die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures - in direkter Auseinandersetzung mit der Soziologie Dürkheims entwickelt wurde. Und in der Tat kann man den bis zur Differenz als solcher generalisier­

ten Begriff der Arbeitsteilung in Dürkheims Dis­

sertation als die Folie begreifen, auf der Saussure den in der historistisch inspirierten idealistischen Sprachphilosophie von Hamann bis Nietzsche vor­

bereiteten Paradigmenwechsel zum „Denken der Differenz“ (Descombes 1981: 91) vollziehen konn­

te. Wenngleich in der soziologischen Literatur das Verhältnis beider Denker zueinander so gut wie unerforscht ist,12 scheint es mir doch plausibel, Saussures Sprachtheorie zum Zwecke einer Auflö­

sung von Dürkheims ursprünglicher Problemstel­

lung heranzuziehen. Denn Saussures Begriff der Sprache gibt uns die Möglichkeit an die Hand, ein Kollektivbewußtsein auf differentieller Grundlage, d. h. ohne Inanspruchnahme einer metaphysischen Identität, zu formulieren (SKB).13 * Obwohl es tö­

richt wäre, prinzipiell jeder fait social eine mögli­

che Qualifizierung zu einem ordnungskonstituti­

ven Kollektivbewußtsein einzuräumen, ist dieser Begriff nämlich keineswegs an die Moral gebun­

den. Die Religion ist nicht notwendigerweise die

„Kernzone des Kollektivbewußtseins“ (Tyrell

12 Dürkheim wird zwar des öfteren mit Saussure in einen Zusammenhang gebracht, das Verhältnis beider Theo­

rien aber nicht eingehender untersucht. In der Lingu­

istik, Romanistik und Philosophie hingegen finden sich einige detaillierte Analysen; hier sind vor allem die Arbeiten von Doroszewski (1973) und Bierbach (1978) zu nennen; vgl. auch die bei Bierbach genannte weiterführende Literatur.

13 Die Frage, warum es gerade die Sprache ist, die hier als ordnungskonstitutives Moment favorisiert wird, läßt sich mit dem Hinweis auf die Erkenntnisprozesse historistischer Aufklärung beantworten, die für die philosophische und zunehmends auch soziologische Theoriebildung die Unumgänglichkeit eines linguistic turn vor Augen führten.

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1985: 202).14 Zunächst ist damit lediglich gemeint, daß die individuellen Psychen in der Lage sind, ein neues psychisches Wesen hervorzubringen: „Dar­

aus ist ersichtlich, in welchem Sinne und aus wel­

chen Gründen von einem Kollektivbewußtsein, das von dem Einzelbewußtsein unterschieden ist, gesprochen werden muß und kann. Um diese Di­

stinktion zu rechtfertigen, muß das Kollektivbe­

wußtsein nicht hypostasiert werden; es ist einfach eine Gegebenheit für sich und muß mit diesem besonderen Ausdruck bezeichnet werden, weil die Zustände, aus denen es besteht, sich von denen, die das Einzelbewußtsein bilden, spezifisch unter­

scheiden. Dieser spezifische Charakter rührt da­

von her, daß beide Formen des Bewußtseins nicht aus denselben Elementen aufgebaut sind. Die ei­

nen entspringen aus der Natur des organisch-psy­

chischen Wesens in seiner Vereinzelung betrach­

tet, die anderen aus einer Verbindung mehrerer Wesen dieser Art“ (Dürkheim 1984: 187f). Nimmt man Dürkheim hier beim Wort, so ist es nicht nur möglich, die metaphysische Hypostasierung des Begriffs des Kollektivbewußtseins, die ihm durch seine moralische Konnotation widerfährt, zu ver­

meiden. Vielmehr gerät die hier angesprochene Genese eines derartigen Bewußtseins aus einer

„Verbindung“ mehrerer organisch-psychischer Wesen geradezu zu seinem charakteristischen Merkmal.

Dürkheims eigenem methodologischen Gebot zu­

folge, Soziales nur durch Soziales zu erklären, wird im folgenden dessen Zuordnung von sozialer Soli­

darität und Moral aufgelöst und durch die Erklä­

rung jener durch Sprache ersetzt:

G -S K B -S S

Indem Dürkheim selbst der Sprache den Rang einer fait social zuerkennt, weist er der folgenden Argumentation den Weg.

III.

(1) Dürkheim (1984: 114) definiert fait social als

„jede mehr oder minder festgelegte Art des Han­

delns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein

14 „Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Über­

zeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglie­

der einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenz­

tes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewußtsein nennen“

(Dürkheim 1988: 128).

auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äu­

ßerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“ Die­

ser Definition zufolge sollen also die Kriterien der Äußerlichkeit, Zwanghaftigkeit, Allgemeinheit und Unabhängigkeit vom Individuellen die diffe­

rentia specifica sozialer Tatbestände abgeben: „Sie sind äußerlich, da sie nicht angeboren sind, son­

dern anerzogen werden müssen; sie sind zwang­

haft, weil sie den Willen eines jeden Individuums steuern; sie sind allgemein und nicht universal, weil sie weder der Natur der Menschheit immanent sind noch in der Natur des Menschen schlechthin liegen; sie sind unabhängig, da sie weder im Ver­

halten von einzelnen Individuen aufgehen noch sich durch ihre Praxis erschöpfen“ (Müller 1983:

66). Dürkheims Theorie des fait social trägt nun, worauf wiederholt hingewiesen wurde, starke sy­

stemtheoretische Züge: „Die Autonomie der so­

zialen Tatsache - Realität „sui generis“ - ist mit dem klassischen Satz der Eigenqualität des Ganzen in Bezug auf seine Teile begründet ... Er beinhal­

tet in der Durkheimschen Theorie die Irreduktibi- lität des fait social auf seine partikularen Erschei­

nungsformen und die des gesellschaftlichen Gan­

zen auf die Einzelpsychen der Individuen“ (Bier­

bach 1978: 162).15 Tatsächlich hängen die Defi­

nitionskriterien eng mit dem Systemcharakter des fait social aus der Relation Teile/Ganzes zusam­

men: „Jedesmal, wenn irgendwelche Elemente ei­

ne Verbindung eingehen und damit neue Erschei­

nungen hervorbringen, läßt sich wohl einsehen, daß diese Erscheinungen ihren Sitz nicht in den Elementen, sondern in dem durch deren Vereini­

gung hervorgebrachten Ganzen haben“ (Dürk­

heim 1984: 93). Dies entspreche dem systemtheo­

retischen Prinzip der Emergenz: „Wenden wir dies Prinzip auf die Soziologie an. Wenn, wie man uns einräumt, die Synthese sui generis, welche jede Gesellschaft darstellt, neue Erscheinungen auslöst, welche von denen, die im Bewußtsein der Einzel­

nen vor sich gehen, verschieden sind, so muß auch zugegeben werden, daß diese spezifischen Erschei­

nungen in der Gesellschaft selbst ihren Sitz haben und nicht in ihren Teilen, d. h. ihren Gliedern“

(Dürkheim 1984: 94).

Aus der Nichtreduzierbarkeit des Ganzen (fait so­

cial) auf seine Teile (Individuen) soll der Charak­

ter der Allgemeinheit, Unabhängigkeit und Äu­

ßerlichkeit ihnen gegenüber folgen, und mit diesen Merkmalen einher geht der contrainte, den er auf sie ausübt. Demzufolge sind soziale Tatbestände

15 Vgl. hierzu ausführlich Müller (1983: 90ff).

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18 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, Heft 1, Februar 1990, S. 1 3 -2 5

an dem Spezifikum erkennbar, „daß sie auf das Bewußtsein der Einzelnen einen zwingenden Ein­

fluß auszuüben vermögen“ (Dürkheim 1984: 97).

Sie sind mit einer gebieterischen Macht ausgestat­

tet, „kraft deren sie sich einem jeden auf drängen, er mag wollen oder nicht“ (Dürkheim 1984: 106).

Der Einzelne wird von der Gesamtheit gleichsam hingerissen, die Handlungen und Vorstellungen, die man an Individuen beobachten kann, hängen definitiv von den zugrundeliegenden sozialen Mu­

stern ab. Dabei legt Dürkheim gesteigerten Wert darauf, daß zur Zwangsgewalt der sozialen Tatsa­

che ein weiteres Moment insofern hinzutritt, als wir die Tatsachen bejahend anerkennen: „Sie ver­

pflichten uns und sie sind es wert. Sie zwingen uns und wir finden bei ihrer Funktion, ja sogar beim Zwange unsere Rechnung. Diese Antithese ist häufig von den Ethikern zwischen den beiden Be­

griffen des Guten und der Pflicht verzeichnet wor­

den, in welchen zwei verschiedene, aber gleicher­

weise gültige Verhaltensweisen zum Ausdruck kommen. Und es gibt vielleicht keine kollektiven Verhaltensweisen, die nicht auf uns eine zweifache Einwirkung äußern, welche übrigens nur scheinbar widersprechend ist. Wenn wir jene nicht durch diese besondere, in gleicher Weise interessierte und interesselose Hingebung definiert haben, so geschah das einfach deswegen, weil sich diese Hin­

gabe nicht durch leicht erkennbare äußere Merk­

male ausdrückt. Das Gute ist etwas Innigeres, Intimeres als die Pflicht und ist deswegen weniger greifbar“ (Dürkheim 1984: 98).

Dessen eingedenk ist es aufschlußreich zu sehen, daß Dürkheim auch die Sprache als soziale Tatsa­

che bezeichnet. In seinem Artikel La sociologie et son domaine scientifique aus dem Jahre 1900 wird die Imperativität kollektiver Praktiken und Regeln auch am Beispiel der Sprache demonstriert: „En fait, il existe d’autres ph£nomenes qui prösentent le meme caractäre, bien qu’ä un moindre degre la langue qu’on parle dans notre pays n’oppose-t-elle pas aux audacieux novateurs une resistance egale ä celle que les rites de la religion, les maximes du

16 Vgl. hierzu auch Dürkheims Artikel Soziologie: „La langue est un autre fait dont le caract&re social ap- parait clairement: l’enfant apprend, par l’usage et l’etude, une langue dont le vocabulaire et la syntaxe sont vieux de bien de sidcles, dont les origines sont inconnues, qu’il recoit par consequent toute faite et qu’il est tenu de recevoir et d’employer ainsi sans variations considerables. En vain essayerait - il de se cr6er une langue originale“ (zit. n. Bierbach 1978:

164).

droit et de la morale opposent ä ceux qui tentent des les violer? Il y a en eile quelque chose qui nous inspire le respect“ (Dürkheim 1975: 27).16 * * In dem drei Jahre zuvor verfaßten Aufsatz La science posi­

tive de la morale en allemagne weist Dürkheim (1975: 304) anhand der Sprache auf die anteriorite sozialer Tatsache Individuen gegenüber hin;

ebensowenig wie die Religionen sei die Sprache

„n’ont pas ete un beau jour inventes par un homme dont l’exemple aurait ete, de gre ou de force, suivi par ses semblables. De ce que les phenomenes collectifs n’existent pas en dehors des consciences individuelles, il ne s’ensuit pas qu’ils en viennent;

mais ils sont l’oeuvre de la communaute. Ils ne partent pas des individus pour se repandre dans la societe, mais ils emanent de la societe et se diffu- sent ensuite chez les individus. Ceux-ci les recoi- vent plus qu’ils ne les font, quoique chacun d’eux y ait collabore, mais dans une mesure infinitesimale.

C’est qu’en effet ces faits sont beaucoup trop com­

plexes pour pouvoir etre embrasses par un esprit particulier.“ Dürkheim (1975: 364f) will die Spra­

che deswegen ebenfalls als „conscience sociale“

verstanden wissen, „dont les consciences particu- lieres ne sont, en partie du moins, qu’une emana­

tion ... Chacun de nous parle une langue dont il n’est pas l’auteur: nous la trouvons toute faite.“

Dabei unterscheidet Dürkheim (1984: 106f) aus­

drücklich zwischen der Eigenschaft der Sprache als System und ihrer Verwendung: „Das Zeichensy­

stem, dessen ich mich bediene, um meine Gedan­

ken auszudrücken, das Münzsystem, in dem ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache, unabhängi­

ges Leben.“ Bildet das System der Sprache also eine fait social „par excellence“, so kann Dürk­

heim anhand der Sprach Verwendung zeigen, wie sich soziale Tatsachen konkret in individuellen Äu­

ßerungsformen manifestieren.

(2) Dürkheims Unterscheidung zwischen Sprache als fait social und Sprachverwendung als fait indivi- duel hat Pate gestanden für Saussures berühmte Differenzierung von langue und parole: „Im Grun­

de sind Sprache und soziologischer Tatbestand dasselbe ... Wer den methodologischen - man könnte auch sagen philosophischen - Untergrund der Lehre Saussures untersuchen wollte, müßte sich an die Lehre Dürkheims halten, in der sich der Gegensatz von Sozialem und Individuellem, der sich prinzipiell nicht weniger absolut in dem Ge­

gensatz von Sprache und Sprechen im Cours von Saussure widerspiegelt, mit absoluter und systema­

(7)

tischer Konsequenz angelegt findet“ (Doroszewski 1973: 55).17 In der Tat zerteilt auch Saussure das Gesamtphänomen dessen, was man gemeinhin Sprache (langage) nennt, in zwei verschiedene Be­

reiche: der Rede bzw. dem Sprechen (parole) wird die Sprache (langue) gegenübergestellt: „Indem man die Sprache vom Sprechen scheidet, scheidet man zugleich: 1. das Soziale vom Individuellen;

2. das Wesentliche vom Akzessorischen und mehr oder weniger Zufälligen“ (Saussure 1967: 16).18 Die Rede, wie sie konkret und alltäglich vorliegt, ist sozusagen langage minus langue. Sie ist die faktische Ausführung von Sprechhandlungen, d. h.

der akzidentelle und individuelle Akt, wodurch sich in einem Redekreislauf (circuit de la parole) ein Sprecher einem anderen verständlich macht (Saussure 1967: 13ff). Die langue hingegen ist kein Ensemble von Sprechakten, vermittels derer wir uns miteinander verständigen. Als langage minus parole ist sie gleichsam das, was „das Individuum in passiver Weise einregistriert“ (Saussure 1967:

16). Die menschliche Rede weist insofern eine individuelle und eine soziale Seite auf, als man die Sprache „als die Norm aller andern Äußerungen der menschlichen Rede gelten lassen“ (Saussure 1967: 11) muß. Als die abstrakte und als solche niemals manifeste Ordnung, die im Untergrund der Sprechakte wirkt und diese Akte ausrichtet, ist sie „der soziale Teil der menschlichen Rede und ist unabhängig vom Einzelnen, welcher für sich allein sie weder schaffen noch umgestalten kann“ (Saus­

sure 1967: 17). Somit ist sie gleichermaßen „ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Kon­

ventionen, welche die soziale Körperschaft getrof­

fen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen“ (Saussure 1967:

11). Es ist leicht zu sehen, daß Dürkheims Krite­

rien für soziale Tatbestände - Äußerlichkeit, Zwanghaftigkeit, Allgemeinheit und Unabhängig­

keit - nicht tangiert werden. Dasselbe gilt für das hinzutretende Moment der Hingabe: „II y a en eile quelque chose qui nous inspire le respect“ (Dürk­

heim 1975: 27). Neben diesen Affinitäten zur So­

ziologie Dürkheims gibt es aber auch einen funda­

mentalen Unterschied, der es, wie zu zeigen sein wird, allererst gestattet, Saussures Theorie für die Belange dieser Arbeit fruchtbar zu machen.

17 Zum Einfluß Dürkheims auf Saussure auf der Ebene der Werkgesehichte vgl. eingehend Bierbach (1978:

153 ff).

18 Vgl. ebenfalls Doroszewski (1930: 491 f).

Obwohl auch Saussure den Systembegriff in seiner Theorie gebraucht, eröffnet sich in diesem Punkt doch die entscheidende Differenz zu Dürkheim, der der systemtheoretischen Leitdifferenz vom Ganzen und seinen Teilen verpflichtet ist. Diese Art Systeme betrachtet man als das Zusammen­

spiel von Teilen zu einem Ganzen, wobei Ordnung als aus einer umfassenderen Ordnung abgeleitet verstanden wird: „order from order“ (Willke 1987:

253 f). Im Paradigma vom Ganzen und seinen Tei­

len ist man also, wie an dieser paradoxen Formu­

lierung abzulesen ist, gezwungen, „irgendwo uner­

klärbare Eigenschaften unterzubringen - sei es als Eigenschaften des Ganzen (das mehr ist als die Summe seiner Teile), sei es als Eigenschaften einer hierarchischen Spitze, die das Ganze repräsen­

tiert“ (Luhmann 1984: 27).19 Ob man den Ver­

nunftbegriff, das Sittengesetz, einen Wertekos­

mos, die Moral oder Gott nimmt, stets handelt es sich um eine letztlich unerklärliche Identität,20 die den Rücken des Prinzips „order from order“ deckt und im Falle Dürkheims nicht nur das Kollektivbe­

wußtsein Moral, sondern strenggenommen jede fait social metaphysisch kontaminiert. Saussure hingegen zielt bereits auf einen fortgeschrittenen Systembegriff. Während bei Dürkheim die Spra­

che das Ganze als fait social repräsentiert, das seine Teile, die individuellen Sprechakte, einre­

gelt, Dürkheim also beides als zum System gehörig betrachten muß, reserviert Saussure den System­

begriff ausschließlich für die langue: „Saussure ver­

bindet den Systembegriff nicht mit seiner ersten Definition der langue, sondern entwickelt ihn erst aus der Diskussion der anderen Grundeigenschaf­

ten des Wissenschaftobjekts Sprache und präzisiert ihn inhaltlich erst im Zusammenhang mit der Zei­

chentheorie (bzw. „valeur“). Dann wird allerdings Systeme konstant auf die langue bezogen, während ... der parole systematischer Charakter angespro­

chen wird“ (Bierbach 1978: 142).21 Demzufolge bilden die parole sowie die dahinterstehenden or­

19 Vgl. ausführlich Luhmann (1984: 20ff).

20 Die systemtheoretische Leitdifferenz vom Ganzen und seinen Teilen bleibt an das Paradigma der Identität von Identität und Differenz gebunden.

21 Bereits Antoine Meillet (1916) bemerkte in seiner Rezension der ersten Auflage des Cours, daß Saussure vorrangig an der Entwicklung seiner Theorie der langue interessiert gewesen wäre, die parole und deren sprechakttheoretische Umsetzung hingegen vernach­

lässigt hätte.

(8)

20 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, Heft 1, Februar 1990, S. 1 3 -2 5

ganisch-psychischen Wesen,22 denkt man weiter­

hin in systemtheoretischen Kategorien, die Um­

welt des Systems. Saussure führt hier zunächst die Differenz von System und Umwelt ein, die ja bekanntlich Voraussetzung ist sowohl für jede Form interner Differenzbildung als auch für die Selbstkonstitution eines Systems (Willke 1987:

256). Er ist jedoch nicht bei der systemtheoreti­

schen Leitdifferenz System/Umwelt stehengeblie­

ben, Ordnung kommt seines Erachtens nicht nur durch Selektivität zustande. In seiner Philosophie finden sich vielmehr erste Ansätze zu einer Theo­

rie sich selbst konstituierender Systeme. So hat Saussure, wie vorbesagt, insbesondere den für die Ausarbeitung einer derartigen Theorie erforderli­

chen Paradigmenwechsel zur Differenz von Identi­

tät und Differenz maßgeblich initiiert. Die Ord­

nung derartiger Systeme folgt nun „nicht mehr aus einer höheren, umfassenderen Ordnung, sondern bildet sich in der Auseinandersetzung mit Turbu­

lenzen der Umwelt“ (Willke 1987: 254).23 Wenn irgendwo Heinz von Foersters Konzept einer „or­

der from noise“ Sinn macht - und zwar einen geradezu sprichwörtlichen -, dann in der Sprach - theorie Saussures. Denn es bedarf der Verbindung mehrerer organisch-psychischer Wesen in der pa­

role, d. h. „einer sprechenden Menge, damit die Sprache bestehe“ (Saussure 1967: 91).

Auf den Umstand, daß es mit Saussure im abend­

ländischen Denken zu einem rupture epistemolo- gique kommt, ist wiederholt hingewiesen worden.

Seine sprachphilosophischen Erörterungen stellen in der Tat eine radikale Überwindung des Denkens in Identitäten dar. Während unter identitätslogi­

schen Prämissen Ordnung als Reflex einer präexi­

stenten, an ihr selbst unwirklichen Einheit verstan­

den wird - eben: „order from order“ - , bricht Saussure endgültig mit dieser Vorstellung, indem er in seinen Vorlesungen Cours de Linguistique Generale, die er in den Jahren 1906 bis 1911 an der Genfer Universität hält, Sprache als System nicht auf eine Einheit zurückführbarer Differenzen be­

greift.

(3) Saussures Theorie nimmt ihren Ausgang von zwei unterschiedlichen Arten von Mannigfaltig­

keit. Er faßt sowohl die Welt als auch das Denken zunächst als amorph. In seinen Augen gibt es keine

„von vornherein feststehenden Vorstellungen“.

Nichts sei bestimmt, ehe die Sprache in Erschei­

22 Hinter der Handlung steht ja bekanntlich: „der Mensch“ (Weber 1982: 530).

23 Vgl. in diesem Kontext auch Luhmann (1984: 291 f).

nung tritt: „Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch die Worte absehen, nur eine gestaltlose Masse ... Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise be­

grenzt ist“ (Saussure 1967: 133). Aber auch die Welt, die Saussure als lautliche Materie konzipiert, ist amorph: „Die lautliche Masse ist ebensowenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes; sie ist nicht Hohlform, in die sich das Denken ein­

schmiegt, sondern ein plastischer Stoff, der seiner­

seits in gesonderte Teile zerlegt wird, um Bezeich­

nungen zu liefern, welche das Denken nötig hat“

(Saussure 1967: 133). Zwischen den beiden chaoti­

schen Massen hat Saussure zufolge die Sprache zu vermitteln, indem sie sich zwischen ihnen gleich­

sam herausbildet. Insofern ist sie nach Saussure (1967: 132) „in der lautlichen Materie organisiertes Denken.“ Sie hat „dem Denken gegenüber nicht die Rolle, vermittels der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Den­

ken und dem Laut zu dienen, dergestalt, daß deren Verbindung notwendigerweise zu einander ent­

sprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt.

Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzi­

sieren; es findet also weder eine Verstofflichung der Gedanken noch eine Vergeistigung der Laute statt, sondern es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, daß der „Laut-Gedanke“

Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet“ (Saussure 1967:

133f).24 In diesem Sinne nennt Saussure (1967:

134) die „Sprache das Gebiet der Artikulation.“

Jeder Bestandteil der Sprache ist ein kleines Glied,

„ein articulus, wo ein Gedanke sich in dem Laut

24 Zur Erläuterung führt Saussure (1967: 134) das folgen­

de Beispiel an: „Man stelle sich etwa vor: die Luft in Berührung mit einer Wasserfläche; wenn der atmo­

sphärische Druck wechselt, dann löst sich die Oberflä­

che des Wassers in eine Anzahl von Einteilungen, die Wellen, auf; diese Wellenbildung könnte einen Begriff von der Verbindung des Denkens mit dem Stoff der Laute, von der gegenseitigen Zuordnung beider, ge­

ben.“ Die „einigermaßen mysteriöse Tatsache“ (Saus­

sure 1967: 134), daß sich die langue durch „noise“, also zwischen den zwei gestaltlosen Massen des Denkens und der lautlichen Materie selbst herausbildet, läßt sich m. E. unter Zuhilfenahme einiger Aussagen Ma- turanas (1982: 236 ff) zur Biologie der Sprache präzi­

sieren.

(9)

festsetzt, und wo ein Laut das Zeichen eines Ge­

dankens wird“ (Saussure 1967: 134). Die Sprache als Verbindungsglied zwischen Gedanke und Laut ist insofern „vergleichbar mit einem Blatt Papier:

das Denken ist die Vorderseite und der Laut die Rückseite; man kann die Vorderseite nicht zer­

schneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zer­

schneiden; ebenso könnte man in der Sprache weder den Laut vom Gedanken noch den Gedan­

ken vom Laut trennen“ (Saussure 1967: 134).

Saussure (1967: 143 f) begreift die Sprache aus­

schließlich differentiell: „Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Ver­

schiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzel­

glieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben. Was ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weni­

ger wichtig als das, was in Gestalt der andern Zeichen um dieses herum gelagert ist.“ Und dem­

entsprechend nennt Saussure ein durch Artikula­

tion erzeugtes sprachliches Zeichen willkürlich. Es ist insofern beliebig, als keinerlei notwendiges Band den Gedanken auf den Laut bezieht: ,Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeich­

nung verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die assoziative Verbindung ei­

ner Bezeichnung mit einem Bezeichneten erzeugte Ganze verstehen, so können wir dafür auch einfa­

cher sagen: das sprachliche Zeichen ist beliebig“

(Saussure 1967: 79). So ist der Gedanke „Schwe­

ster“ durch keine innere Beziehung mit der Laut­

folge S-c-h-w-e-s-t-e-r verbunden, die ihr als Be­

zeichnung dient. Ebensogut könnte sie durch ir­

gendeine andere Lautfolge dargestellt sein, „das beweisen die Verschiedenheit unter den Sprachen und schon das Vorhandensein verschiedener Spra­

chen“ (Saussure 1967: 79). Beliebigkeit des Zei­

chens meint jedoch nicht, daß die Bezeichnung von der freien Wahl der jeweils sprechenden Per­

son abhängt, sondern „es soll besagen, daß es unmotiviert ist, d. h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit kei­

nerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat“

(Saussure 1967: 80). Die Bindung eines Bezeichne­

ten an ein Bezeichnendes, eines Signifikats an einen Signifikanten, ist vollkommen arbiträr,

„durch nichts garantiert; sie ist dem Auf und Ab

der Zeit, der Geschichte, unterworfen“ (Barthes 1988:162).25

Da mit dem Primat der Differenz die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant arbiträr ver­

standen werden muß, kann sich Saussure zufolge diese Beziehung einzig und allein durch die Stel­

lung der Signifikanten zueinander stabilisieren.

Die Beziehungen des Zeichens zu seinen ebenfalls durch Artikulation entstandenen Nachbarn lösen die auf eine vorgegebene transzendente Einheit rekurrierende notwendige Signifikationsbeziehung identitätslogischer Provenienz ab. In dieser negati­

ven Differentialität der Signifikanten, die Saussure zufolge in der negativen Differentialität der Signi­

fikate ihre Entsprechung findet, erschöpft sich die Unterscheidungsfunktion der Sprache, in der alles negativ ist. Erst das Sprachsystem erzeugt durch den „Parallelismus zwischen diesen beiden Arten von Verschiedenheiten“ (Saussure 1967: 144) ein Positives, nämlich die Positivität des Zeichens als Verbindendem. So gesehen ist das Sprachsystem als Zeichensystem kein Schatzhaus von positiven Bedeutungen, sondern ein System von bloßen Werten: „Ein sprachliches System ist eine Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbun­

den sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der Vorstellungen; aber dieses In-Beziehung-set- zen einer gewissen Zahl von lautlichen Zeichen mit der entsprechenden Anzahl von Abschnitten in der Masse des Denkens erzeugt ein System von Wer­

ten. Nur dieses System stellt die im Innern jedes Zeichens zwischen den lautlichen und psychischen Elementen bestehende Verbindung her. Obgleich Bezeichnetes und Bezeichnung, jedes für sich ge­

nommen, lediglich differentiell und negativ sind, ist ihre Verbindung ein positives Faktum“ (Saussu­

re 1967:144).

Weil der sprachliche Wert eines Zeichens von der Wechselseitigkeit der sprachlichen Glieder ab­

hängt und daher vollständig relativ ist, darf er nicht mit dem gleichgesetzt werden, was Saussure die Bedeutung nennt, die ein Signifikat beinhaltet.

Sprachvergleiche zeigen, daß zwei Worte verschie­

dener Sprachzugehörigkeit dieselbe Bedeutung ha­

ben können, ohne in ihrem Wert übereinzustim­

men, je nachdem, welche Glieder sie neben sich haben. Die verschiedenen Bedeutungsnuancen ein und desselben Zeichens resultieren daraus, daß kein anderes Zeichen derselben Klasse diesen oder jenen semantischen Inhalt annehmen kann, weil alle Zeichen in festen Ableitungsbeziehungen ste­

25 Vgl. hierzu auch Bierbach (1978: 12).

(10)

22 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, Heft 1, Februar 1990, S. 1 3 -2 5

hen. Das Wertsystem einer Sprache ist demnach davon abhängig, welche Signifikanten in Abgren­

zung verfügbar sind.26 Saussures Trennung von Signifikat und Signifikant impliziert, daß Bedeu­

tung und Wert verschiedenen Dimensionen ange­

hören. Der Wert eines sprachlichen Elements geht aus negativen Abgrenzungen und Gegenüberstel­

lungen im Gesamtzusammenhang des sprachlichen Systems hervor. Die Bedeutung hingegen ist eine Vorstellung, die ein Signifikant mit einem be­

stimmten Wert evozieren kann; erstere ist also von letzterem abhängig: „Allein die Differentialität der Signifikanten läßt eine Vielfalt unterscheidbarer Bedeutungen entstehen; die konstitutive Funktion der Sprache liegt nach Saussure auf der Seite der Signifikanten, die sich systematisch verketten“

(Köhler 1983: 105). Wirksam sind die Zeichen demzufolge nicht aufgrund eines ihnen immer schon zugehörigen Wertes, sondern vermöge ihrer Differentialität. Mit anderen Worten, die Artiku­

lation erzeugt ein System „sich gegenseitig bestim­

mender Zeichen. Ihren Wert erhalten sie durch das, was sie nicht sind, nämlich durch ihr Verhält­

nis zu den ihnen benachbarten Zeichen. Wenn das Zeichen demnach seinen positiven Wert nur in differentieller und negativer Abhebung von den anderen Zeichen erhält, kann es diesen nicht im­

manent haben. Es erhält also seinen Wert nicht...

weil in ihm ein sinnlicher Aspekt einen diesem äußerlichen intelligiblen Aspekt repräsentiert. Es lebt nicht mehr aus einer ihm vorgegebenen, trans­

zendenten Präsenz, es erhält seinen Wert aus den durch die Artikulation erzeugten benachbarten Zeichen“ (Gasche 1970: 317).

IV.

Wie wir gesehen haben, vertritt Saussure einen Systembegriff, der sich von dem Dürkheims grund­

sätzlich unterscheidet. Die Ordnung des Sprachsy­

stems konstituiert sich Saussure zufolge durch

„noise“, d. h. durch Unterscheidungen und Ver­

bindungen im sinnlich-phonischen Bereich der Umwelt, womit das Prinzip des „order from order“

verabschiedet wird. Mit der Theorie der langue sind keine dem Paradigma der Identität von Identi­

tät und Differenz geschuldeten metaphysischen Anleihen konnotiert. Saussures These, derzufolge die Sprache allein aus Differenzen besteht, bringt

26 Hörisch (1979: 43) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Suprematie des Signifikanten über das Si­

gnifikat.“

weiterhin zutage, daß das Intervall zwischen den Zeichen Konstituent jeder signitiven Positivität und Identität ist. Wie jedwede Bedeutung, so sind auch die komplexen Sinngefüge Moral und Reli­

gion nur auf der Basis dieser Differentialität for­

mulierbar. Die Semantik des Sinns basiert aus­

schließlich auf dem semiotischen System der langue (Frank 1985: 50ff). Mit anderen Worten, jeder Glaube an ein Heiliges setzt den „konsensu- ellen Bereich“ (Maturana 1982: 259) der Sprache immer schon voraus, ein Umstand, der die auf einer vorgängigen Existenz des Heiligen fußenden Evolutions- und Säkularisierungstheorien von Dürkheim, Parsons und Habermas obsolet werden läßt.27 Durchaus im Einklang mit Martin Heideg­

ger (1971: 30), dessen Philosophie der Theorie Saussures sehr nahe kommt, kann man deshalb in diesem Zusammenhang formulieren: „Die Sprache west als der sich ereignende Unter-Schied für Welt und Dinge.“28

Trotz seiner Einsichten in den Primat der Diffe­

renz und in den Selbstkonstitutionsprozeß des Sprachsystems, die der modernen Systemtheorie Vorschub leisten, hat sich Saussure jedoch nicht weiter zum Systemdenker entwickelt. Weder geht er soweit, die langue mit der Gesellschaft zu identi- fieren,29 noch etwa die parole als Interaktionssy­

stem zu begreifen.30 Vielmehr läßt sich in seinem Cours, neben den genuin linguistischen Erörterun­

gen, ein Dürkheims Dissertation durchaus ver­

27 Diese These läßt sich durch ethnologisches Material untermauern; vgl. etwa Tambiah (1968), Finnegan (1969) und Ray (1973).

28 An dieser Stelle muß auch an Arnold Gehlens Institu­

tionentheorie erinnert werden. Gehlens Ausführun­

gen zu einer Metainstitution der Sprache (Apel 1973) treffen sich m. E. mit den hier vorgetragenen Ge­

danken.

29 Obwohl in der Gesellschaftstheorie das Verfahren der Analogiebildung eine lange Tradition besitzt - man denke etwa an die Parsons’ zwischen Sprache und Geld und obwohl Dürkheim (1976: 45) selbst auf die Fruchtbarkeit der Analogiebildung hinweist - „Es ist niemals uninteressant zu untersuchen, ob ein Gesetz, das für einen Tatsachenbereich aufgestellt wurde, sich nicht mutatis mutandis anderswo auffinden läßt“ - , gehe auch ich hier von keiner Analogie von Sprache und Gesellschaft aus; vgl. in diesem Sinne aber Bar­

thes (1988: 163).

30 Luhmanns (1984: 566ff) Bestimmung des Verhältnis­

ses von Gesellschaft und Interaktionssystem erinnert etwas an Saussure, was sich in der Konzeption einer

„synchronen und diachronen Differenzierung“ zeigt.

(11)

wandtes Anliegen konstatieren, nämlich das „so­

ziale Band“ (Sausurre 1967: 16) auszumachen, das die Individuen einhegt. Saussure (1967: 119) geht selbst soweit, die Sprache als das „Kollektivbe­

wußtsein“ der Sprechenden zu bezeichnen. Da dies differentielle Kollektivbewußtsein Dürkheims Definitionskriterien für fait sociaux genügt, kann es m. E. als Konstitutivum für Solidarität fungie­

ren. Wie dies möglich ist - eingedenk der Tatsa­

che, daß die Erkenntnis, daß Sprache (langage) irgendwie von gesellschaftstheoretischer Relevanz sei, seit dem Erscheinen der Theorie des kommuni­

kativen Handelns eine nahezu unbefragte Selbst­

verständlichkeit sein dürfte -, soll abschließend kurz skizziert werden.

Um diese Frage zu klären, bietet es sich in der Tat an, Habermas’ Theorie als Kontrastfolie heranzu­

ziehen. Ein erster Blick auf dessen Sprachtheorie zeigt, daß er mit seiner Rezeption der Sprechakt­

theorie, die von den Philosophen John L. Austin und John R. Searle entwickelt wurde,31 zunächst ausschließlich auf der Ebene der parole ansetzt.

Die auf Saussure zurückgehende Unterscheidung von langue und parole wird von ihm nicht vorge­

nommen.32 Auf den Umstand, daß es sich hierbei um ein echtes Versäumnis handelt, hat Burkhardt (1986) nun zu Recht hingewiesen. Denn sämtliche Theorien von Austin bis Habermas, die diese Leit­

differenz ignorieren, bleiben in der Thematisie- rung situierter und aktualisierter Sprechakte auf der Ebene der parole stecken. Dies führt auch bei Habermas dazu, den Sprechakten der parole als solchen eine bindende Kraft, die sogenannte illo-

31 Tatsächlich geht das Erkennen der Sprache als Mittel des Vollzugs sozialer Handlungen nicht auf Austin, sondern auf die Theorie „sozialer Akte“ des phänome­

nologischen Rechtsphilosophen Adolf Reinach zu­

rück; vgl. hierzu Burkhardt (1986) sowie Mulligan (1987).

32 Im Unterschied zu früheren Arbeiten Habermas’, in denen Saussure keine nennenswerte Erwähnung ge­

schah, spielt dieser heute zunehmends die Rolle einer negativen Bezugsgröße. Neben die eigenen kommuni­

kationstheoretischen Bemühungen, „den grundbe­

grifflichen Bann des subjektzentrierten Denkens der Bewußtseinsphilosophie zu brechen“ (Habermas 1988:

245), rückt nun der „strukturalistische Ansatz“ Saus- sures, den Habermas freilich völlig verzerrt skizziert und mit dem Neostrukturalismus umstandslos ver­

quickt; vgl. etwa Habermas (1988: 55f).

33 Burkhardt (1986: 157) spricht in diesem Zusammen­

hang von einem „ontologischen Fehlschluß“ in der Sprechakttheorie.

cutionary force, zuzuschreiben.33 Die Illokution soll jenen Bindungseffekt von Handlungen bereit­

stellen, der eine Verständigung und Koordinierung individuell verfolgter Handlungspläne ermöglicht.

Diese Strategie erweist sich jedoch als wenig hilf­

reich, um das für das soziale Band konstitutive gelingende Verstehen und Anschlußhandeln zu er­

möglichen (Matthiesen 1983: 85 ff; Wagner/Zip- prian 1988), so daß sich Habermas (1981: 136, 119) letztlich gezwungen sieht, die illokutionäre Binde­

kraft religiös, d. h. durch Inanspruchnahme der

„bannenden Kraft des Heiligen“, nachzurüsten.

Seine Transformation von Dürkheims morali­

schem Kollektivbewußtsein in ein lebensweltliches Substrat (Tyrell 1985: 237f), das, das Heilige gleichsam bergend, als Komplementärbegriff zur parole hinzutreten soll, dient nicht zuletzt dazu, die Schwierigkeiten zu bereinigen, die sich für ihn aus seiner verengten sprechakttheoretischen Per­

spektive ergeben. Obschon es sicher zu Recht als Protagonist der sprachtheoretischen Wende der Gesellschaftstheorie“ (Taylor 1986: 35) gilt, fällt Habermas mit seiner, in Auseinandersetzung mit Dürkheims Spätwerk gewonnenen, „Sakralisie- rung der Geltungsproblematik“ (Matthiesen 1983:

97) weit hinter die historistisch aufgeklärten Stan­

dards der Theoriebildung zurück.34

Demgegenüber läßt sich im Anschluß an Burk­

hardt (1986) und Cohen (1974) zeigen, daß ein Sprechakt keinerlei handlungsmäßige Kraft an sich besitzt, die unabhängig von seinem Gebrauch und seiner Rezeption gleichsam in ihm läge. Vielmehr wird sein Handlungswert erst in der Intepretation durch einen oder mehrere Hörer aufgrund seiner semantischen Implikationen auf der Ebene der langue konstituiert: „Die Illokution einer Äuße­

rung (auf der Parole-Ebene) ist im Grunde: wie wir die kommunikative Leistung dieser Äußerung beschreiben oder bezeichnen würden, d. h. die „il­

locutionary force“ ist nicht der Bedeutung („mean­

ing“, „proposition“) beigeordnet, sondern Resul­

tat eines interpretativen Prozesses auf der Basis dessen, was auf der Langue-Ebene semantisch an­

gelegt ist, zusammen mit den aktuellen Kontextbe­

dingungen“ (Burkhardt 1986: 57). Illokutionen sind also nichts anderes als Deutungen der Hand­

lungsintentionen des Sprechers durch die Interak­

tanten aufgrund von semantischen Regeln. Sie werden dadurch zu Vorkommen eines bestimmten Typs, wobei die Sprache Kategorien bereitstellt,

34 Die Aufklärung freilich ist kein Fiaker, aus dem man nach Belieben aussteigen kann.

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24 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, Heft 1, Februar 1990, S. 1 3 -2 5

unter die die jeweiligen Deutungen aufgrund von Übereinstimmung der lexikalisch-syntaktisch-se­

mantischen und situativen Eigenschaften der Äu­

ßerung mit den semantischen Merkmalen eines bestimmten Sprechaktverbs bzw. einer performati- ven Formel subsumiert werden können. Illokutio- nen „existieren in der Parole nur in der jeweiligen Klassifikation des Sprechers oder des bzw. der Hörer. Auf der Langue-Ebene allerdings müssen ihnen einerseits konventionelle grammatische und lexikalische Vollzugsmittel und andererseits ange­

messene Beschreibungs- und Klassifikationskate­

gorien entsprechen“ (Burkhardt 1986: 159f). Wäh­

rend Austin, Searle und Habermas im Grunde nur Äußerungsakte betrachten und sich fragen, wie diese Ulokutionen eines bestimmten Typs trans­

portieren, will sagen: in sich schließen können, hält denn auch Cohen (1974: 194ff) die „semanti­

sche Kraft“ und „semantische Modalität“ eines Satzes auf der einen und dessen tatsächliche illoku- tionäre Kraft bei seiner aktuellen Verwendung auf der anderen Seite strikt auseinander, wobei die

„semantic force“, die auf der Ebene der langue bereits in bezug auf die spätere kommunikative Leistung einer Äußerung angelegt ist, die aktuelle illocutionary force determiniert, gleichsam einen contrainte auf sie ausübt: „The meaning of a sen­

tence’s utterance on a particular occasion is deter­

mined by the meaning of the sentence in the langue as disambiguated by the context, and since the meaning of the sentence in the langue must be supposed to include its semantic modality and se­

mantic force these elements are present also in the meaning, stricto sensu, of the utterance. Whatever else affects the so-called illocutionary force of the utterance stems from the context, not from the composition of the sentence uttered“ (Cohen 1974:

197).

Hier wird also plausibel vorgeführt, daß die langue in ihrer Eigenschaft als fait social die Bedingung der Möglichkeit für jede Form von gelingendem Sprechakt darstellt. So gesehen ist es zwar notwen­

dig, die Ebene der parole in die der langue einzu­

betten, um Verstehen, Anschlußhandeln und da­

mit die Genese des sozialen Bandes zu erklären.

Es sind jedoch darüber hinaus keinerlei metaphysi­

sche Kriterien erforderlich, wie wir sie in Haber­

mas’ Theorie finden. Auf den Umstand, daß Saus­

sure in seinem Cours die sprechakttheoretische Umsetzung seiner Sprachtheorie vernachlässigt ha­

be, wurde bereits hingewiesen. Eine kritische Syn­

these seiner Theorie der langue mit dem bereits vorhandenen sprechakttheoretischen Angebot könnte m. E. der modernen Gesellschaftstheorie

wichtige Impulse geben und zur Erklärung des Problems sozialer Ordnung beitragen.35

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Zeitschrift für Soziologie 18: 220-229.

35 Vgl. in diesem Kontext auch Wagner/Zipprian (1989).

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