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Ein Vergleich von Emile Dürkheim und Max Weber*Hans-Peter Müller

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Gesellschaftliche Moral und individuelle Lebensführung Ein Vergleich von Emile Dürkheim und Max Weber*

Hans-Peter Müller

Institut für Soziologie, Sandgasse 9, D-6900 Heidelberg 1

Z u s a m m e n f a s s u n g : Gemeinhin gilt Emile Dürkheim als „Moralist“ und Max Weber als „Relativist“ in Wertfra­

gen. Beide Soziologen gehen zwar von der modernen Sozialordnung als funktional differenzierter Gesellschaft aus;

aber Dürkheim glaubt, daß ein entsprechend diversifizierter Moralkodex zur sozialen Integration moderner Gesell­

schaften maßgeblich beitragen könnte; genau dies hält Weber angesichts des antagonistischen Wertekosmos für unmöglich. „Moralismus“ und „Relativismus“ bringen einen zentralen Gegensatz zwischen dem französischen und deutschen Klassiker auf den Begriff. Dieser Gegensatz wird jedoch relativiert, wenn man sich von dem Problem eines gemeinschaftlichen Wertsystems ab- und dem Problem individueller Lebensführung zuwendet. Dürkheim und Weber - so die These dieses Beitrags - suchen die gleiche Frage zu beantworten: Wie ist eine moralisch inspirierte Lebensführung in einer funktional differenzierten Gesellschaft noch möglich? Sie finden beide in der Idee des Berufs, der Bedeutung von Berufsgruppen und der Rolle der Berufsethik als gleichsam intermediärer Moral eine Antwort auf ihre Frage. Eine vergleichende Betrachtung von Dürkheims „moralischem Individualismus“ und seiner „Physik der Sitten und des Rechts“ in Analogie zu Kants „Metaphysik der Sitten und des Rechts“ auf der einen Seite, Webers Protestantismus-Studie und seine beiden Reden „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ auf der anderen Seite sollen den Nachweis für diese tieferliegende und daher häufig übersehene Gemeinsamkeit zwischen den beiden Denkern erbringen.

„Unsere erste Pflicht besteht heute darin, uns eine neue Moral zu bilden.“

Emile Dürkheim

„Je nach der letzten Stellungnahme ist für den Einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist. (...) D ie alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“

Max Weber

1. Sachliche Konvergenz - eine neoklassische Interpretation von Emile Dürkheim und Max Weber

Dürkheim und Weber gelten in der Soziologie als Antipoden1 schlechthin. Da steht der vermeintli­

che Positivist Dürkheim, der Soziologie als allge­

meine Gesetzeswissenschaft betreiben will, gegen Weber als Historist, der die Soziologie - wenn

* Überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich auf dem Symposium „Emile Dürkheim et Max Weber“ am Europarat in Straßburg vom 8 . - 9 . April 1991 gehalten habe. Für Anregungen und Kritik danke ich Renate Borrmann-Müller, Wolfgang Schluchter und Steffen Sigmund.

überhaupt - als Gesellschaftsgeschichte und mithin als historische Sozialwissenschaft fassen möchte.

Dürkheim bedient sich dazu einer funktionalisti- schen Systemtheorie, Weber favorisiert eine insti- tutionalistische Handlungstheorie. Dürkheim geht vom Begriff der Gesellschaft und von deren Struk­

tur aus, Weber dagegen vom Begriff des Akteurs und von dessen Handeln.

So unterschiedlich, wie ihre Konzeptionen von Soziologie, so diametral entgegengesetzt sind auch ihre Methoden. Dürkheim vertraut einem historizi- stischen Erklärungsprogramm, das über den Ver­

gleich von archaischer und fortgeschrittener Ge­

sellschaft („sociötö primitive“ versus „sociStö sup6- rieure“) den Realtyp der modernen Gesellschaft

1 Trotz dieses eindeutigen Tenors fällt auf, wie rar die Auseinandersetzungen mit Dürkheim und Weber sind, verglichen mit den „klassischen Paaren“ Marx und Weber, Marx und Dürkheim oder Dürkheim und Sim­

mel. Es überwiegt die lehrbuchartige Abhandlung der Klassiker wie bei Alexander (1982), Giddens (1971), Habermas (1981) und Münch (1982). Siehe gleichwohl die einschlägigen Versuche bei Bendix (1971), Giddens (1988), Javeau (1989), Parsons (1968), Schmid (1981) und Tiryakian (1965) sowie die Ergebnisse des erwähn­

ten französisch-deutschen Symposiums über „Emile Dürkheim et Max Weber“, die von Jacques Coenen- Hüther und Monique Hirschhorn ediert 1992 bei L ’Harmattan in Paris erscheinen werden.

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zu beschreiben versucht; Weber folgt einer kultur­

wissenschaftlichen Verstehenslehre, welche Sinn und Bedeutung der gesellschaftsgeschichtlichen Konfiguration der „okzidentalen Moderne“ in ih­

rer historischen Eigenart und institutioneilen Ein­

zigartigkeit idealtypisch zu charakterisieren unter­

nimmt. Die ansehnliche Liste von Dualismen, wel­

che die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin spalten, findet sich, auf einen Nenner gebracht, als antipodischer Gegensatz in den Werken von Dürk­

heim und Weber wieder:

• Holismus versus Individualismus

• Historizismus versus Historismus

• Systemtheorie gegen Handlungstheorie, bzw.

„Struktur“ contra „Handeln“

• Positivismus gegen Hermeneutik

• „Erklären“ versus „Verstehen“.

Dem Tenor dieser Interpretation, der Rede von den „zwei Soziologien“, hat nur Talcott Parsons (1968) mit seiner berühmten Konvergenzthese wi­

dersprochen. Statt die unversöhnliche Divergenz zwischen Dürkheim und Weber zu unterstreichen, betont er die tieferliegende sozialtheoretische Ge­

meinsamkeit ihrer Ansätze. Beide Soziologien, so der Kern von Parsons’ Konvergenzbehauptung in The Structure o f Social Action aus dem Jahre 1937, sind - wenn auch von verschiedenen Ausgangs­

punkten her kommend - auf dem Weg zu einer voluntaristischen Theorie des Handelns. Sowohl Dürkheim als auch Weber tragen wichtige Baustei­

ne zu dieser Theorie zusammen, weil sie beide, einem kultursoziologischen Ansatz verpflichtet, die Rolle von Werten und Normen für die Rege­

lung des sozialen Lebens akzentuieren. Aber über die allgemeine Bedeutung von Werten und Nor­

men hinaus, so Parsons, entdecken sie den verbor­

genen „Gral der Wertschöpfung“: die Entstehung, Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Werten und Idealen. Was Dürkheim in dem Begriff des Heiligen („le sacre“) und dem Mechanismus der

„effervescence creatrice“ faßt, versucht Weber mit dem Begriff des Charismas und der Strategie des Propheten „Es steht geschrieben, ich aber sage euch!“ auszudrücken - die kollektivistischen und individualistischen Spielarten des kreativen Pro­

zesses der Wertentstehung.

Dürkheim und Weber - ä la recherche d’une theo- rie voluntaristique de Paction - mit ihrem kulturso­

ziologischen Ansatz der kreativen Entstehung und der regulativen Funktionsweise von Werten und Normen, dieses geistige Erbe des deutschen und des französischen Klassikers gilt es, so Parsons, anzueignen und fortzuentwickeln. Wie wir wissen,

hat Talcott Parsons dieser Aufgabe sein Lebens­

werk verschrieben und bis zuletzt an der analyti­

schen Architektonik einer voluntaristischen Hand- lungs- und systemischen Gesellschaftstheorie gear­

beitet.

Das beeindruckende Werk, das er auf der Konver­

genzthese errichtet, hat freilich vielfältige Kritik auf sich gezogen. Die Gegenposition, Dürkheim und Weber als Antipoden hat Reinhard Bendix’

(1971) Interpretation mit seiner Formel der zwei soziologischen Traditionen kanonisiert und damit die „Communis opinio“ der Disziplin ein für alle­

mal festgelegt: Hier Emile Dürkheim mit einer kollektivistischen Gesellschaftstheorie und positi­

vistischer Erklärungsmethode, dort Max Weber mit individualistischer Gesellschaftstheorie und hermeneutischem Verstehen. Von nun an kann man der Einfachheit halber von den „zwei Soziolo­

gien“ (Dawe 1970, Vanberg 1975) sprechen - der Vergleich von Dürkheim und Weber kulminiert und erschöpft sich zugleich in der Konstatierung ihrer Gegensätzlichkeit; die Divergenzthese wird darüber hinaus exegetisch vertieft in der Debatte um die „Deparsonianisierung“ (Pope 1973, Pope et al. 1975) von Parsons’ Klassikerinterpretation, welche ebenfalls die Konvergenzthese zurück­

weist. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen hat es nicht an neuerlichen Versuchen gefehlt, am Leitfaden der soziologischen Klassik Grundlagen­

probleme der zeitgenössischen Theoriebildung wiederaufzunehmen - sei es als Neoparsonianis- mus wie in den Ansätzen von Jeffrey Alexander (1982) und Richard Münch (1982), sei es als grund­

erneuerte kritische Theorie wie bei Jürgen Haber­

mas (1981a+b).

Diese Interpretationskontroversen sind für die Kontextuierung eines sinn- und niveauvollen Durkheim-Weber-Vergleichs unerläßlich. Ohne sie an dieser Stelle jedoch weiter zu vertiefen (vgl.

H.-P. Müller 1983), möchte ich eine neue Deu­

tung2 vorschlagen, die man als sachliche Konver­

genzthese bezeichnen könnte. Parsons zu folgen, ohne dabei in die Fallstricke einer überdehnten Konvergenzbehauptung zu geraten, gelingt nur un­

ter Beachtung dreier methodischer Caveats. Er­

stens darf man über den Gemeinsamkeiten nicht die tiefgreifenden Unterschiede zwischen beiden übersehen; zweitens gilt es, die Art der Konver­

genz genau zu umreißen; drittens muß man Be­

2 Bei dieser Deutung kann es sich nur um eine Skizze handeln - die Argumentation detailliert auszuarbeiten würde eine Monographie erfordern.

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zugspunkt und Perspektive des Theorievergleichs exakt bestimmen, sollen die gewonnenen Aussa­

gen nicht vage und beliebig bleiben.

Ausgehend von diesen methodischen Caveats ist zunächst festzuhalten, daß die Argumente, die der Divergenzthese3 zugrundeliegen, nicht einfach zu leugnen sind. Selbst wenn die Rede von den zwei Soziologien überspitzt scheint, können die Ge­

meinsamkeiten der beiden Ansätze kaum allge­

mein sozialtheoretischer oder methodischer Natur sein. In diesem Sinne läßt sich Parsons’ Konver­

genzthese wohl nicht halten. Meiner Auffassung nach bestehen aber sachliche Gemeinsamkeiten;

ich möchte im folgenden also eine sachliche Kon­

vergenzthese vertreten, denn Dürkheim und We­

ber verfolgen ein ähnliches Problem: das Schicksal des modernen Menschen. Ihre Untersuchung der modernen Gesellschaft und Kultur ist auf Chancen und Risiken des modernen Individuums, seine Per­

sönlichkeit und die Gefahren ihrer Deformation gerichtet. Wenn man so will, formuliert diese Pro­

blemstellung den gemeinsamen moralischen Be­

zugspunkt der Recherchen von Dürkheim und We­

ber. Er resultiert aus der kultursoziologischen An­

lage ihrer Ansätze, der eine wissenschaftliche Be­

handlung moralischer Fragen eröffnet. Aber trotz des gemeinsamen Fokus erfolgt die Analyse dieser Problematik von einer unterschiedlichen werttheo­

retischen Position aus.

Emile Dürkheim gilt gemeinhin als „Moralist“, Max Weber als „Relativist“ in Wertfragen. Zwar gehen beide Soziologen von der modernen Sozial­

ordnung als funktional differenzierter Gesellschaft aus; aber Dürkheim glaubt, daß ein entsprechend diversifizierter Moralkodex zur sozialen Integra­

tion moderner Gesellschaften maßgeblich beitra­

gen könne; genau dies hält Weber angesichts des antagonistischen Wertekosmos für unmöglich.

Dieser zentrale Gegensatz von „Moralismus“ und

„Relativismus“ wird jedoch abgeschwächt, wenn man sich von dem Problem eines gemeinschaftli­

chen Wertsystems ab- und dem Problem individu­

eller Lebensführung zuwendet. Dürkheim und Weber - so meine These - suchen die gleiche Frage zu beantworten: Wie ist eine moralisch inspirierte Lebensführung in einer funktional differenzierten Gesellschaft noch möglich? Der Nachweis für die­

se tieferliegende und daher häufig übersehene ge­

meinsame Fragestellung der beiden Klassiker soll

3 Das macht Giddens’ (1988) jüngst vorgelegte, nüchtern abwägende Bilanz der bisherigen Diskussion nochmals deutlich.

durch eine vergleichende Betrachtung von Dürk­

heims „moralischem Individualismus“ und seiner

„Physik der Sitten und des Rechts“, entstanden in Analogie zu Kants „Metaphysik der Sitten und des Rechts“, auf der einen Seite und Webers Prote­

stantismus-Studie sowie seinen beiden Reden

„Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“

auf der anderen Seite geführt werden.

Dazu soll in einem ersten Schritt die Vorstellung von einer modernen Gesellschaft skizziert werden, wie sie Dürkheim in der Arbeitsteilung und Weber in Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt. An­

schließend werden die diametral entgegengesetz­

ten Konsequenzen analysiert, die Weber und Dürkheim aus ihrem Entwurf ziehen: Weber schil­

dert die funktional differenzierte soziale Forma­

tion als pluralistischen und antagonistischen Kos­

mos von Wertsphären und Lebensordnungen, die weder die gesellschaftliche Integration über ein gemeinsames Wertsystem noch die weltanschauli­

chen Orientierungen zu einer sinnvollen und auto­

nomen individuellen Lebensführung in Aussicht stellen. Dürkheim indes stellt der Weberschen These vom drohenden Sinn- und Freiheitsverlust die Behauptung der moralischen Dezentralisation des sozialen Lebens entgegen. Folglich muß eine Physik der Sitten und des Rechts den Versuch machen, die Ordnung eines funktional differen­

zierten Moralkodex zu rekonstruieren. Trotz die­

ser Unterschiede konvergieren Dürkheim und We­

ber in ihrer Auffassung des Berufs, seiner Bedeu­

tung und Rolle für eine moralisch inspirierte auto­

nome Lebensführung. Diese Konvergenz - das zeigt der letzte Schritt - resultiert aus der Zeitge­

nossenschaft der beiden Klassiker. Dürkheim und Weber sind späte Zöglinge der Moderne, die in der krisenhaften Fin-de-siecle-Erfahrung den Beruf als sinnstiftende Integrationsinstanz und als Nukleus einer intermediären Moral ausmachen.

2. Moderne Gesellschaft - funktionale Differenzierung und Wertepluralismus Das Prinzip der Arbeitsteilung und sozialen Diffe­

renzierung wurde in der Tradition von Adam Smith bis Herbert Spencer zum zentralen Struktur- und Entwicklungsmoment moderner Gesellschaf­

ten erhoben, dem die moderne Zivilisation ihren kollektiven Wohlstand und die Steigerung der indi­

viduellen Wohlfahrt verdankt. Obgleich Dürkheim expressis verbis die vage Fortschrittsmetaphorik dieser Tradition zurückweist, zweifelt er doch kei­

nen Augenblick die Vorzüge der Arbeitsteilung an. Die Produktivitäts- und Effizienzvorteile,

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gleichsam die technische Seite der Arbeitsteilung, interessieren ihn jedoch nicht. Was ihn beschäftigt, ist der moralische Wert der Arbeitsteilung oder, wie Weber sagen würde, ihr Kulturwert. Welche Konsequenzen hat Arbeitsteilung für die gesell­

schaftliche Integration einerseits, welche Rückwir­

kungen hat sie für die Individuen andererseits?

Das sind die beiden zentralen Fragen, die er neben seinen Überlegungen zur Entstehung von Arbeits­

teilung in seiner Dissertation aus dem Jahre 1893 zu beantworten sucht.

Der Begriff von Arbeitsteilung, den Dürkheim seinen Ausführungen zugrundelegt, ist weit und unscharf zugleich. Weit - denn Arbeitsteilung ist nicht nur ein Signum des modernen Soziallebens schlechthin, findet sich also in gesellschaftlichen Bereichen wie der Familie oder der Wissenschaft.

Unscharf - denn Dürkheim nimmt keine detaillier­

te Analyse der Formen der Arbeitsteilung vor, wie das Thema des Buches nahelegen würde. Arbeits­

teilung impliziert ganz allgemein die Differenzie­

rung der Tätigkeiten, Berufe und Funktionen.

Welche Effekte hat nun die Arbeitsteilung? Führt sie zu sozialer Zersplitterung, der nur ein starker Staat und eine autoritative Religion, gleichsam ein

„Super-Leviathan“ Einhalt gebieten können, wie Auguste Comte vorschlägt? Oder hat sie eine friedliche, harmonische Assoziation zur Folge, die politischer Intervention und weltanschaulicher Überwachung entbehren kann, wie Herbert Spen­

cer meint? Fördert oder behindert Arbeitsteilung die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit?

Führt die berufliche Spezialisierung zur Bereiche­

rung oder Verarmung personaler Individualität?

Vor diesem Problemhorizont versucht Dürkheim seine Antwort zu formulieren.

Zunächst steigert die Arbeitsteilung die Dynamik des gesellschaftlichen Verkehrs: die Kommunika­

tionen, die Tauschakte, die sozialen Beziehungen und den sozialen Koordinationsbedarf. In diesem Sinne erzeugt Arbeitsteilung wachsende soziale In­

terdependenz, wie Dürkheim zustimmend im An­

schluß an Spencer vermerkt. Doch zieht soziale Interdependenz gesellschaftliche Integration nach sich, wird also - in der Terminologie David Lock- woods (1971) - die Sozialintegration durch System­

integration geleistet? M. a. W.: Führt die Arbeits­

teilung zu Solidarität? Dürkheim beantwortet die­

se Frage durch die Kontrastierung von primitiver und höherer Gesellschaft. Da die archaische Ge­

sellschaft Vorbild und Modell einer moralisch inte­

grierten Gemeinschaft ist, bekommt seine Vorstel­

lung von moderner Gesellschaft von vornherein

einen archaischen Grundzug: Auch moderne Ge­

sellschaften müssen moralisch integriert werden und das setzt stets die Existenz eines gemeinsamen Wertesystems voraus. Primitive Gesellschaften sind klein, überschaubar und segmentär differenziert.

Das soziale Leben wird durch die Macht der magi­

schen und religiösen Tradition, das sog. Kollektiv- bewußtsein, verbindlich geregelt. Die Übermacht der Religion ist nicht überraschend, zumal „die Religion einem sehr zentralen Bereich des Kollek- tivbewußtseins entspricht. (...) Am Anfang er­

streckt sie sich auf alles; alles, was sozial ist, ist religiös: die beiden Wörter sind Synonyme“

(Dürkheim 1978: 143; dt. 1988: 224). Das religiöse Kollektivbewußtsein stiftet eine mechanische Soli­

darität oder eine Solidarität aus Ähnlichkeiten, die das Individuum direkt an die Gesellschaft bindet.

In höheren Gesellschaften, die groß und umfang­

reich, komplex und funktional differenziert sind, zerfällt diese gemeinschaftliche Lebenserfahrung.

Mit der wachsenden Arbeitsteilung kann das reli­

giös geprägte Kollektivbewußtsein nicht mithalten, es wird säkularisiert und „spezialisiert“ sich auf den allgemeinen Kult des Individuums, mithin also die Rechte und Pflichten, die alle Menschen ge­

meinsam haben. Das ist das, was Dürkheim später

„moralischen Individualismus“ nennen wird. Die Arbeitsteilung stiftet eine eigenständige Quelle des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die organische Solidarität ist eine Solidarität aus Unterschieden und bindet den einzelnen nicht direkt an die Ge­

sellschaft, sondern integriert ihn indirekt durch die Milieus und sozialen Bereiche, in denen er tätig ist.

Für Dürkheim steht daher der Zusammenhang von Arbeitsteilung, Solidarität und Moral fest. „Da­

durch, daß die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung“ (1978: 396; dt.

1988: 471), und er folgert: „Zu Unrecht stellt man also die Gesellschaft, die aus der Gemeinschaft­

lichkeit des Glaubens entsteht, der Gesellschaft gegenüber, die auf der Zusammenarbeit beruht, indem man nur der ersten einen moralischen Cha­

rakter zubilligt und in der zweiten nur eine wirt­

schaftliche Gruppierung sieht. In Wirklichkeit hat gerade die Zusammenarbeit ebenfalls ihre eigen­

ständige Moralität.“ (1978:208; dt. 1988: 285) Die Natur dieser „eigenständigen Moralität“ hat Dürkheim genausowenig anzugeben gewußt wie den exakten Zusammenhang zwischen Arbeitstei­

lung und organischer Solidarität. Die organische Solidarität ist eine Solidarität aus Unterschieden - aber wie und woraus entsteht aus den Unterschie­

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den die moralische Einheit? M. a. W.: Wie stiftet Differenz gesellschaftliche Identität? Am Ende schrumpft die organische Solidarität auf die Ver­

tragsmoral der Ökonomen bzw. die industrielle Kooperation bei Spencer zusammen, die Dürk­

heim aber zugleich für die gesellschaftliche und ökonomische Anomie verantwortlich macht. Was übrigbleibt, ist die soziale Interdependenz - also Sozialintegration durch Systemintegration. Da er aber die Integrationsbedingungen höherer Gesell­

schaften am Modell archaischer Gesellschaften ab­

liest, müssen auch fortgeschrittene Gesellschaften moralisch integriert werden. Wie - das bleibt ihm in der Arbeitsteilung verborgen. Das berühmte Zweite Vorwort über die Berufsgruppen und die Legons de Sociologie als Physik der Sitten und des Rechts bieten erste Ansatzpunkte zur Lösung der moralischen Integration höherer Gesellschaften und zur moralisch angeleiteten Lebensführung in­

dividualisierter Persönlichkeiten.

Bevor wir uns diesem Lösungsversuch zuwenden, wollen wir einen Blick auf Webers Vorstellung einer modernen Gesellschaft werfen. Auf Anhieb wird man Max Weber kaum dem Lager der Diffe­

renzierungstheorie zurechnen wollen. Das Kon­

zept der Differenzierung fehlt in den Grundbegrif­

fen von Wirtschaft und Gesellschaft, und zu den Vertretern einer allgemeinen Gesellschaftswissen­

schaft, die mit diesem Konzept operieren, wie Auguste Comte in Frankreich, Herbert Spencer in England und Ferdinand Tönnies in Deutschland, hielt er zeit seines Lebens Distanz. Und doch führt ihn sein Erkenntnisinteresse an den Sonderbedin­

gungen der okzidentalen Entwicklung zwangsläu­

fig zu einer Differenzierungskonzeption. Seine Ge­

sellschaftsgeschichte der okzidentalen Moderne ist im Kern als eine Theorie der institutionellen Diffe­

renzierung angelegt. Versucht man aus seinen ma­

terialen Arbeiten einen allgemeinen theoretischen Bezugsrahmen herauszulesen, so operiert Weber mit einer Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheo­

rie, welche die „Wirtschaft und die gesellschaftli­

chen Ordnungen und Mächte“ untersucht. Die komplexe Architektonik seiner institutionellen Differenzierungstheorie4 kann hier im einzelnen nicht dargestellt werden. Festgehalten sei, daß Weber in seinen Arbeiten stets zwischen Wirt­

schaft, Politik und Religion unterscheidet. Was ihn an diesen gesellschaftlichen Ordnungen interes­

4 Siehe dazu die einschlägigen Arbeiten von Wolfgang Schluchter (1979,1980,1988).

siert, ist nicht nur ihr institutioneller Aufbau, ihre Gestaltungsmacht und ihr Einfluß auf die individu­

elle Lebensführung; sondern ihn beschäftigt als Handlungstheoretiker das Zusammenspiel von Ideen und Interessen (vgl. Lepsius 1990) - hier also der wirtschaftlichen Erwerbsinteressen, der politischen Herrschaftsinteressen und der religiö­

sen Heilsinteressen - von Statusgruppen und ge­

sellschaftlichen Akteuren.

Der Bezugsrahmen, den Weber benutzt - mit der sozialtheoretischen Intention einer Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheorie, und der gesell­

schaftstheoretischen Ausrichtung auf die Wirt­

schaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte - wird unmittelbar an der Architektonik von Wirtschaft und Gesellschaft deutlich. Neben der allgemeinen Kategorienlehre ist Wirtschaft und Gesellschaft als Wirtschaftssoziologie, als Herr­

schaftssoziologie - erweitert um eine Soziologie der Stadt als räumlicher Sitz von Herrschaft und um eine Rechtssoziologie als Legitimation von Herrschaft - und als Religionssoziologie angelegt.

Ökonomie, Politik und Kultur - das sind in der Tat die gesellschaftlichen Kernbereiche, mit denen sich Weber in seinem Werk hauptsächlich ausein­

andersetzt. Er tut dies jedoch nicht in der Art und Weise der modernen soziologischen Systemtheorie von Parsons bis Luhmann. Die rein analytische Bestimmung gesellschaftlicher Teilsysteme, ihrer Codes (nützlich/schädlich, progressiv/konservativ, Glaube/Unglaube), ihrer Medien (Geld, Macht und Recht, Sinn) und ihrer Organisation hält We­

ber für intellektuelle Spielerei, allenfalls für eine grobe Heuristik zu historischen Untersuchungs­

zwecken. Was seine Wirtschafts-, Herrschafts-, Stadt-, Rechts- und Religionssoziologie ausmacht, ist ihr historischer und systematischer Charakter.

Historisch, weil Weber das weltgeschichtliche Ma­

terial idealtypisch ordnet und soziologisch auf den Begriff bringt; systematisch, weil er auf diese Wei­

se - nolens, volens - einen Beitrag zur Gesell­

schaftsgeschichte der okzidentalen Modernisie­

rung leistet. Paradox gewendet - da er den An­

spruch einer umfassenden Gesellschaftstheorie ä la Dürkheim ablehnt, zugleich aber seine universal­

geschichtliche Kompetenz soziologisch diszipli­

niert seinem lebenslangen Projekt, die okzidentale Sonderentwicklung zu verstehen, unterordnet - gerade deshalb entwickelt er gesellschaftstheore­

tisch fruchtbare Idealtypen. Sie erfreuen sich heute wieder wachsender Beliebtheit, wie das anhalten­

de Interesse deutscher Sozialhistoriker (vgl. Kocka 1986) an Webers Projekt und seiner Begrifflichkeit bezeugt.

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Die Attraktivität und Applikabilität von Webers Ansatz hat sehr viel mit den beiden Säulen zu tun, auf denen seine Behandlung des okzidentalen Ra­

tionalismus ruht: dem Kapitalismus, „der schick­

salvollsten Macht unseres modernen Lebens“ (We­

ber 1972b: 4), und der Religion. Beide, Kapitalis­

mus und Religion, sind die zentralen Mächte, wel­

che die Lebensführung der Menschen5 prägen;

letztere vor allem die traditionellen Gesellschaften der Vergangenheit, wobei „der moderne Mensch im ganzen selbst beim besten Willen nicht imstan­

de zu sein pflegt, sich die Bedeutung, welche reli­

giöse Bewußtseinsinhalte auf die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere gehabt haben, so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist“ (Weber 1972b: 205). Der Kapitalismus im Verein mit Wissenschaft und Technik, bürokrati­

scher Organisation und dem Berufsmenschentum drückt seinen Stempel vor allem den modernen Gesellschaften der Gegenwart auf und trägt maß­

geblich dazu bei, die Säkularisierung und Entzau­

berung der Welt voranzutreiben, indem das gesell­

schaftliche Leben in wachsendem Maße seiner technisch-instrumentellen Rationalität unterwor­

fen wird. Dieser Rationalisierungsprozeß hat eine Reihe von gravierenden Konsequenzen: Erstens, wird die Religion als zentrale Wertsphäre „zuneh­

mend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antira­

tionale überpersönliche Macht schlechthin.“ (We­

ber 1972b: 564) Zweitens, verliert die Religion im Alltagsleben der Menschen ihre fraglos höchste Priorität und an die Stelle des religiösen Heils als vornehmstem Ziel religiös geprägter Lebensfüh­

rung treten andersgeartete säkulare Ziele. Drit­

tens, schließlich, werden nicht nur Wirtschaft und Politik als Wertsphären zunehmend bedeutender, sondern auch andere Mächte machen der Religion auf der Ebene der Kultur als Sinnstifter heftig Konkurrenz. Wie seine religionssoziologischen Schriften zeigen, zieht die Rationalisierung der

5 D ie menschliche Lebensführung bezeichnet eine, wenn nicht die zentrale Frage in Webers Werk, wie die jüngste Weber-Sekundärliteratur zu Recht vermerkt;

siehe Hennis (1987), Müller (1986b), Müller/Weihrich (1990), Scaff (1989), Schluchter (1988) und Weiß (1989). Es ist jedoch das typische Schicksal zentraler Fragen in der Soziologie, daß sie stets marginalisiert werden: Zwar bilden sie den obersten Bezugspunkt und damit Anfangs- und Endpunkt soziologischer For­

schung; aber in der soziologischen Analyse treten sie zugunsten von Einzelproblemen und komplexen Sach­

zusammenhängen zurück.

Lebensordnungen und die Säkularisierung der Ideale den Rückgang religiös bestimmter Lebens­

führung nach sich und die religiöse Wertsphäre wird durch eine in sich differenzierte „Kultur“

ersetzt. In der Zwischenbetrachtung unterscheidet Weber (1972b: 536ff) in diesem Sinne ästhetische, erotische und intellektuelle Sphäre. Die Rede von Wertsphären (der Deutungs- und Sinnkomponen­

te) und Lebensordnungen (der Komponente der institutioneilen Gestaltung) bringt am konsequen­

testen die Vorstellung von der Eigenlogik und der Autonomie von gesellschaftlich ausdifferenzierten Bereichen zum Ausdruck, die für Weber letztlich den unentrinnbaren Antagonismus verschiedener Werte und letzter Stellungnahmen zu Fragen der Welt, der Gesellschaft und des einzelnen Lebens markiert. Wer sich der ökonomischen Sphäre („der Kapitalist“), der politischen Sphäre („der charismatische Führer“), der religiösen Sphäre („der Priester, Prophet, Zauberer“), der intellek­

tuellen Sphäre („der Wissenschaftler“) oder der ästhetischen Sphäre („der Künstler“) voll und ganz verschrieben hat, der bekommt die Eigengesetz­

lichkeit des Dämons, der die Fäden seines Lebens in den Händen hält, mit aller Macht zu spüren und wird jedenfalls bei konsequent methodischer Le­

bensführung fast zwangsläufig mit den Anforde­

rungen der anderen Lebensordnungen in Konflikt geraten. Das schließt freilich im Normalfall nicht aus, daß Individuen und Gesellschaften historisch gesehen immer wieder durchaus tragfähige Kom­

promisse und die wechselseitige Anpassung unter­

schiedlicher Wertsphären gelungen wären. Es heißt jedoch, daß konsequente Rationalisierung in einer bestimmten Richtung die Kluft zwischen ver­

schiedenen Wertsphären überhaupt erst geöffnet und damit dauerhaft Spannungen im Gesellschafts­

gefüge errichtet hat. Diese Gegensätze und laten­

ten Spannungen zwischen der „Eigengesetzlich­

keit“ unterschiedlicher Lebensordnungen haben zur Folge, daß sich Werte und Regeln einer Sphäre nicht mehr in eine andere ohne Verletzung von deren spezifischen Charakter übersetzen lassen.

Wo der erotische Maßstab der reinen Liebe ange­

legt wird, ist die rationale Kalkulation von Ge­

winnerwartung und Rentabilität einfach fehl am Platze. Wo der religiöse Glaube, also das „credo non quod sed quia absurdum“, gefordert wird, ist es mit „intellektueller Rechtschaffenheit“ vorbei und das „Opfer des Intellekts“ muß erbracht wer­

den. In Webers Augen sind diese Wertkonflikte die unausweichliche Folge der Entstehung von un­

terschiedlichen Wertmaßstäben, Beurteilungskri­

terien und „letzten Wertungen“ im Zuge der Aus­

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differenzierung von spezifischen Lebensbereichen, die nur um den Preis einer fadenscheinigen Har­

monisierung rückgängig gemacht und in einer ein­

heitlichen Wertordnung synchronisiert werden können. Der unüberbrückbare Werteantagonis­

mus ist gerade das spezifische Kennzeichen der Moderne, so daß es gar keinen übergreifenden Maßstab für die gegensätzlichen ethischen Werte geben kann. Es existiert also nicht so etwas wie eine Art gemeinsamer „Überwährung“ , die es er­

laubt, die Werte der einen Sphäre in die der ande­

ren zu konvertieren.

Aus, Webers Analyse lassen sich drei weitreichen­

de Schlußfolgerungen ziehen. Was zunächst seine allgemeine Einschätzung der okzidentalen Moder­

ne anbetrifft, so gibt er eine denkbar pessimisti­

sche Gesellschafts-, Kultur- und Zeitdiagnose. Die kapitalistische Wirtschaft und der bürokratische Anstaltsstaat weben an einer gigantischen Verwal­

tungsmaschinerie, die ein neues „stahlhartes Ge­

häuse der Hörigkeit“ errichtet, welches die indivi­

duelle Freiheit ernsthaft bedroht. Der Säkularisie- rungs- und Entzauberungsprozeß entwertet das kollektiv verbindliche religiöse Weltbild des Chri­

stentums als Prägeinstanz individueller Lebensfüh­

rung und setzt an seine Stelle eine fragmentierte Kultur, die Ausdruck der modernen Erfahrung sozialer Zerrissenheit ist. Die Fortschritte in Wis­

senschaft und Kunst vermehren zwar unser Wissen von Natur, Gesellschaft und Mensch, ohne jedoch das „mystische Haben“ des metaphysischen Erklä­

rungsversprechens zu teilen, das allen Weltreligio­

nen und noch allen großen philosophischen Lehren eignete: daß die Welt ein sinnhaft geordneter Kos­

mos sei, gleichviel wie und wodurch; und daß die Spannungen und Konflikte in der Welt, sei es im Diesseits, sei es im Jenseits, unter bestimmten Voraussetzungen einer „Versöhnung“ zugeführt werden können. Diese metaphysische Heils- und Versöhnungsversprechen führt die moderne Wis­

senschaft ein für allemal ad absurdum; und nicht nur das - im Gegenteil: Sie erweist mit unüberbiet­

barer Klarheit und Nüchternheit die endemische Sinnlosigkeit der Welt.

Webers Kultur- und Zeitdiagnose, die sich in der These vom drohenden Freiheitsverlust und der These vom virulenten Sinnverlust (vgl. Habermas 1981) resümieren läßt, hat zwei weitere Schlußfol­

gerungen, die Dürkheims zentrale Interessen be­

rühren: die Frage nach der gesellschaftlichen Inte­

gration durch eine gemeinsame Moral und die Frage nach sinnhafter, moralisch inspirierter indi­

vidueller Lebensführung bzw. moralischer Auto­

nomie. Der Pluralismus, ja Antagonismus letzter Werte - das hat die Analyse der Zwischenbetrach­

tung gezeigt - verhindert eine „ethische Überwäh­

rung“ zur harmonisierenden Koordination der Ei­

genlogiken der verschiedenen Wertsphären; ge­

sellschaftliche Integration durch gemeinsame Mo­

ral ist eine Schimäre. Der moderne Individualis­

mus, den Weber wie Dürkheim als kollektive Wertorientierung ansehen, konzediert nur das, was ohnehin der Fall ist: daß jeder nach seiner eigenen Fagon selig werden muß; eine Lösung, die ja schon der religiöse Individualismus des asketi­

schen Protestantismus als „moralische Pflicht“ vor­

schreibt, nämlich daß jeder seinen Weg zu Gott zu finden habe. Schließlich ist Weber - und das ist die letzte Schlußfolgerung - äußerst skeptisch, ob und inwieweit überhaupt moralisch inspirierte sinnvol­

le, individuelle Lebensführung noch möglich ist.

Nachdem das „Pathos der christlichen Ethik“ (We­

ber 1973: 605) an ihr Ende gekommen ist, bleibt nur die Perfektibilität von Mensch und Gesell­

schaft. Ein Blick zurück auf die Kulturentwicklung scheint ihm die Vergeblichkeit der Perfektibili- tätsidee und der ihr innewohnenden Fortschritts­

metaphysik nahezulegen: „Alle ,Kultur* erschien, so angesehen, als ein Heraustreten des Menschen aus dem organisch vorgezeichneten Kreislauf des natürlichen Lebens, und eben deshalb dazu ver­

dammt, mit jedem Schritt weiter eine nur immer vernichtendere Sinnlosigkeit, der Dienst an den Kulturgütern aber, je mehr er zu einer heiligen Aufgabe, einem ,Beruf gemacht wurde, ein um so sinnloseres Hasten im Dienst wertloser und über­

dies in sich überall widerspruchsvoller und gegen­

einander antagonistischer Ziele zu werden.“ (We­

ber 1972b:570)

Das ist - im großen und ganzen - Webers Bot­

schaft, denn auch die Idee des Berufsmenschen­

tum, die er in der Protestantischen Ethik genetisch entwickelt, erfährt am Ende eine ambivalente, ja abwertende Einschätzung, wie die Rede von den ,„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen oh­

ne Herz*“ (Weber 1972b: 204) beweist. Der Tenor dieser Botschaft macht Dürkheims Fragen aus der Arbeitsteilung unbeantwortbar, wenn nicht regel­

recht sinnlos. Wir stünden an dieser Stelle vor derselben Sackgasse, wie die Vertreter der Diver­

genztheorie, die nur die Gegensätzlichkeit der bei­

den Denker konstatieren können. Das jedoch, so meine These, ist nicht Webers letztes Wort. In seinen späten Reden Wissenschaft als Beruf und Politik ab Beruf unterbreitet er eine sozialphiloso­

phisch eingefärbte, weitreichendere und weniger pessimistische Deutung, die den Zusammenhang

(8)

56 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 21, Heft 1, Februar 1992, S. 49—60

zwischen Beruf, professioneller Ethik und Persön­

lichkeit beleuchtet. Darauf wird nach der Betrach­

tung von Dürkheims Physik der Sitten zurückzu­

kommen sein.

3. „Kampf der Götter“ versus „Physik der Sitten“

Die Konvergenzthese betont den gemeinsamen sachlichen Bezugspunkt der Berufsethik als inter­

mediärer Moral. Doch es ist bemerkenswert, wie weit Webers und Dürkheims Folgerungen aus der Entwicklung der okzidentalen Moderne auseinan­

derklaffen. Gleich Weber unterstreicht Dürkheim die Rolle der sozialen Differenzierung und der Entstehung funktional spezialisierter Gesell­

schaftsbereiche; ebenso konstatiert er am Bedeu­

tungsrückgang des Kollektivbewußtseins den schwindenden Einfluß der Religion auf das soziale Leben; und schließlich stellt auch er die Pluralisie- rung und Diversifizierung der Werte und morali­

schen Regeln in modernen Gesellschaften fest.

In zweierlei Hinsicht zieht er jedoch im Vergleich zu Weber unterschiedliche Konsequenzen: auf der kulturellen Wertebene im Verhältnis von Säkulari­

sierung und Sakralisierung; auf der gesellschaftli­

chen Ebene im Verhältnis von sozialer Differen­

zierung und moralischer Koordination. Zweifellos verlieren gesellschaftliche Werte und Ideale im Zuge des Säkularisierungsprozesses ihr religiöses Gewand; das impliziert jedoch nicht mit Naturnot­

wendigkeit den Verlust jeglicher kollektiv verbind­

licher Ideale, nur weil sie nicht mehr religiös be­

gründet werden, wie Weber anzunehmen scheint.

Vielmehr haben auch moderne Gesellschaften

„heilige“ Ideale, wenn auch säkularer Natur, wie etwa die kultische Verehrung der Französischen Revolution6 als Anbruch des fortschrittlichen de­

mokratischen Zeitalters demonstriert. Was archai­

sche und moderne Gesellschaften eint, gleichsam ihre Identität als Gesellschaften ausmacht, ist die Fähigkeit zur „Idealisierung“, d.h. zur Auszeich­

nung gewisser Vorstellungen als „heilige Werte“.

Diese Einsicht fällt Dürkheim um so leichter, als er

„Gesellschaft“ stets als moralische Welt (Müller 1986a) denkt. Ist die archaische Gesellschaft eine

6 Vgl. die zahlreichen Parallelen zwischen archaischer Religion und moderner säkularer Zivilreligion in Dürk­

heims (1984) „Elementaren Formen“, auf die jüngst Tiryakian (1988) aufmerksam gemacht hat. Siehe auch die im Geiste des späten Dürkheim verfaßten Arbeiten in Alexander (1988).

einfache Einheit, so genügt ein homogenes Kollek- tivbewußtsein, um diese Einheit zu repräsentieren.

Ist die moderne Gesellschaft eine komplexe Ein­

heit, so bedarf es eines diversifizierten Moralko­

dex, um diese Einheit in angemessen differenzier­

ter Weise zu repräsentieren. Wenn „der funktiona­

len Differenzierung ... eine Art moralischer Poly­

morphismus“ entspricht, dann muß die „Dezentra­

lisierung des moralischen Lebens“ (Dürkheim 1991: 17f) detailliert untersucht werden. Das ist die Absicht und Aufgabe von Dürkheims berühm­

ter Vorlesung zur Physik der Sitten und des Rechts.

Er unterscheidet zwei prinzipielle Klassen von Re­

geln - die Regeln der universellen Moral und die Regeln partikularer Moralsysteme. Die Regeln der universellen Moral, so Dürkheim, lassen sich wie­

derum in zwei Kategorien aufspalten: die Regeln und Pflichten, die der Mensch gegenüber sich selbst hat, und die Regeln und Pflichten gegenüber der Menschheit. Beide Kategorien universeller Moralregeln sind zwei Polen gleich, zwischen de­

nen die partikularen Moralregeln angesiedelt sind:

die Pflichten, die der Mensch gegenüber sich selbst hat, sind die Grundlage jeglicher Moralität; die Pflichten, die er gegenüber der Menschheit im allgemeinen hat, sind die Krönung jeglichen Mo­

ralgesetzes. Folglich befinden sich die Regeln der partikularen Moral zwischen dem individuellen Code - der Mensch - und dem sozialen Code - die Menschheit Dürkheim unterscheidet drei Arten partikularer Moralregeln: die häusliche Moral (morale domestique) oder die familiale Moral; die berufliche Moral (morale professionelle) und die staatsbürgerliche Moral (morale civique).

Dieses komplexe Netzwerk von Moralregeln ist selbst ein Produkt der modernen Entwicklung.

Der archaische Mensch wird direkt in das Stam­

meskollektiv integriert; der moderne Mensch hin­

gegen gehört verschiedenen Gruppen an, denn er ist Mitglied einer Familie, der Schule, einer Be- rufsgruppe, einer Gesellschaft und der gesamten Menschheit. Diese verschiedenen sozialen Milieus besitzen Regeln unterschiedlicher Reichweite und Allgemeinheit und sind auf verschiedenen Ord­

nungsniveaus angesiedelt. Da eine Regel um so allgemeiner ist, je unpersönlicher sie ist, bilden Familie, Profession, Staat und Menschheit nach Dürkheims Auffassung eine Hierarchie. Unter den partikularen Moralregeln spielt die berufliche Mo­

ral die wichtigste Rolle. Warum bzw. warum nicht Familie oder Staat? Zweifellos ist und bleibt die Familie eine wichtige Gruppe für die primäre So­

zialisation des Kindes, den Anschluß an die soziale Gruppe und ganz allgemein die Welt privater Inti­

(9)

mität. Wie Dürkheim (1921) in seinem Kontrak- tiongsgesetz nach weist, hat sie jedoch einen erheb­

lichen Funktionsverlust hinnehmen müssen. Unbe­

stritten ist auch, daß man als Mitglied eines politi­

schen Gemeinwesens staatsbürgerliche Rechte und Pflichten hat und mithin der Staat die Welt öffent­

lichen Engagements repräsentiert. Dennoch ist das berufliche Milieu für die gesellschaftliche Integra­

tion u n d für eine moralisch inspirierte, individuelle Lebensführung von kardinaler Wichtigkeit. Vor dem Hintergrund der Abschaffung der „corps in- termediaires“ während der Französischen Revolu­

tion mit der Folge, daß ein zentralisierter Staat einer Masse unorganisierter Individuen gegen­

übersteht, schlägt Dürkheim die Etablierung von Berufsgruppen als intermediäre Instanzen zwi­

schen Familie und Staat vor, um die Anomie in der Ökonomie durch Regelung der institutionellen Be­

ziehungen zu beseitigen. Sie könnten zur gesell­

schaftlichen Integration beitragen, weil die soziale Interdependenz der Funktionen (Systemintegra­

tion) durch die moralische Kooperation der sozia­

len Gruppen (Sozialintegration) gestützt würde.

Dürkheim lüftet damit das Geheimnis um die orga­

nische Solidarität oder die Solidarität aus Unter­

schieden. Berufsgruppen weisen nach innen me­

chanische Solidarität auf, denn sie sollen ein kohä- sives moralisches Milieu bilden. Nach au ßen hinge­

gen herrscht „organische Solidarität“, denn es gilt, die Unterschiede zwischen den Berufsgruppen durch ein System industrieller Beziehungen zu re­

geln. Das meint Identität durch Differenz.

Nach Dürkheims Auffassung prägt das berufliche Milieu in besonderem Maße die individuelle Le­

bensführung. Das gilt zum einen qu a n tita tiv, denn trotz kontinuierlicher Arbeitszeitverkürzung inve­

stiert der moderne Berufsmensch einen Großteil von Zeit, Kraft und Energie in seine Arbeit. Das gilt zum anderen qu a lita tiv, weil die funktional spezialisierte Tätigkeit die besondere Individuali­

tät eines Menschen fördert oder behindert und durch die Ausübung eines Berufs auf selbstver­

ständliche Weise die Zugehörigkeit zu einem ar­

beitsteiligen Gemeinwesen sicherstellt. So hatte Dürkheim schon in der A rb e its te ilu n g den neuen

k a teg o risch en I m p e ra tiv des moralischen Bewußt­

seins beschrieben: „Mets-toi en 6tat de remplir utilement une fonction determinee“ (Dürkheim 1978: 6; dt. 1988: 87, im Original kursiv). In seinen Augen ist der Beruf nicht nur ein Medium der Sinnstiftung, sondern ein struktureller Mechanis­

mus zur Schaffung individueller Freiheit. Da der einzelne die Erwartungen mehrerer Gruppen er­

füllen muß, erwachsen aus deren Koordination

Handlungs-, Dispositions- und Freiheitsspielräume im Ausbalancieren von Familie und Beruf, Beruf und politischem Engagement.

Der Beruf, die Berufsethik und die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe eröffnen dem modernen Menschen deshalb die Chance, jenseits traditiona- ler Bande von Familie, Verwandtschaft und Stand seinen „Platz“ in der Gesellschaft zu finden, durch spezialisierte Berufsarbeit seine „Persönlichkeit“

zu bilden und einen eigenständigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten sowie durch Austarieren verschiedener Rollenverpflich­

tungen sich individuelle Freiräume zu erarbeiten;

kurz - der Beruf wird zum zentralen Medium individueller Lebensführung und zum wirksamen Bollwerk gegen Webers befürchteten Sinn- und Freiheitsverlust angesichts von polytheistischen Werteantagonismen und bürokratisierten Großor­

ganisationen.

Dürkheim stellt freilich nur recht allgemeine Über­

legungen zur professionellen Ethik an, die auch nicht weiter vertieft werden, da er die intendierte detaillierte Studie über das Berufsverbandswesen7 niemals durchgeführt hat. Weder prüft er, ob wirk­

lich jede, auch noch so routinisierte Berufstätigkeit zur Persönlichkeitsbildung und mithin zu sinnhaf- ter Lebensführung beiträgt; noch analysiert er im einzelnen, wie die soziale Organisation der Berufe mit den geforderten persönlichen Fähigkeiten der Berufsinhaber korrespondiert.

Genau dies versucht Weber in seinen späten Schriften, den beiden Reden „W issen sch aft als B e ­ r u f (1917) und P o litik als B e r u f {1919). Zweifellos haben diese Reden einen doppelten Status (vgl.

Schluchter 1991): sie sind so z ia lp h ilo so p h is c h aus­

gerichtet, denn Weber geht es um eine Standortbe­

stimmung der „geistigen und politischen Situation der Zeit“ zwischen dem militärischen Zusammen­

bruch des Deutschen Reiches und der November­

revolution. Diese sozialphilosophisch angeleitete Gesellschafts-, Kultur- und Zeitdiagnose kann in­

des nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich zugleich um eine genuin s o z io lo g isc h e Analyse von Wissenschaft und Politik als Beruf handelt. Sie liegt ganz auf der Linie der Z w isch en b etra ch tu n g

und folgt der dort entwickelten Logik der Wert­

sphären und Lebensordnungen. Wissenschaft und Politik sind Sphären eigenen Rechts, so daß ihre institutioneile Ausgestaltung einerseits, ihre innere

7 Siehe Dürkheims (1973: 466) diesbezügliche Ankündi­

gung am Ende seiner Selbstmordstudie.

(10)

58 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 21, Heft 1, Februar 1992, S. 4 9 -6 0

Eigenart andererseits betrachtet werden muß. Erst auf dieser Grundlage kann man fragen, welche Eigenschaften Wissenschaftler und Politiker mit­

bringen müssen, um diese Berufe sinnvoll auszu­

füllen und welche Bedeutung solchermaßen ausge­

lesenen „Persönlichkeiten“ innerhalb der „sittli­

chen Gesamtökonomie der Lebensführung“ (We­

ber 1971: 635) zukommt.

In Wissenschaft als Beruf untersucht Weber daher zunächst die äußere Bedeutung des Gelehrtenbe­

rufs durch den Vergleich der Karriereorganisation in Deutschland und in den Vereinigten Staaten;

sodann analysiert er die innere Bedeutung des Gelehrtenberufs, fragt nach den Vorbedingungen wissenschaftlicher Arbeit und widmet sich ausführ­

lich dem Sinnproblem in der Wissenschaft, wie es sich aus der inneren Stellung des Wissenschaftlers zu seinem Beruf im besonderen, dem Wert der Wissenschaft für das Gesamtleben der Menschheit im allgemeinen ergibt. Ganz ähnlich verfährt We­

ber in Politik als Beruf Er skizziert die Ausdiffe­

renzierung einer eigenständigen Sphäre der Politik mit dem Staat als Hort der legitimen physischen Gewaltsamkeit, den verschiedenen Herrschaftsfor­

men und ihren Legitimitätsgründen sowie der poli­

tischen Führungsauslese in einem Zeitalter, in dem die Menschen nicht für, sondern von der Politik leben müssen. Welcher Eigenschaften bedarf ein Politiker, wenn er nicht zum karriere- und erfolgs­

orientierten Gesinnungsopportunisten einerseits, zum reinen Machtpolitiker andererseits degenerie­

ren soll? Nur wer seine Leidenschaft diszipliniert dem Dienst an einer „Sache“ unterstellt und seine politische Gestaltungsmacht mit Verantwortlich­

keit und Augenmaß zugleich ausübt - nur der, so Weber, hat den Beruf zur Politik.

Liest man die beiden Reden zusammen, wird der Zusammenhang zwischen Beruf, Persönlichkeit und Lebensführung deutlich. Webers Grundge­

danke kulminiert in der Vorstellung, daß „Beruf“

heute im Gegensatz zum modischen Persönlich­

keitskult „Selbstbegrenzung“ (Weber 1973: 494) verlangt. Wissenschaft als Beruf heißt daher entsa­

gungsvolles, nicht versöhntes Leben, impliziert

„Dienst an der Sache“ und „Beschränkung auf Facharbeit“, bedeutet als gerade nicht „die fausti­

sche Allseitigkeit des Menschentums“; „dies aske­

tische Grundmotiv des bürgerlichen Lebensstils - wenn er eben Stil und nicht Stillosigkeit sein will“, so Weber (1972b: 203), ist konstitutiv für den modernen Berufsmenschen, sei er Wissenschaftler oder Politiker, und unterscheidet ihn von der dege­

nerierten Spielart, ,dem Fachmenschen ohne

Geist, dem Genußmenschen ohne Herz‘. Wo dies asketische Grundmotiv, das schon an der Wiege bürgerlicher Lebensführung gestanden hat, sich entfalten kann, wo Beruf in diesem Sinne „Beru­

fung“ ist, da kann sich eine „Persönlichkeit“ durch

„Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimm­

ten letzten ,Werten4 und Lebens-,Bedeutungen4“

(Weber 1973:132) bilden.

Diese letzten Werte verbindlich zu setzen, ist gera­

de nicht Aufgabe der modernen Wissenschaft, son­

dern die freie Wahl eines jeden Menschen - eine schicksalhafte Entscheidung, in der „jeder den Dä­

mon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“ (Weber 1973: 613)

4. Schlußbemerkung

Im Gegensatz zu der vorherrschenden Divergenz­

these, aber auch zur minoritären Konvergenzthe­

se, wurde dieser Vergleich zwischen Dürkheim und Weber von einem gemeinsamen sachlichen Bezugspunkt aus entwickelt: dem Schicksal des modernen Menschen. Dürkheim und Weber stim­

men in wichtigen Punkten ihrer Gesellschafts-, Kultur- und Zeitdiagnose überein: die moderne Gesellschaft besteht aus funktional differenzierten Bereichen, die Säkularisierung hat die Religion aus ihrer hegemonialen Sinn- und Deutungsstel­

lung verdrängt zugunsten eines unentschiedenen Wertepluralismus, die Gegenwart charakterisiert ein „Unbehagen in der Kultur“. Wie immer in krisenhaften Übergangs- und Endzeiten, einem Fin-de-siöcle, sprießen „Irrationalismen“ aller Art hervor, sei es als neue kollektive Ideologien wie die Moden des Sozialismus, sei es als Anleitung zur Persönlichkeitswerdung wie der modische Nietz­

scheanismus. Dürkheim und Weber suchen eine

„Lösung“ der Kulturkrise weder in einem neuen, kollektiv verbindlichen und umfassenden Wertsy­

stem, noch gehen sie einfach zur Tagesordnung fachbetriebener Wissenschaft über, die sich sol­

cher „Sinnprobleme“ gar nicht mehr annimmt.

Vielmehr knüpfen sie am asketischen Grundmotiv bürgerlicher Lebensführung an und erblicken in der professionellen Ethik ein gesellschaftsintegra- tives und sinnstiftendes Medium des modernen Lebensstils. Sie finden beide in der Idee des Be­

rufs, der Bedeutung von Berufsgruppen und der Rolle der Berufsethik als gleichsam intermediärer Moral eine Antwort auf ihre Frage, wie eine mora­

lisch inspirierte Lebensführung heute noch mög­

lich ist. Trotz der konstatierten theoretischen und methodologischen Unterschiede rechtfertigt dieser Hort von Gemeinsamkeiten zwischen dem franzö­

(11)

sischen und dem deutschen Klassiker die zentrale These einer sachlichen Konvergenz.

Abschließend kann man sich natürlich fragen, ob und inwieweit die Botschaft von Dürkheim und Weber uns heute - in unserem krisenhaften Fin- de-siecle-Zeit alter - noch etwas zu sagen hat. Eine erste Antwort wird sicherlich skeptisch stimmen.

Die tiefgreifende Kritik an einer normativ aufgela­

denen Konzeption des Berufs8 und die vielbe­

schworene „Krise der Arbeitsgesellschaft“ schei­

nen dem Beruf als sinnstiftendem Medium indivi­

dueller Lebensführung weitgehend den Boden ent­

zogen zu haben. Hinzu kommt, daß die beherr­

schende Figur der postmodernen achtziger Jahre, der , Yuppie*9, Webers ärgste Befürchtungen der Heranbildung von „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“ zu bestätigen scheint. Die Infragestellung von Berufsidee und arbeitsgesellschaftlicher Verfassung wie die yup­

piehafte Berufsausübung legen es offensichtlich nahe, den Beruf als Basis individueller Lebensfüh­

rung zu verabschieden. Eine zweite Antwort indes, die den Horizont gesellschaftlichen Wandels der letzten Jahrzehnte mit einbezieht, vermag das ver­

meintlich eindeutige Bild gleich wieder zu relati­

vieren. Denn nach den Puritanern, die Berufsmen­

schen sein wollten, und der männlichen Erwerbs­

bevölkerung, die es sein mußte, hat die Aufbruchs­

und Emanzipationsbewegung der Frauen dazu ge­

führt, daß in einem nie dagewesenen Ausmaß die Erwachsenenbevölkerung am Arbeitsleben partizi­

piert. Wie die Puritaner, so wollen die Frauen Berufsmenschen sein, um sich „selbst zu verwirkli­

chen“. Überraschend erhält damit eine vielfach totgeglaubte Idee mächtigen Auftrieb, so daß es nicht übertrieben zu sein scheint, von der „kultu­

rellen Hegemonie des beruflichen Arbeitsethos“

(Behrens 1984) zu sprechen. Wer in der Folge die sozialen und kulturellen Verwerfungen auf der Ebene der Lebensformen studieren will, die meist als „Individualisierung und Pluralisierung der Le­

8 D ie normative Konzeption des Berufs bringt muster­

gültig Schelsky (1979: 254 -2 6 7 ) auf den Begriff; kri­

tisch dazu Beck/Brater/Daheim (1 9 8 0 :1 4 -2 2 ).

9 Eine schlüssige soziologische Bestimmung der Figur des „Yuppie“ steht noch aus, so daß man auf die einschlägigen Romane verwiesen ist. Siehe Wolfe (1990) für den amerikanischen und Timm (1991) für den deutschen Kontext.

10 D as scheint auch die überraschende Renaissance des Begriffs „Lebensführung“ anzuzeigen. Siehe Bellah et al. (1987), Müller (1992), Müller/Weihrich (1990), Schluchter (1988), Vetter (1991) und Voss (1991).

bensstile“ (Beck 1986) beschrieben werden, wird daher mit Gewinn an dem von Dürkheim und Weber diskutierten Konnex von gesellschaftlicher Moral und individueller Lebensführung10 anknüp­

fen, um die Moralökologie einer spätmodernen Gesellschaft (Müller 1991) in ihren Konturen be­

stimmen zu können.

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So befaßten sich zu Beginn der 1870er Jahre zwei Erhebungen - eine vom „Mecklenburgischen patriotischen Ver- eine" 2 0 für seinen Tätigkeitsbereich und eine vom „Congress